eJournals unsere jugend 75/3

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art15d
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2023
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Medienkompetenz oder sexuelle Bildung?

31
2023
Christian Grüner
Proaktiver Pornografiekonsum ist fester Bestandteil jugendlicher Sexualentwicklung (geworden) – eine Tatsache, die sowohl durch Studien als auch durch die Erfahrung von Projektarbeit mit Jugendlichen stets aufs Neue bestätigt wird. Offen bleibt hingegen noch häufig die Frage, ob und wenn ja, wie Eltern und Fachkräfte adäquat darauf reagieren können.
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112 unsere jugend, 75. Jg., S. 112 - 120 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art15d © Ernst Reinhardt Verlag Medienkompetenz oder sexuelle Bildung? Über notwendige multidisziplinäre Ansätze bei digitalen Themen am Beispiel des Pornografiekonsums Jugendlicher Proaktiver Pornografiekonsum ist fester Bestandteil jugendlicher Sexualentwicklung (geworden) - eine Tatsache, die sowohl durch Studien als auch durch die Erfahrung von Projektarbeit mit Jugendlichen stets aufs Neue bestätigt wird. Offen bleibt hingegen noch häufig die Frage, ob und wenn ja, wie Eltern und Fachkräfte adäquat darauf reagieren können. von Christian Grüner Jg. 1987; Pädagoge (B. A.), Mediator, Fachkraft für Prävention und Intervention im Themenfeld sexuelle Gewalt Die Sexualität der Gesellschaft Sexualität ist ein zentrales und grundlegendes Thema in der Entwicklung junger Menschen. Pornografie, als audiovisuell gespeichertes und jederzeit abrufbares Material expliziter sexueller Darstellungen, bildet somit eine attraktive, eindeutige und leicht zugängliche Möglichkeit, sich mit einer aufregenden Welt zu beschäftigen, deren Zugang aktuell gegebenenfalls noch nicht ermöglicht, aber doch in absehbarer Zeit existieren wird. Die eigene sexuelle Identität mit Fragen der Geschlechterrolle und sexuellen Orientierung giert nach Informationen sowie Bildern zur Inspiration und zum Abgleich bestehender Erfahrungen und existierender Skripte. Treffenderweise hat Sexualität zunehmend ihren Weg in öffentliche Diskurse und Erscheinungsformen gefunden und zeigt sich so als Thema im gesellschaftlichen Mainstream salonfähig. Einst tabuisierte und als privat gekennzeichnete Bilder und Informationen wurden neu bewertet und normalisiert, wofür die wiederkehrende Präsenz in medialen Welten Beleg ist. Starke spricht von einer „sexuellen Liberalisierung, der Enttabuisierung [und] der Omnipräsenz des Sexuellen im öffentlichen Raum (…)“ (Starke 2010, 62). Gleichwohl bleibt ein interessantes Spannungsfeld, welche Inhalte letztlich als diskutierbar und von öffentlichem Interesse gesehen und akzeptiert werden, während zeitgleich dazu dennoch eine nicht klar definierte Grenze zu existieren scheint, was weiterhin als ‚Privatsache‘ bestehen soll und keine Legitimation findet. Was früher als pornografisch gelabelt wurde, wird heute öffentlich thematisiert und vorgeführt, ob in Werbung, Filmen oder Liedtexten beziehungsweise dazugehörigen Musik- 113 uj 3 | 2023 Medienkompetenz oder sexuelle Bildung? videos. Eine gewisse Normalität der Präsenz entsprechender Inhalte führt zu der Annahme, man könnte von einer ‚Pornografisierung der Gesellschaft‘ sprechen. Dieser Begriff bezieht sich auf die Quantität pornografischer Produktionen sowie die Qualität und die damit einhergehenden Bezüge zur Populärkultur (vgl. Döring 2011). Zugleich wirken explizit als Pornografie eingeordnete Inhalte oft noch immer aufgrund einer vermeintlich schädigenden Wirkung mit negativem Image besetzt und moralisch verwerflich, obwohl es sich letztlich um die bildliche Darstellung von Sexualität handelt, welche, wie bereits erwähnt, ihren Weg in die Öffentlichkeit gefunden und sich dort gut etabliert hat (unabhängig davon, inwieweit der oder die Einzelne seine oder ihre eigene Sexualität und Vorstellung davon in pornografischen Werken wiederfinden mag). Zur Begrifflichkeit ‚Pornografie‘ Vielleicht sollte an dieser Stelle genauer auf den Begriff geblickt und die Frage geklärt werden, was alles als pornografisch eingestuft werden kann, wo also scheinbar eine moralische Linie zum Allgemeinverträglichen überschritten wird. Juristisch betrachtet ist es notwendig, dass „eine Darstellung unter Ausklammerung aller sonstigen menschlichen Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher Weise in den Vordergrund rückt und ihre Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes abzielt“ (Bayerisches Landeskriminalamt 2021). Während man in dieser Beschreibung eine starke Bewertung und moralische Vorstellung wiederfindet, bleiben viele Fragen offen, die Eindeutigkeit in der Begriffsklärung verhindern. Zudem lässt sie einen großen Spielraum für individuelle Sichtweisen, Einordnungen und wirkt mit dem Entstehungsdatum aus dem Jahr 1974 auch nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Diese Unklarheit bietet ihrerseits einen relevanten Einstiegspunkt in die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beziehungsweise einen ersten Ansatzpunkt für entwicklungsbegleitende Menschen, da noch vor Bearbeitung spezifischer Fragestellungen (wie im Folgenden ausgeführt wird) zu klären wäre, was Jugendliche (und ggf. auch Eltern/ Fachkräfte) unter Pornografie verstehen. Während das Thema von erwachsenen Bezugspersonen nicht selten gemieden wird, schaffen sich Jugendliche im Austausch mit der Gleichaltrigengruppe möglicherweise eine eigene Definition und Auslegung des Begriffs. Die Einordnung audiovisueller Produktionen als pornografisch zeigt sich so ohne klare definitorische Grundlage stark abhängig vom Zusammenspiel diverser Faktoren, zu denen u. a. sozialer Hintergrund, sexuelle Erfahrungen oder individueller Entwicklungsstand zählen. Daher eignet sich eine beschreibende Definition vermutlich am besten, um zu klären, was Gegenstand der Betrachtung ist. Zillmann spricht von „Darstellungen sexuellen Verhaltens jeglicher Art, das von jeder denkbaren Zusammensetzung handelnder Akteure ausgeführt wird“ (Zillmann 2004, 568) und ermöglicht, wertfrei viel Raum mit eigenen Erfahrungen und vielfältigen Erscheinungsformen zu füllen. Und nun? Ein kurzer Überblick soll nun abschließend noch auf Handlungsmöglichkeiten von Eltern und Fachkräften eingehen, welche im direkten Arbeitsprozess mit Kindern und Jugendlichen stehen und sich, ob sie wollen oder nicht, dieser Thematik annehmen müssen. Denn während juristisch (und hierbei nun klar und eindeutig) geklärt ist, dass es sich um eine strafbare Tat handelt, wenn man „einen pornographischen Inhalt (…) einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zu- 114 uj 3 | 2023 Medienkompetenz oder sexuelle Bildung? gänglich macht (…)“ (Bundesministerium der Justiz o. D.), bleibt darüber hinaus die Frage nach pädagogischem Umgang damit. Am einfachsten und direktesten lässt sich unerwünschtem Pornografiekonsum mit Verboten und Sanktionen wie Handy- oder Internetverbot beziehungsweise anderen nicht im Zusammenhang stehenden Strafen begegnen. Abgesehen von Zweifeln an der Nachhaltigkeit und Nachvollziehbarkeit beziehungsweise Verhältnismäßigkeit derartiger Interventionen bedeutet es mit Blick auf die Sexualität junger Menschen, diese einzuschränken, nicht ernst zu nehmen und zu entmündigen, indem man ein Stück weit sexuelle Autonomie und berechtigtes Interesse an sexuellen Abbildungen abspricht. Auf der anderen Seite, gleichwohl zeitintensiver, aufwendiger und Selbstreflexion vorausgesetzt, besteht die Option des Dialogs und des Strebens nach Kompetenzerweiterung von Kindern und Jugendlichen. Wie dieser Weg aussehen kann, soll im Folgenden beispielhaft skizziert werden. Pornografie stellt mit der Schnittmenge von Angeboten der sexuellen Bildung sowie Medienkompetenz gleichermaßen ein besonders herausforderndes Themenfeld dar und bietet doch eben durch die Kombination dieser Teildisziplinen eine Vielzahl an Herangehensweisen, Methoden und zu besprechender Inhalte. Sexuelle Bildung „Sexualerziehung als Praxis meint die kontinuierliche, intendierte Einflussnahme auf die Entwicklung sexueller Motivationen, Ausdrucks- und Verhaltensformen sowie von Einstellungs- und Sinnaspekten der Sexualität von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“ (Sielert 2015, 12). Wie in allen Bereichen erzieherischen Handelns wird hier also das intendierte Einwirken auf Zu-Erziehende in den Fokus genommen. Ziel dieses Einwirkens ist das Starten eines Prozesses der Selbstbildung beziehungsweise Selbstreflexion, welcher durch ergänzende Inputs und Impulssetzungen im Laufe ebendieses erfolgt und an dessen Ende individuelle Standpunkte und Fertigkeiten zu Aspekten sexueller Themen stehen. Unter dem Begriff der sexuellen Bildung versteht Sielert einen „lebenslange[n] Prozess der Selbstaneignung sexueller Identitäten in Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Welt, den die Pädagogik zwar intentional, letztlich aber nur beratend begleiten kann“ (ebd., 12). Der Fokus liegt hier also noch stärker auf der Eigeninitiative und Verantwortung des Subjekts, welches von extern lediglich punktuell unterstützt und zur Selbstarbeit animiert werden soll. Dieser Aspekt ist zu betonen, da es sich bei sexueller Bildung um einen lebenslangen Prozess handelt. Der Mensch ist von Geburt an bis zum Tod ein sexuelles Wesen, dessen Sichtweisen, Rollenverständnisse, Gefühlswelten etc. keine starren Konstrukte sind, sondern durch alle Lebensphasen hindurch dynamisch existieren. Menschen sollen befähigt werden, sich legal sexuell selbstbestimmt entfalten zu können. Hierzu bedarf es des Wissens über Regeln, Normen und Wertvorstellungen sowie der Kenntnis über sich selbst und die eigene Gefühlswelt. Dazu zählt beispielsweise die Fähigkeit, eigene Grenzen zu (er-)kennen sowie die anderer einschätzen und wahren zu können oder die Wahrnehmung eigener Bedürfnisse (sowohl körperlich als auch emotional). Das Entwickeln einer sexuellen Sprachfähigkeit (das betrifft zum einen anatomische Begrifflichkeiten, zum anderen die Kompetenz, mit anderen über Gefühle und persönliche Themen sprechen zu können) ist ebenso notwendig wie die Kenntnis um sexuelle Vielfalt. All diese Aspekte dienen nicht nur der Orientierung im sozialen Raum sowie der Selbstentfaltung, sondern wirken darüber hinaus präventiv in Bezug auf grenzüberschreitendes Verhalten und sexualisierte Gewalt. 115 uj 3 | 2023 Medienkompetenz oder sexuelle Bildung? Mit Blick auf Pornografie wird es besonders spannend zu hinterfragen, ob sich Sexualität durch die vorangeschrittene Digitalisierung gewandelt hat und damit auch die Aufgaben sexueller Bildungsprozesse - quasi das Konstrukt einer ‚post-digitalen Sexualität‘. Dannecker konstatiert: „[d]ie Sexualität im Netz ist indes nicht nur schamloser als die Sexualität in der realen Welt, im Netz werden auch die von der sexuellen Orientierung gezogenen Sexualitätsschranken tendenziell aufgehoben“ (Dannecker 2009, 41). Charakteristisch sei „die weitgehende Abwesenheit von sexuellen Hemmungen und das Versprechen von Triebbefriedigung ohne Aufschub“ (ebd., 42). Wertfrei betrachtet lässt sich diese Feststellung als eine Chance für die Begleitung sexueller Bildung beleuchten, nämlich derart, dass sich Themen weniger schambehaftet und uneingeschränkter präsentieren und diskutierbar werden. Gleichwohl bedeutet diese Tatsache auch eine Notwendigkeit der Erweiterung thematischer Vielfalten sexueller Bildungsprozesse und eine erweiterte Offenheit und höheren Wissensstand für Begleitende ebensolcher Angebote. Zumal bekannt ist, dass Jugendliche im Internet eben auch nach Antworten auf explizite Fragen suchen, die in persönlichen Gesprächen schambehaftet sein können (vgl. Döring 2019). Bedeutsam ist hierzu die grundlegende Frage, ob es korrekt ist, von einer ‚realen Welt‘ als Parallele zur ‚digitalen Welt‘ zu sprechen oder nicht eher davon auszugehen, dass beide derart verwoben und (vor allem für Jugendliche) nicht voneinander trennbar sind. Handelt es sich nicht viel mehr um eine Sexualität, welche aus verschiedenen Quellen Wissen, Inspiration, Anregungen und Neugier bezieht und viel weniger um parallel existierende Konstrukte? Zu berücksichtigen bleibt bei diesem Aspekt jedoch, dass eine Trennung zwischen digital erlebter Sexualität (mit der Möglichkeit, Wünsche und Fantasien auszuleben) und analoger „realer“ Sexualität, welche Einschränkungen hinnehmen muss, gezogen werden kann. Gleichwohl wurde es durch die flächendeckende Ausstattung junger Menschen mit mobilen Endgeräten und Internetzugang notwendig, Besonderheiten digitaler Räume in Angebote sexueller Bildungsprozesse zu integrieren. Beispielhaft wäre hier die Verwendung von Emojis zu nennen, welche mit sexuellen Bedeutungen hinterlegt werden und als solche nicht für jeden Teilnehmer bzw. jede Teilnehmerin der Kommunikation erkenntlich und deutbar sind (beispielsweise Verwendung des Auberginen- Emojis als Symbolik für einen Penis) oder die Frage, ob partnerschaftliche Beziehungen auch in rein digitaler Ausprägung als legitim und erstrebenswert gewertet werden können. Fakt ist, dass Jugendliche das Internet als eine bedeutende Quelle der Sexualaufklärung sehen, wie die Ergebnisse der Neunten Welle der BZgA-Studie „Jugendsexualität“ offenlegen. 56 % der befragten Mädchen und sogar 62 % der befragten Jungen nennen diese Option, die damit auf Platz drei der Informationsquellen landet (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2020). Bestenfalls wirkt die mediale Präsenz von Sexualität auch dahingehend positiv, dass durch sie ein leichterer und weniger schambehafteter Einstieg ins Thema ermöglicht wird und Gespräche darüber normalisiert werden. Medienbildung Definitionsgemäß ist „das zentrale Ziel Aktiver Medienarbeit (…) also, Heranwachsenden einen aktiv-kritischen Umgang mit Medien zu ermöglichen und sie zur Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen zu befähigen. Dabei geht es immer sowohl um eine Reflexion von Medien, medialen Phänomenen und Strukturen, als auch darum, Medien in Gebrauch zu nehmen, um kreativ tätig zu werden und eigenen Interessen Ausdruck zu verleihen“ (Demmler/ Rösch 2012, 20). Eine zugegebenermaßen ambitionierte Zielstellung, die gleichsam kompakt notwendige Fähigkeiten für medial agierende Menschen bündelt. 116 uj 3 | 2023 Medienkompetenz oder sexuelle Bildung? Die Tatsache, dass digitale Endgeräte eine enorme Verbreitung unter Kindern und Jugendlichen genießen und sich außerordentlicher Beliebtheit erfreuen, wird regelmäßig konstatiert. Ebenso trifft das auf die enorme Bedeutung für das tägliche Leben und soziale Miteinander (junger) Menschen zu. Medien sind quasi omnipräsent. Dennoch lohnt es sich erneut, bewusst zu machen, in welchem Ausmaß digitale Endgeräte verbreitet sind. Während 99 % der Haushalte mit Smartphone/ Handy und Internetzugang ausgestattet sind, beträgt die Zahl der Smartphone- Besitzenden in der Altersklasse 6 - 13 Jahre 42 % (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2020). Bei den 12 - 19-Jährigen erhöht sich der Anteil auf 93 % (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2021). Um es erneut festzuhalten: Medien sind quasi omnipräsent - digitale Medien ebenso. Die Befähigung dieser Nutzenden muss, wie bereits in der Definition dargestellt, auf verschiedenen Ebenen erfolgen und reicht von technischen Aspekten wie relevanten Geräteeinstellungen (‚Wie richte ich mein Smartphone sicher ein? ‘) oder Wissen darüber, wie eine Nachricht via Messenger von SenderIn zu EmpfängerIn kommt (‚Weg einer WhatsApp-Nachricht‘), auch und vor allem zum (gemeinsamen) Reflektieren des Nutzungsverhaltens (‚Was mache ich mit meinem Smartphone? ‘ und ‚Was macht mein Smartphone mit mir? ‘). Letztlich handelt es sich bei digital agierenden Menschen nicht um passive Subjekte, die medialer Beschallung ausgesetzt sind, sondern um aktive NutzerInnen, die Inhalte und Apps sehr personalisiert und selbstbestimmt nutzen und (zumindest bedingt) individualisieren (können). Oder wie es Flasche formuliert: „Der Algorithmus schreibt den Leuten ja nicht vor, was sie machen, sondern er reagiert“ (Brueggen 2022, 27). Passend dazu formuliert Schorb: „Im Mittelpunkt der medienpädagogischen Bemühungen stehen folglich nicht die Medien, sondern die Individuen in ihrem gesellschaftlichen Kontext, in dem Medien eine wesentliche Rolle spielen“ (Schorb 1995, 188). Das eigene Nutzungsverhalten muss also zu einem zentralen Punkt medienpädagogischer Arbeit werden. Daher scheint die Forderung, entsprechende Angebote unbedingt an der Lebenswelt der AdressatInnen ansetzen zu lassen, mehr als logisch und selbstverständlich. Mit Blick auf die Sozialisation Heranwachsender und die Bedeutung der Lebenswelt für die Aneignung moralischer, ethischer und gesellschaftlicher Normen, Werte und Sichtweisen wäre es sinnvoll und notwendig, diesen Punkt ausführlicher zu betrachten und kreativ zu werden, wie die Anknüpfung an die und das Abholen von der Lebenswelt junger Menschen gelingen kann. Denn„[n]eben der Förderung von Medienkompetenz geht es in der Aktiven Medienarbeit auch immer um die Förderung sozialer Kompetenzen“ (Demmler/ Rösch 2012, 20). Wobei sich auch hier die Frage zu stellen wäre, ob es möglich und richtig ist, von (getrennten) Lebenswelten zu sprechen, oder Digitales und Analoges nicht vielmehr zu einer großen Lebenswelt für junge Menschen geworden sind, die sich gegenseitig ergänzen und bedingen, denn „diese strikte Trennung zwischen der analogen und der digitalen Welt, die sich gegenüberstehen und die man ineinander übersetzen müsste, da sind wir einfach schon weiter“ (Brueggen 2022, 23). Ein interdisziplinärer Arbeitsauftrag Im Folgenden soll nun konkret anhand des geplanten Konsums (‚wanted exposure‘) pornografischer Inhalte exemplarisch beleuchtet werden, wie Pornografienutzung Jugendlicher pädagogisch gelingend begleitet und bearbeitet werden kann. Diesem Arbeitsauftrag soll sich zum einen aus medienpädagogischer Perspektive, zum anderen aus dem Feld der sexuellen Bildung genähert werden, um eine möglichst ganzheitliche Thematisierung leisten zu können. Grundsätzlich und vorangestellt muss deutlich darauf hingewiesen werden, dass es sich bei einem derart sensiblen Thema ge- 117 uj 3 | 2023 Medienkompetenz oder sexuelle Bildung? nerell um Gesprächseinladungen und keine verpflichtenden Veranstaltungen handeln soll. Eine gute (Arbeits-)Beziehung sollte ebenso wie der passende Rahmen vorhanden sein. Auch die Haltung der pädagogisch begleitenden Person nimmt eine enorm relevante Rolle ein sowie deren Expertise beziehungsweise Erfahrung im Themenfeld. Die Intention sollte ein Anstoß zum Hinterfragen des Gesehenen sowie ein begleiteter Einstieg in die Selbstreflexion mit dem Ziel der Erarbeitung eines eigenen Standpunkts hinsichtlich Pornografie sein, anstelle eines belehrenden Vortrags mit Verweis auf Gefahren und Regularien. Im Fokus sollte der Blick auf die eigene Gefühlswelt bei Konsum und Konfrontation expliziter Bilder liegen sowie die daraus resultierende Fähigkeit, eigene Grenzen erkennen zu können. Das bedeutet, dass es sich unter Umständen um das Anstoßen eines Prozesses handelt, was folglich bedeutet, möglicherweise auch weitere und spezifischere (Gesprächs-)Angebote bereitzuhalten, unter Umständen aber auch über weitere Ansprechpersonen, Quellen oder (seriöse) Anlaufstellen zu informieren. Als ‚Aufhänger‘ eignen sich, abgesehen von direkter Nachfrage Jugendlicher oder Situationen, in denen Pornografiekonsum mitbekommen wurde, Ereignisse aus medialen Welten (beispielsweise Celebrity Sextapes oder ‚The Fappening‘) oder die durchaus diskussionswürdige Frage, weshalb Inhalte mancher Musikvideos nicht als pornografisch eingestuft werden. Pädagogische Begleitung bei bewusstem Pornografiekonsum Jugendlicher Ein Großteil der Jugendlichen hat sich bereits bewusst auf die Suche nach pornografischen Inhalten gemacht und ist dabei fündig geworden (was zugegebenermaßen bei der Fülle an Angeboten und niedrigen Hürden der Zugänglichkeit nicht verwunderlich ist). Die Motivationen dafür sind vielfältig und reichen von bloßem Interesse an der Thematik und dem Wunsch, auch in diesem Bereich anschlussfähig an Gleichaltrige zu bleiben, über die Suche nach sexuellen Informationen (‚Aufklärung‘) bis hin zu Erregung und ‚sensation seeking‘. Entsprechend vielfältig sind die daraus resultierenden Ansatzpunkte und Gesprächsinhalte, mit denen man in Austausch kommen kann. Es sollte sich bewusst gemacht werden, dass die Suche nach solchen Inhalten schon sehr früh beginnt, etwa mit elf Jahren (vgl. Gernert 2010, 74), was in der Konsequenz bedeutet, das Thema auch frühzeitig in der pädagogischen Arbeit griffbereit zu haben. Sexualpädagogischer Ansatz Bereits die grundsätzliche Frage nach Motivation und erwarteten Gefühlen oder Erlebnissen (gemäß des Nutzen- und Belohnungsansatzes) kann spannende Erkenntnisse bringen und sich für den weiteren Prozess als hilfreich erweisen. Wünsche und Unsicherheiten sowie Bedürfnisse können kommuniziert und gemeinsam abgewogen werden, ob Pornografienutzung dafür eine adäquate Unterstützung bietet oder Alternativangebote passender wären. Die Frage nach dem Realitätsbezug der dargestellten Szenen lässt sich gut besprechen und eignet sich als Einstieg für weitere Themen. Aus sexualpädagogischer Sicht bedeutet das ein Hinterfragen dargestellter Geschlechterrollen und -vorstellungen, Diversität in der Präsentation von Körpern (die ja durchaus im pornografischen Bereich existiert, jedoch im Mainstream kaum sichtbar wird und nicht zwingend im Zusammenhang mit der Vielfalt an Kategorien steht), sexueller Vielfalt hinsichtlich Überschreiten heteronormativer Grenzen, körperlicher Fertigkeiten der Darstellenden oder aber ganz grundlegend hinsichtlich gesellschaftlicher Normen und Werte. Diese Fülle an Gesprächsangeboten bezüglich der Frage, wie realitätsnah Pornografie ist, lässt sich auch sehr gut thema- 118 uj 3 | 2023 Medienkompetenz oder sexuelle Bildung? tisieren, ohne zu sehr in die Selbstoffenbarung gehen zu müssen. Gleichwohl muss hierzu betont werden, dass Jugendliche durchaus in der Lage sind, nach speziellen Themen und Skripten zu suchen, und „Pornographie (…) nicht konstruiert [ist] wie die sexuelle Wirklichkeit. Das ist das Letzte, was sie abbilden will: sexuelle Realität, das, was sich tatsächlich abspielt“ (Schmidt 1993, 144). Relevant wird der Aspekt des Konstruierten jedoch für Jugendliche, und hierbei vor allem für jüngere und diejenigen, die noch keine eigenen partnerschaftlichen sexuellen Erfahrungen sammeln konnten, mit Blick auf ihre eigenen Unsicherheiten und Ängste beim Rezipieren von Pornografie. Das betrifft sowohl die dargestellten Körper (die im Mainstream in der Regel sehr ähnliche Erscheinungsformen und Merkmale haben) als auch die körperlichen Fähigkeiten der Darstellenden (wie Flexibilität, Potenz oder scheinbar grenzenlosen/ ekstatischen Genuss an sexuellen Handlungen). Hier können (zu) hohe Anforderungen an (möglicherweise erste) sexuelle Erfahrungen mit anderen Menschen entstehen, die bei Erleben einer anderen Realität zu Enttäuschung, Geringschätzung und enormer Verunsicherung führen können. Es lohnt sich also auch, Denkanstöße zu setzen, welche eigenen Erwartungen an sich selbst und SexualpartnerInnen denn vorhanden und realistisch sind. Medienpädagogischer Ansatz Anknüpfend an die Inszenierung von Geschlechterrollen der Darstellenden und der oft klar transportierten Vorstellung, was ‚männlich‘ (dominant und potent) und ‚weiblich‘ (unterwürfig und willig) sei, ist es spannend, in Austausch zu kommen, wie diese Zuschreibungen medial dargestellt, szenisch umgesetzt und transportiert werden, also woran Konsumierende dies erkennen sollen. Grundsätzlich lässt sich der Realitätsbezug auch hier sehr gut, gleichwohl mit anderem Ansatz, thematisieren. Medienpädagogisch gedacht spielen dazu filmtheoretische Ansätze und Aspekte eine entscheidende Rolle. Während ‚porn studies‘ dieses Themenfeld wissenschaftlich und sehr intensiv analysieren, eignen sich für die Arbeit mit Jugendlichen schon Fragen wie ‚warum sind Clips wohl bestimmt beleuchtet oder arrangiert‘ beziehungsweise ‚handelt es sich in der Szene um eine übliche Menge an Sperma oder ist das nicht eher künstlich? ‘, wodurch sich gut ein Bezug zur Klarstellung eignet, dass es sich eher um (mehr oder weniger professionelle) Darstellende handelt, die in gescripteten Szenen miteinander körperlich agieren, denn um einen Ausschnitt der Realität (auch wenn große Unternehmen der Branche dies mit ihrem Namen gerne suggerieren möchten). Einen schönen Vergleich zwischen pornografischen Videos und Reality-TV findet man bei Gerner: „In beiden Formaten werde Authentizität vorgegaukelt, obwohl alles inszeniert sei. Der Zuschauer gebe sich dieser Illusion gern hin. Er akzeptiere den Betrug, um sich unterhalten oder erregen zu lassen“ (Gernert 2010, 160). Anschließend wäre unter anderem zu hinterfragen, wieso Settings derart durchdacht und geplant künstlich arrangiert werden, wobei der kommerzielle Aspekt der Pornobranche ein einbringbares Thema wäre. Dazu passend kann man zu überlegen geben, weshalb es legale kostenlose Angebote professionell produzierter Filme geben kann und was deren Intention sein mag. Ergänzend dazu ist es auch die Aufgabe medienpädagogischer Begleitung, über juristisch relevante Fakten aufzuklären. Dies umfasst die Tatsache, dass Pornografie erst ab 18 Jahren legal zugänglich gemacht werden darf (was sich großartig mit einer Diskussion zur Frage verbinden lässt, ob die Begründung der Gesetzgebung dazu nachvollziehbar ist oder warum dennoch so viele Onlineportale existieren), sowie einer klaren Einordnung illegaler Pornografie. Besonders bei Jugendlichen (und noch intensiver bei denjenigen, die erst vor Kurzem juristisch jugendlich, also 14 Jahre alt, wurden 119 uj 3 | 2023 Medienkompetenz oder sexuelle Bildung? und sich möglicherweise noch in Beziehungen mit unter 14-jährigen Personen befinden) scheint es unerlässlich zu sein, darauf hinzuweisen, dass Darstellungen von unter 14-jährigen Personen als ‚kinderpornografisch‘ eingestuft werden und damit rechtlich anders geahndet werden, sowie was unter ‚Jugendpornografie‘ zu verstehen und wie diese einzuordnen ist (hervorzuheben bspw. § 184 c (4) StGB). Zusammenfassung und Ausblick Das sich eröffnende Aufgabenfeld wirkt gleichermaßen spannend und vielseitig, aber auch fordernd und komplex. Ein Arbeitsansatz, der sich aus Methoden und Ansätzen mehrerer Teildisziplinen bedient, kann sich dabei als hilfreich erweisen, da eine Vielzahl an Blickwinkeln eingenommen werden kann sowie ein Konglomerat von Themen gegeben ist. Individuell betrachtet kann sich von einer distanzierten und eher unpersönlichen Thematisierung genähert, alternativ sehr persönlich und biografisch gearbeitet werden. Der Ansatz einer ‚Pornografiekompetenz‘ sei an dieser Stelle als sehr spannend und erfolgversprechend erwähnt und kann u. a. bei Döring nachgelesen werden, die davon spricht, dass KonsumentInnen „in der Lage sein [sollen], mit pornographischen Medienangeboten als selbstwie sozialverantwortlich handelnder Mensch zielgerichtet erfolgreich umzugehen“ (Döring 2011, 235). Valide Studien, die negative Auswirkungen auf die (sexuelle) Entwicklung Jugendlicher aufgrund Pornografiekonsums nachweisen können, liegen nicht vor und auch von einer sexuellen Verrohung kann, zumindest fundiert argumentiert, nicht gesprochen werden (wie u. a. die bereits zitierte Studie der BzGA nahelegt). Das bedeutet allerdings weder einen Freifahrtschein für Jugendliche zur Rezeption pornografischer Inhalte noch eine Unbedenklichkeitserklärung. Was es allerdings bedeutet, ist die Forderung nach einer gelassenen und offenen Begleitung Kinder und Jugendlicher, die, gewollt oder ungewollt, mit pornografischen Inhalten in Kontakt kommen. Es bedeutet, sich bewusst zu machen, dass das Interesse an Sexualität, der verbildlichten Darstellung dessen, was man dazu gehört und gelesen hat, sowie dem Drang, ‚dazu‘ zu gehören und mitsprechen zu können, normale Bedarfe und Themen jugendlicher Entwicklung sind. Es bedeutet, dass (Kinder und) Jugendliche auch bei diesen Inhalten und Aufgaben Unterstützung und Hilfestellung benötigen, um sich entwickeln zu können. Und vor allem bedeutet es, sich eine klare Haltung zu erarbeiten, die sexuelle Selbstbestimmtheit Jugendlicher ermöglicht und ein berechtigtes Interesse dieser an Pornografie nicht als grundlegend böse und gefährlich einstuft. Einen weiteren Blickwinkel eröffnet die Sichtweise, ob es sich bei Bearbeitung des Themas Pornografie nicht auch um (gesellschaftliche) Bildungsarbeit handelt, wenn man berücksichtigt, dass sich Strukturen der modernen Gesellschaft und die gesellschaftliche Ordnung des Sexuellen in pornografischen Erzeugnissen widerspiegeln (vgl. Lewandowski 2012, 176f ). Mit Blick auf die eigene Expertise, Haltung und damit die Eignung, auch diesen Bildungsprozess (pädagogisch versiert) begleiten zu können, bleibt noch die Frage stehen: Wann haben Sie sich das letzte Mal (bewusst) einen Porno angesehen? Denn „[w]enn Pornographie verdammt wird, dann werden auch jugendliche Motive der Zuwendung zu Pornographie entwertet. Neugier, Erkenntnisdrang, Lernlust, Spaß, Erfahrungssammlung, Bewertungsübung, vor allem aber sexuelle Lust und sexuelle Befriedigung Jugendlicher werden ins sittliche Abseits gestellt“ (Starke 2010, 180). Christian Grüner Am Jurablick 36 95512 Neudrossenfeld 120 uj 3 | 2023 Medienkompetenz oder sexuelle Bildung? Literatur Bayerisches Landeskriminalamt (2021): Pornografie. In: https: / / www.polizei.bayern.de/ kriminalitaet/ inter netkriminalitaet/ straftaten-im-netz/ 002400/ index. html, 8. 8. 2022 Brueggen, N. (2022): Post-digitale Lebenswelten Jugendlicher und Jugendarbeit. Interview mit Viktoria Flasche. merz. Zeitschrift für Medienpädagogik 66, 23 - 31 Bundesministerium der Justiz (o. D.): Strafgesetzbuch (StGB) § 184 Verbreitung pornographischer Inhalte. In: https: / / www.gesetze-im-internet.de/ stgb/ __184. html, 12. 12. 2022 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2020): Neunte Welle der BZgA-Studie„Jugendsexualität“. Bundesweite Repräsentativbefragung - Zentrale Studienergebnisse. Köln. In: https: / / www.bzga.de/ fileadmin/ user_upload/ PDF/ pressemitteilungen/ daten_und_fakten/ Infoblatt_Jugendsexualitaet_ Neunte_Welle_barrierefrei.pdf, 8. 8. 2022 Dannecker, M. 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