unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art03d
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2023
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"Gefühlt ist das alles noch nicht vorbei, sondern wir stecken noch mittendrin."
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2023
Kim Kemner
Norbert Waldhelm
Nadine Schildt
Die Kinder- und Jugendhilfe ist ein stark von der COVID-19-Pandemie belastetes Arbeitsfeld. Zwei Projektberichte der Caritas und aktuelle Forschungsergebnisse geben Einblicke in die Unterstützungsbedarfe von jungen Menschen, Eltern und Fachkräften, die sich aus der pandemischen Situation der letzten zwei Jahre ergeben haben. Davon ausgehend, werden Handlungsempfehlungen für die Kinder- und Jugendhilfe formuliert.
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13 unsere jugend, 75. Jg., S. 13 - 20 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art03d © Ernst Reinhardt Verlag von Kim Kemner Jg. 1990; B. A. Erziehungswissenschaft; akt. im Master Sozialwissenschaft, IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Gesundheitwesen und Eingliederungshilfe „Gefühlt ist das alles noch nicht vorbei, sondern wir stecken noch mittendrin.“ Aufholen in der Corona-Pandemie für Kinder und Jugendliche in caritativen Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe Die Kinder- und Jugendhilfe ist ein stark von der COVID-19-Pandemie belastetes Arbeitsfeld. Zwei Projektberichte der Caritas und aktuelle Forschungsergebnisse geben Einblicke in die Unterstützungsbedarfe von jungen Menschen, Eltern und Fachkräften, die sich aus der pandemischen Situation der letzten zwei Jahre ergeben haben. Davon ausgehend, werden Handlungsempfehlungen für die Kinder- und Jugendhilfe formuliert. Seit Anfang 2020 hat die COVID-19-Pandemie unsere Gesellschaft deutlich verändert. Besonders junge Menschen und Familien waren etwa von den plötzlichen Schließungen von Kindertagesstätten und Schulen betroffen. Daher befassten sich mehrere Studien mit den psychischen und physischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf junge Menschen und Familien. So untersuchte beispielsweise die bundesweite COPSY (Corona und Psyche)-Studie die psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen. Knapp 1.000 junge Menschen und 1.500 Eltern nah- Nadine Schildt Jg. 1984; B. A. Sozialpädagogin/ M. A. Sozialmanagerin, IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe. Fachbereichsleitung Hilfen zur Erziehung & öffentliche Verwaltung Norbert Waldhelm Jg. 1962; Dipl.-Sozialarbeiter/ Sozialpädagoge, Referent für Migration und Jugendhilfe beim Caritasverband für das Bistum Dresden-Meißen e. V. (DiCV ) 14 uj 1 | 2023 „Gefühlt stecken wir noch mittendrin“ men zu drei Messzeitpunkten an der Befragung teil. Die Kinder und Jugendlichen gaben darin an, dass ihre Lebensqualität stark gesunken sei (Ravens-Sieberer et al. 2020). Wenn wir nun auf die Kinder und Jugendlichen in den Hilfen zur Erziehung schauen, liegen zu dieser Zielgruppe kaum gesonderte Evaluationsergebnisse aus den oben genannten Studien vor. Wurde die Kinder- und Jugendhilfe vergessen? Wie geht es eigentlich den Kindern und Jugendlichen in den Hilfen zur Erziehung nach über zwei Jahren Pandemie? Was benötigen die jungen Menschen und ihre Familien nach dieser langen Zeit an Unterstützung? Gerade die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien, die Angebote und Hilfen in Anspruch nehmen, sind eine besonders zu berücksichtigende Gruppe bei Fragen nach den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Aber auch die Fach- und Führungskräfte in diesem Bereich wurden durch die Pandemie vor große Herausforderungen gestellt: hohe Krankheitsausfälle, immer neue Regelungen zur Eindämmung der Pandemie und nicht zuletzt die Isolation bei Ausbruch des Virus. Umso erfreulicher war es, als im November 2021 das Bundesprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ vom Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ausgerufen wurde (BMFSFJ 2022). Das Ziel des BMFSFJ ist es, jungen Menschen ein unbeschwertes Aufwachsen zu ermöglichen und sie bei Lernrückständen zu unterstützen. Dafür stellt die Bundesregierung zwei Milliarden Euro zur Verfügung. Die Zuwendungen für Projekte können von Trägern der Kinder- und Jugendhilfe sowie von Schulen beim jeweiligen Bundesland beantragt werden. Mithilfe des Bundesprogramms sowie der sächsischen Landesmittel „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ konnte der Caritasverband für das Bistum Dresden-Meißen drei Teilprojekte initiieren, um den Auswirkungen der Coronapandemie entgegenzuwirken. Die Teilprojekte, welche vom Referat Jugendhilfe des DiCV entwickelt wurden, sollen direkte Unterstützung für Kinder und Jugendliche in der Caritas Jugendhilfe leisten. Ein weiteres Element des Projektes ist die Evaluation über aktuelle Unterstützungsbedarfe bei den Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern. Auch die Fach- und Führungskräfte des Caritasverbandes finden in der Evaluation Berücksichtigung. Die Themenschwerpunkte sind zum einen die Evaluation bestehender Unterstützungsmöglichkeiten im Kontext der Hilfen sowie die Informationen zu Interessenslagen der AdressatInnen. Hier werden ihnen bedeutsam erscheinende Themenbereiche erfragt, die im Zusammenhang mit der Coronapandemie in verschiedenen Kontexten wie Freizeitverhalten, Lernen und Schule, Wohlbefinden/ psychische Gesundheit etc. stehen. Aus den qualitativen sowie quantitativen Befragungen der Personengruppen wird eine differenzierte Bedarfsermittlung abgeleitet, um die akuten Handlungsbedarfe aufzuzeigen. Die Ergebnisse sollen für einen zukunftsweisenden Auf- und Ausbau und eine Weiterentwicklung der Angebote, u. a. im Rahmen der Fachberatung, durch den überörtlichen Träger nutzbar gemacht werden. Zwischenberichte der Projektstandorte Nachfolgend werden Best-practice-Erfahrungen aus den unterschiedlichen Teilprojekten vorgestellt. Die daraus abgeleiteten wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Praxisforschung werden anschließend skizziert. In der Schule verbringen junge Menschen den größten Teil ihrer Zeit. Hier ist der Ort, an dem sie sich mit ihren Peers austauschen und vernetzen. Diese Begegnung war während der Lockdown-Phasen nicht möglich, was unmittelbare Auswirkungen auf die jungen Menschen hatte. Gerade jetzt, nachdem die Schulen 15 uj 1 | 2023 „Gefühlt stecken wir noch mittendrin“ wieder geöffnet sind, spielt Schulsozialarbeit deshalb eine wichtige Rolle. Durch niedrigschwellige Angebote direkt in den Schulen können die jungen Menschen direkt erreicht werden. Am Bischöflichen Maria-Montessori- Schulzentrum (BMMSZ) konnte mit den Fördergeldern im Rahmen der Schulsozialarbeit eine Projektstelle eingerichtet werden, welche für 866 SchülerInnen (197 SchülerInnen an der Grundschule, 171 SchülerInnen in der Oberschule und 498 SchülerInnen im Gymnasium) direkte Unterstützung vor Ort ermöglicht. Die Projektmitarbeitenden stellten kurz nach Beginn des Projektes bei den SchülerInnen vermehrt psychische Belastungen, z. B. Ängste, Antriebslosigkeit und Depressionen, fest. Insofern waren umfangreiche Unterstützungen zur individuellen Hilfe, Sicherstellung des Schulbesuchs und des Schulalltags notwendig. Durch die Beratung und Einzelfallhilfe direkt vor Ort in der Schule konnten auf die Problemlagen, Ängste, Antriebslosigkeit, Depression, Konsumverhalten und Selbstverletzung eingegangen und Bewältigungsstrategien entwickelt werden. Insbesondere die Klassenstufen 5 und 6 zeigten individuelle Bedarfslagen aufgrund der Coronapandemie auf. Der inhaltliche Beratungsschwerpunkt der SchulsozialarbeiterInnen hat sich seit Beginn der Pandemie verlagert: Immer häufiger kommen Eltern und junge Menschen in die Beratungen, welche Unterstützung bei Problemen im Familiensystem wegen psychischer Belastungen bei den SchülerInnen benötigen. Durch das Projekt konnte ihnen mehr Unterstützung geboten werden als zuvor. Die Stabilisierung der SchülerInnen, das Aufzeigen von therapeutischen Möglichkeiten in den Gesprächen mit den Sorgeberechtigten sowie Ressourcenanalysen, um passgenaue Lösungen für die individuelle Situation zu entwickeln, sind Bestandteil der pädagogischen Arbeit an dieser Schule geworden. Die SchulsozialarbeiterInnen stellten nach den Schulschließungen fest, dass sich das soziale Miteinander stark verändert hat, vor allem in den Klassenstufen 5 und 6. Folglich standen in den gruppenpädagogischen Angeboten des Projektes dort die Förderung des sozialen Miteinanders, der Klassenzusammenhalt und eine gute Mediennutzung im Zentrum. Weiterhin wurde durch Aktivierung der SchülerInnen in der Schulversammlung die Eigeninitiative wieder angeregt. Mit der Schließung der Kindertagesstätten, bedingt durch die COVID-19-Pandemie, gaben Eltern vermehrt an, stark an ihre Grenzen zu stoßen. Zahlreiche Eltern erklärten in dieser Zeit, dass sie mit der „Rundumbetreuung“ neben Homeschooling überfordert seien. Digitale Endgeräte u. a. hielten verstärkt Einzug in die kindliche Lebenswelt - teilweise mit unreflektierter Nutzung. Der Caritasverband Zwickau e.V. reagierte auf diese Beobachtungen: Ziel des Projektes ist es, die Kinder in ihrer Medienkompetenz zu stärken und auf die Nutzung von Homeschooling vorzubereiten. In einem ersten Schritt wurden die Mitarbeitenden in der Kindertageseinrichtung zum Thema Digitalisierung im Hinblick auf Medienpädagogik und auf den Umgang mit einer Eltern-App aufgeschlossen. Mit dieser App können die Eltern verstärkt mit der Projektinhaberin in Kontakt treten, um so niedrigschwellige Kontaktmöglichkeiten zu haben. Nach Öffnung der Kindertagesstätten haben sich die Krisengespräche mit den Eltern nahezu verdoppelt, berichten die Mitarbeitenden. Viele Familien finden keine Handlungsalternativen zu den Problemstellungen (z. B. gefühlte Überforderung). Die Kindertageseinrichtung kann mit ihrem Personalschlüssel jedoch nicht die vermehrten Krisengespräche mit den Eltern führen. Insofern konnte hier die Projektstelle durch vermehrte Beratungsgespräche eine wichtige Hilfe leisten, um die Eltern direkt vor Ort zu unterstützen. Es stellt sich jetzt schon heraus, dass eine intensive Elternarbeit ein langer Prozess sein wird, der über den Projektzeitraum hinausgeht und aus Sicht der Eltern sowie der Fach- und Führungskräfte in diesem Bereich unabdingbar ist. 16 uj 1 | 2023 „Gefühlt stecken wir noch mittendrin“ Erste Ergebnisse aus den Fokusgruppen und Gruppendiskussionen Zwischen Juni und September 2022 wurden junge Menschen (n = 20), die Angebote des Caritasverbandes nutzen, in zwei Gruppendiskussionen im Hinblick auf ihre Erfahrungen in der Pandemie und ihre Unterstützungsbedarfe befragt. Auch Eltern (n = 6) sowie Fach und Führungskräfte (n = 18) des Caritasverbandes brachten sich in den qualitativen Forschungsstrang mit ein. Die Auswertung der qualitativen Erhebung floss direkt in die quantitative Befragung ein, welche von Oktober bis November 2022 im gesamten Caritasverband mittels einer Online-Befragung durchgeführt wurde. Der Abschlussbericht wird im ersten Quartal 2023 veröffentlicht. Folgende erste Ergebnisse lassen sich aus den Gruppendiskussionen und Fokusgruppen der jungen Menschen, Eltern sowie Fach- und Führungskräfte heraus für die verschiedenen Lebensbereiche feststellen. In diesem Artikel findet insbesondere die Perspektive der jungen Menschen Berücksichtigung. Psychische Gesundheit und Wohlbefinden der jungen Menschen Die jungen Menschen betonen im Gespräch die Besonderheit ihrer Lebensphase vor dem Hintergrund der Pandemie. Zwei Jahre seien hier deutlich mehr Zeit im Vergleich zum Erleben von Menschen, die deutlich älter und in einer anderen Lebensphase seien. EinE TeilnehmerIn beschreibt die Pandemie als eine Zeit, in der vor allem Unbeschwertheit verloren gegangen sei. „Es hat so eine Art Narbe hinterlassen.“ (Junger Mensch in der Gruppendiskussion) Auch die Fachkräfte berichten von dem Eindruck, die Kinder und Jugendlichen seien grundlegend verunsichert aufgrund der Summe der gegenwärtigen Krisen. Dies äußere sich in einer diffusen Bedrückung und in Pessimismus. Außerdem hätten sich psychische Erkrankungen verstärkt, wie etwa Zwangs- und Angsterkrankungen, Schulangst, Depressionen. Eine Ausnahme zeigte sich in den Fokusgruppen der Fachkräfte, die im stationären Setting der Kinder- und Jugendhilfe tätig sind. Die jungen Menschen werden hier nicht als besonders belastet durch Corona erlebt. Ein möglicher Grund hierfür könnte die vergleichsweise stabile Lebenssituation in der stationären Einrichtung sein. Analog zu den eingangs erwähnten Ergebnissen der COPSY-Studie deutet sich auch in den Gruppendiskussionen der jungen Menschen und in der Einschätzung der Fachkräfte und Eltern überwiegend eine verringerte Lebensqualität der jungen Menschen an. Zugleich zeichnen sich in den im Folgenden dargestellten Lebensbereichen immer wieder Räume ab, in denen junge Menschen ihren Lebensalltag in der schwierigen pandemischen Situation selbstwirksam gestaltet haben. Lebensbereich Schule Ein sehr relevantes Thema in den Gesprächsrunden der jungen Menschen ist der Lebensbereich Schule. Auf die Veränderungen durch die Pandemie hin befragt, beschreiben die Teilnehmenden die Zeit des Homeschoolings als prägnanten Einschnitt. Eine besondere Herausforderung bestand für die jungen Menschen in dem hohen Grad der Selbstorganisation. Einige hätten sich in der Situation mehr Struktur gewünscht, indem z. B. der normale Unterrichtstag mit den verschiedenen Fächern komplett über digitale Formate wie ZOOM abgebildet wird. Einige SchülerInnen fühlten sich von den Lehrenden alleingelassen mit der schwierigen Situation. EinETeilnehmerIn äußerte etwa denWunsch nach mehr emotionaler Unterstützung von den Lehrkräften und nach einem regelmäßigen Austausch im Klassenkollektiv dazu, wie es einem geht. Der Schritt, eine Mail an die Schulsozialarbeit zu schreiben, sei schon sehr groß, daher könne ein regelmäßiger Austausch entlasten. Zugleich wird neben den Aspekten, die als Überforderung der jungen Menschen einzu- 17 uj 1 | 2023 „Gefühlt stecken wir noch mittendrin“ ordnen sind, eine bemerkenswerte Motivation deutlich: Die SchülerInnen bauten in Eigenregie unterstützende Strukturen auf, wie eine feste Tagesroutine und ZOOM-Verabredungen mit MitschülerInnen zum Besprechen und Bearbeiten von Schulaufgaben. Schulbezogen betonen die Teilnehmenden der Gruppendiskussion die große (Planungs-)Unsicherheit, die durch die Wechselhaftigkeit der Auflagen (z. B. zum Tragen von Masken in der Schule), teilweise kurzfristige Schulschließungen oder auch ausbleibende Schulschließungen trotz hoher Inzidenz entstanden ist. An einigen Stellen tritt hier das Bedürfnis der jungen Menschen nach einer klaren Struktur hervor, denn sie äußern den Wunsch nach Regelungen, die dann genauso umgesetzt werden. Dieser Wunsch nach Information und Orientierung lässt sich übergreifend für die Zeit der Pandemie feststellen. Aus den Fokusgruppen der Fachkräfte wird aus dem Bereich der Schulsozialarbeit ein erhöhter Beratungsbedarf rückgemeldet. Verändert hätten sich auch die Arbeitsinhalte von eher konkreten Themen, wie Konflikten mit MitschülerInnen, in Richtung eher diffuser Symptomatiken, wie z. B. Ängste. Fachkräfte aus verschiedenen Bereichen problematisieren die Belastung durch die Pandemie, unter der gerade junge Menschen am Beginn ihrer Bildungsbiografie leiden. Hier müsse der Anspruch heruntergesetzt und Druck herausgenommen werden, damit Kinder nicht mit einem schlechten Gefühl in die Schule starten. Der Eindruck eines „traurigen Schulstarts“ kommt auch in der Gesprächsrunde mit Elternteilen auf. Diese weisen zudem auf eine mangelnde Kommunikation mit den LehrerInnen hin. Hier habe es zum Teil wenig Resonanz gegeben. Unterstützung wurde, so berichtet ein Elternteil, vor allem von der Schulsozialarbeit geleistet, weniger von den Lehrenden. Soziale Kontakte Ein weiteres Thema in den Gesprächsrunden der jungen Menschen waren soziale Kontakte während der Pandemie. Hier zeigt sich ein diverses Bild im Hinblick auf das Eingehen und Erleben von freundschaftlichen Beziehungen: Einige erzählen von Kontakten, die durch die Beschränkungen im Lockdown dauerhaft abgebrochen sind. Andere wiederum geben an, gerade durch die besondere pandemische Situation alte Kontakte intensiviert zu haben oder sogar neue Freundschaften und Beziehungen eingegangen zu sein. In einer Gesprächsrunde wird die große Bedeutung eines Jugendhilfeangebotes für die jungen Menschen hervorgehoben, das als Konstante und Ort des Kontakts zu anderen gilt. EinE TeilnehmerIn betont, wie wichtig es ist, dass das Angebot auch in Lockdownphasen zur Verfügung steht. Auch für soziale Kontakte im Schulsetting unter pandemischen Bedingungen wurden neben belastenden Veränderungen auch positive Auswirkungen festgestellt. So hätten der Teilgruppenunterricht und das Zusammenkommen im digitalen Raum eine Vermischung von (Freundes-)Gruppen in der Klasse zur Folge gehabt. Zum Teil erzählen die jungen Menschen und Eltern aber von Schwierigkeiten im Klassenkollektiv, als SchülerInnen in Präsenz wieder aufeinander trafen. Freizeitgestaltung Im Hinblick auf ihre Freizeitgestaltung berichten einzelne junge Menschen, Interesse oder Lust an Hobbys verloren zu haben. Manche erlebten hingegen Lockdownphasen als Zeitzuwachs, um sich Hobbys zu widmen oder neue zu entdecken. In den Fokusgruppen der Fachkräfte wird aktuell von einem Run auf die Freizeitangebote berichtet und von dem Bedürfnis der jungen Menschen, Freizeit „nachzuholen“. Es gebe aber ebenfalls Schwierigkeiten beim Wiederandocken, z. B. an Gruppensport, der vor der Pandemie ausgeübt wurde - vor allem für Kinder und junge Menschen, die Bindungsschwierigkeiten haben. Aus Perspektive der Fachkräfte ist auch der erhöhte Medienkonsum bis hin zu Mediensucht problematisch. Diese Einschätzung 18 uj 1 | 2023 „Gefühlt stecken wir noch mittendrin“ deckt sich mit Erzählungen der Elternteile, die den Medienkonsum in der von Homeschooling und anderen pandemiebedingten Anforderungen belasteten Phase weniger begrenzten. Familiäre Situation Auf ihre familiäre Situation hin befragt, erzählen die jungen Menschen und Elternteile von viel Anspannung und Belastung, z. B. durch die Sorge, die eigenen Verwandten anzustecken. Die Elternteile beschreiben sich selbst als gereizt und weniger geduldig im familiären Alltag durch die Mehrbelastung, die u. a. durch Homeschooling entstanden sei. Die coronabedingt längere gemeinsame Zeit im Familienverbund wurde zum Teil von den jungen Menschen jedoch ebenso als etwas Positives erlebt. Die Fachkräfte verweisen hinsichtlich der pandemiebezogenen Risiko- und Schutzfaktoren auf die Gefahr für „Kinder, die hinter Türen verschwinden“ in Lockdownphasen. Übergriffe und Gewalterfahrungen blieben so möglicherweise unentdeckt. Ein allgemeiner Schutzfaktor vor den Belastungen durch die Pandemie bestehe darin, dass Fachkräfte verschiedener Arbeitsfelder Kinder und junge Menschen immer wieder ansprechen und den Kontakt halten. Für Eltern müsse es außerdem gesellschaftlich viel akzeptierter sein, Überforderung zu äußern. Die Arbeitssituation in der Kinder- und Jugendhilfe aus der Perspektive der Fachkräfte Die Fachkräfte berichten arbeitsfeldübergreifend von einer coronabedingt extremen Arbeitsbelastung, die sich nun im Nachgang in hohen Krankheitsständen und viel Langzeiterkrankungen niederschlage. In diesem Zusammenhang besteht besonders der Eindruck, dass die Situation noch nicht bewältigt ist, sondern man eigentlich noch„mittendrin steckt“. Aus den Fokusgruppen der Fachkräfte geht hervor, dass die Kinder- und Jugendhilfe in der Pandemie vieles über das übliche Handlungsfeld hinaus aufgefangen habe. Insbesondere die Mehrarbeit, die durch die teils unklare Umsetzung von gesetzlichen Bestimmungen im Kontext der Pandemie entstanden ist, wird als starke Belastung aufgeführt. EinE TeilnehmerIn benennt in diesem Kontext den Bedarf eines Sonderstatus in der Sozialen Arbeit, der es den AkteurInnen ermöglicht, ohne viel bürokratischen Aufwand die notwendige Arbeit machen zu können. „[…] Quatsch, irgendwelche Bürokratie zu bedienen, wenn irgendwo anders ein Baby keine Windeln mehr zu Hause hat.“ (Fachkraft in der Fokusgruppe) Die Fachkräfte müssten dringend entlastet werden (z. B. über Coronazuschüsse oder Entlastungstage). Es brauche neben den personellen auch mehr finanzielle Ressourcen und die Verstetigung von Angeboten. Außerdem seien mehr Plätze in stationären und teilstationären Behandlungsformen für die Kinder und Jugendlichen nötig. Bezüglich der Qualität von Kooperationen äußern die Fachkräfte ganz verschiedene Erfahrungen von trägerübergreifender gegenseitiger Unterstützung bis hin zu Kooperationspartnerschaften, die unter den Pandemiebedingungen komplett weggebrochen sind. Gleichzeitig wird auf kreative Ideen verwiesen, die aus der pandemischen Situation heraus zukünftig Prozesse verschlanken könnten. Neben den coronabedingten Herausforderungen äußern Fach- und Führungskräfte zudem Sorgen mit Blick auf die kommende Belastung sozialer Einrichtungen durch steigende Energiekosten. Handlungsempfehlungen und Ausblick Nach diesen Erkenntnissen aus der Praxis und aus den qualitativen Befragungen dürfte eins klar sein: Die Kinder- und Jugendhilfe hat star- 19 uj 1 | 2023 „Gefühlt stecken wir noch mittendrin“ ken Aufholbedarf in unterschiedlichen Segmenten. Nicht nur die Fach- und Führungskräfte äußern durch die COVID-19-Pandemie hohe Belastungen, sondern auch die jungen Menschen und ihre Eltern sind unmittelbar von den Auswirkungen der Lockdowns betroffen. Die Personengruppen führen konkrete Bedarfe an, auf die die Fachwelt nun reagieren sollte: direkte, niedrigschwellige Unterstützungsangebote für junge Menschen und deren Eltern sowie Entlastungen für die Fach- und Führungskräfte. Besonders im Arbeitsfeld der Schulsozialarbeit ist der Bedarf an Unterstützungsangeboten gestiegen. Leider reichen häufig die bereitgestellten Ressourcen im Bereich der Mitarbeitenden nicht aus. Hier sollte dringend Personal aufgestockt werden, um weitere direkte Unterstützungsmöglichkeiten am Lebensraum Schule anbieten zu können. Die Eindrücke aus dem o. g. Projektstandort und den Fokusgruppen und Gruppendiskussionen zeigen die Notwendigkeit auf, SchülerInnen im sozialen Miteinander zu unterstützen und Räume zu schaffen, in denen der Zusammenhalt in den Schulklassen gestärkt werden kann. Für den schulischen Bereich benötigt es zudem Strategien dazu, wie insbesondere junge Menschen, die am Beginn ihrer Bildungsbiografie stehen, vor dem Hintergrund der pandemiespezifischen Situation unterstützt werden können. Es wurde deutlich, wie wichtig für junge Menschen Möglichkeiten des Kontakts und Austauschs auch außerhalb der Familie sind. Offene niedrigschwellige Jugendhilfeangebote sind wichtige Orte, die genau das ermöglichen. Die jungen Menschen formulierten einen Bedarf an Informationen im Kontext der COVID-19- Pandemie. Ihnen sollte auch zukünftig in Krisensituationen Wissen zur Verfügung gestellt werden, das Orientierung bietet und vor allem gut verständlich ist. Auch die Digitalisierung im Bereich der Schulen hat durch die Pandemie enorm zugenommen. Die jungen Menschen haben sich während der Schulschließungen fast ausschließlich digital ausgetauscht, wobei der Effekt des „Vermischens“ von Peergroups positiv wahrgenommen wurde. Auch künftig sollte über digitale Schulstrategien sowie über eine ausreichende Vermittlung von Medienschutz nachgedacht werden. Der Medienkonsum junger Menschen ist mit Beginn der Pandemie stark angestiegen. Das berichten alle Personengruppen gleichermaßen. Nur inwieweit sind die jungen Menschen und ihre Eltern über die Folgen von erhöhtem Medienkonsum aufgeklärt? Und inwieweit sind sie über die Gefahren im Netz informiert? Die Fach- und Führungskräfte postulierten, dass ihre psychische und physische Gesundheit durch die hohen Belastungen über zwei Jahre stark beeinträchtigt ist: wegen des andauernden Personalmangels, sich immer verändernder Rahmenbedingungen und nicht zuletzt durch erhöhte Bürokratie. Die Träger sollten den Fach- und Führungskräften vor allem Angebote zur Wiederherstellung des Gesundheitszustandes unterbreiten. Dies könne in Form von psychischen Unterstützungsangeboten im Team (z. B. Supervision), aber auch durch konkrete Entlastungsangebote wie „Entlastungstage“ erfolgen. Das Thema Gesundheitsfürsorge der Mitarbeitenden sollte in den Einrichtungen in den nächsten Jahren im Fokus stehen, indem etwa konkrete Modelle der Gesundheitsförderung gemeinsam mit den Mitarbeitenden erarbeitet werden. Kim Kemner und Nadine Schildt IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH Altendorfer Str. 237 45143 Essen E-Mail: kemner@ikj-mainz.de schildt@ikj-mainz.de Norbert Waldhelm Caritasverband für das Bistum Dresden-Meißen e. V. Magdeburger Str. 33 01067 Dresden E-Mail: waldhelm@caritas-dicvdresden.de 20 uj 1 | 2023 „Gefühlt stecken wir noch mittendrin“ Literatur Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2022): Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“. In: https: / / www.bmfsfj.de/ bmfsfj/ themen/ corona-pan demie/ aufholen-nach-corona, 17. 10. 2022 Ravens-Sieberer, U. et al. (2020): Mental health and quality of life in children and adolescents during the COVID-19 pandemic - results of the COPSY study. In: https: / / www.aerzteblatt.de/ archiv/ 216647/ Psychi sche-Gesundheit-und-Lebensqualitaet-von-Kindernund-Jugendlichen-waehrend-der-COVID-19-Pande mie-Ergebnisse-der-COPSY-Studie, 17. 10. 2022 Nichtveröffentlichte Quellen: Bischöfliches Maria-Montessori-Schulzentrum Leipzig: Schulsozialarbeit am Bischöflichen Maria-Montessori- Schulzentrum Leipzig. Sachbericht der Projektstelle „Aufholen nach Corona“ Caritasverband Zwickau e. V.: Sachbericht: „Aufholen nach Corona“ Resilienz - die Stärkung der seelischen (und körperlichen) Widerstandskraft - hat in Forschung und Praxis an Bedeutung gewonnen. Die Autoren stellen Konzepte und aktuelle Forschungsergebnisse verständlich dar. Sie führen in relevante Themengebiete wie Prävention, Risiko- und Schutzfaktorenkonzept sowie Salutogenese ein und beschreiben Programme in Kindertageseinrichtungen und Schulen, mit denen Fachkräfte die Resilienz von Kindern fördern können. Dauerbrenner „Resilienz“ 6. Auflage 2022. 102 Seiten. 5 Abb. 2 Tab. Innenteil zweifarbig. (978-3-8252-5861-0) ktt a www.reinhardt-verlag.de
