unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art20d
41
2023
754
Kindesobhutnahme - ein aktueller Überblick über die Situation in der Schweiz
41
2023
Werner Tschan
Die wissenschaftliche Datenlage zu Kindesobhutnahme und die Folgen in Bezug auf die soziale Nachhaltigkeit derartiger Entscheide fehlen in der Schweiz weitgehend. Fehlentscheide haben gravierende Konsequenzen für Betroffene. Der Beitrag beleuchtet vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung die aktuelle Situation in der Schweiz.
4_075_2023_4_0003
142 unsere jugend, 75. Jg., S. 142 - 156 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art20d © Ernst Reinhardt Verlag Kindesobhutnahme - ein aktueller Überblick über die Situation in der Schweiz Die wissenschaftliche Datenlage zu Kindesobhutnahme und die Folgen in Bezug auf die soziale Nachhaltigkeit derartiger Entscheide fehlen in der Schweiz weitgehend. Fehlentscheide haben gravierende Konsequenzen für Betroffene. Der Beitrag beleuchtet vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung die aktuelle Situation in der Schweiz. von Dr. med. Werner Tschan Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in eigener Praxis, Master in Applied Ethics, CAS in der Behandlung von SexualdelinquentInnen. Neben der Praxistätigkeit als Dozent und Berater im Hinblick auf Gewaltprävention und Implementierung von Schutzkonzepten tätig. Zahlreiche Publikationen und Beiträge. Eine Kindesobhutnahme resp. Fremdplatzierung erfolgt in der löblichen Absicht, dass es dem Kind am neuen Ort, wo es dann hinkommt, besser geht (vgl. Tschan im Druck). Zuständig für derartige Entscheide ist in der Schweiz seit 2013 die KESB (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde), früher als Vormundschaftsbehörde bezeichnet. Als Folge der föderalistischen Struktur ist die KESB in den einzelnen 26 Kantonen als gerichtliche Behörde oder als Verwaltungsbehörde organisiert. Im Grundsatz sind primär die Eltern für das Wohlergehen ihrer Kinder verantwortlich. Dazu haben Eltern Pflichten und Rechte, wie sie für die Schweiz im ZGB (Zivilgesetzbuch) festgehalten sind. Kindesschutzmaßnahmen erfolgen ausschließlich subsidiär; d. h. erst wenn die Eltern nicht in der Lage sind, für das Kindeswohl zu sorgen. Je nach Perspektive werden die Entscheide und Maßnahmen der KESB als Hilfe oder als Eingriff des Staates in persönliche Freiheitsrechte verstanden. Das Einschreiten der KESB hat grundsätzlich so schwach wie möglich zu erfolgen, aber gleichzeitig so stark wie erforderlich. Diese Ambivalenz führt naturgemäß zu dauernden Kontroversen. Am deutlichsten zeigt sich dies bei der einschneidendsten Maßnahme, welche die KESB anordnen kann: dem Obhutsentzug. Diese Maßnahme ist neben dem Sorgerechtsentzug das letzte und härteste Mittel des Staates, die grundlegenden Bedürfnisse eines Kindes sicherzustellen. Ein Obhutsentzug erfolgt erst bei massiver Kindeswohlgefährdung und der Wirkungslosigkeit anderer, weniger gravierenden Maßnahmen. Es muss ein derart schwerwiegendes elterliches Fehlverhalten vorliegen: „[…] dass im Falle eines Verbleibs des Kindes bei seinen Eltern dessen körperliches, geistiges oder seelisches Wohl nachhaltig gefährdet ist“ (Tewes 2016, 19). Den Eltern muss im Falle eines Obhutsentzuges entweder ein schwerwiegendes Versagen nachgewiesen werden oder die Kinder drohen zu verwahrlosen. 143 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz Die KESB wird aufgrund einer Gefährdungsmeldung aktiv. Ist das Kindeswohl in Gefahr, kann jedermann eine Gefährdungsmeldung an die KESB erstatten. Die KESB kann/ muss geeignete Maßnahmen zum Schutz oder zur Wiederherstellung des Kindeswohls ergreifen. Die einzelnen KESB-Stellen stellen via ihre Internetseiten ein Formular „Gefährdungsmeldung“ zur Verfügung. Die Meldung an die KESB kann auch mündlich erfolgen. Zuständig ist die KESB des Wohnortes der gefährdeten Person; bei Gefahr im Verzug handeln die Behörden am momentanen Aufenthaltsort des Kindes. Seit 2019 bestehen in der Schweiz im Rahmen des Kinderschutzes folgende Meldepflichten: „Art. 314 d Meldepflichten 1 Folgende Personen, soweit sie nicht dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen, sind zur Meldung verpflichtet, wenn konkrete Hinweise dafür bestehen, dass die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität eines Kindes gefährdet ist und sie der Gefährdung nicht im Rahmen ihrer Tätigkeit Abhilfe schaffen können: 1. Fachpersonen aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Pflege, Betreuung, Erziehung, Bildung, Sozialberatung, Religion und Sport, die beruflich regelmässig Kontakt zu Kindern haben; 2. wer in amtlicher Tätigkeit von einem solchen Fall erfährt. 2 Die Meldepflicht erfüllt auch, wer die Meldung an die vorgesetzte Person richtet. 3 Die Kantone können weitere Meldepflichten vorsehen“ (Art. 314 d ZGB). Wer eine Meldung macht, muss den Sachverhalt nicht beweisen. Abklärung und Untersuchung ist Aufgabe der KESB. Die KESB ist verpflichtet, eine Gefährdung abzuklären. Die Abklärungen erfolgen in der Regel über die Sozialdienste der Gemeinden oder können durch Dritte ausgeführt werden. Gemäß Rechtsprechung des Schw. Bundesgerichtes sind Kinder in Dingen, die sie betreffen, grundsätzlich ab dem sechsten Lebensjahr anzuhören. Die KESB entscheidet, welche Maßnahmen zum Schutz des Kindes ergriffen werden (siehe ZGB § 307ff ). Grundsätzlich können folgende Formen von Kindeswohlgefährdung unterschieden werden: ➤ Emotionale und körperliche Vernachlässigung ➤ Körperliche, emotionale und sexualisierte Gewalt ➤ Gefährdung als Folge von Elternkonflikten ➤ Gefährdung als Folge von religiösen oder weltanschaulichen Gesichtspunkten innerhalb des Familiensystems ➤ Gefährdung als Folge unsachgemäßer Entscheide von Behörden (KESB, Familiengerichte etc.) Nach heutigem Recht liegt eine Kindeswohlgefährdung vor, wenn das körperliche, geistige und seelische Wohl eines Kindes durch das Tun oder Unterlassen der Eltern oder Dritter gravierende Beeinträchtigungen erleidet, die dauerhafte oder zeitweilige Schädigungen in der Entwicklung des Kindes zur Folge haben oder haben können. Bei einer Gefährdung muss die Beeinträchtigung, die das Kind erleidet, erheblich sein und die Kindeswohlgefährdung muss in Relation zur biografischen zeitlichen Dimension beurteilt werden. Das Kindeswohl bezieht sich auf die gegenwärtige, vergangene und auf die zukünftige Lebenserfahrung und -gestaltung eines Kindes. Der Begriff des Kindeswohls ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der maßgeblich durch internationale Entwicklungen und Einflüsse geprägt wird - hier ist in erster Linie die UN-Kinderrechtskonvention zu nennen, die am 20. November 1989 durch die Generalversammlung angenommen und durch die Schweiz am 24. Februar 1997 ratifiziert wurde. Allgemein wird bemängelt, 144 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz dass die Umsetzung der Kinderrechtskonvention in der Schweiz lückenhaft ist. Hier zeigt sich auch deutlich die Grenze des demokratischen Staates, wo trotz der historischen Erfahrungen mit dem Unrecht in Zusammenhang mit dem Verding- und Heimkinderwesen oft erst nach längeren Entwicklungen die erforderlichen Mehrheitsentscheide zustande kommen. Der Obhutsentzug und die Fremdplatzierung von Kindern erfolgt in vielen Fällen auf höchst traumatische Art und Weise. Regelmäßig kommen unmenschliche und erniedrigende Praktiken zur Anwendung, wo Kinder mit staatlich legitimierter Gewalt, nicht selten gestützt auf unhaltbare Vermutungen und Auffassungen, von ihren Müttern getrennt werden. Dabei werden oft Grundsätze von Rechtsstaatlichkeit verletzt, weil die Kinder nicht angehört werden. Meist sind Polizeieinsatzkräfte, Kinderschutzbehörden und Sozialdienste am Schauplatz der Kindswegnahme zugegen - die verängstigten Kinder weinen, schreien, klammern sich verzweifelt an ihre Mütter. Sie werden gegen ihren Willen, meist unter Anwendung von Gewalt, von ihren Müttern getrennt und an einen fremden, ihnen unvertrauten Ort verbracht. Der finanzielle Aufwand ist erheblich: der Aufenthalt eines Kindes in Auffangeinrichtungen kostet täglich 200 bis 400 Schweizer Franken. Und etwas Weiteres gilt es zu bedenken: „Gerichte können aus einer dysfunktionalen Familienstruktur keine funktionale machen. Das ist ein Ideal, das nicht erfüllbar ist“ (Eberstaller et al. 2022). Eine sachliche und unpolemische Auseinandersetzung mit den Fakten ist heikel und wird durch Lobbyorganisationen wie „Väterrechtler“ erheblich erschwert (vgl. Jean 2020). Da es sich bei Obhutsentzügen um hoheitsrechtliche Angelegenheiten handelt, muss staatliches Handeln hinterfragt werden - Interessenskonflikte sind folglich unvermeidbar. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung über die Hintergründe von Fehlentscheiden ist deshalb dringend erforderlich. Weiter ist zu untersuchen, wie die Unterstützung für betroffene Kinder ausgestaltet wird, die von Fremdplatzierungen aus berechtigten Gründen betroffen sind. Die Fremdunterbringung erfolgt in Kindernotunterkünften, in Heimen oder in Wohngruppen, in Pflegefamilien oder in betreuten Wohnformen. Bei Sorgerechtsstreitereien stellt die Obhutszuteilung an den anderen Elternteil ein häufiges Szenario dar - oft steht dabei der Vorwurf der Kindsmisshandlung und/ oder des sexualisierten Übergriffs im Raum, der Grund, weshalb es überhaupt zur Trennung und in der Folge zu familienrechtlichen Auseinandersetzungen kommt. Die Verzweiflung ist mit Händen zu greifen, wenn derjenige Elternteil, der das Kind vor Übergriffen schützen möchte, mitansehen muss, wie das Kind gestützt auf Behördenentscheide in die alleinige Obhut des Beschuldigten übergeben wird. Aufhorchen lassen die Untersuchungen einer Kommission in Frankreich (CIIVISE), die sich dieser Thematik kürzlich angenommen hat. Anstatt so zu tun, als würden alle Behördenentscheide zur Verbesserung des Kindeswohls beitragen, müssen wir uns mit der für viele tragischen und traumatischen Realität von Fremdplatzierungen und deren Folgen auseinandersetzen. Alles andere wäre Vogel-Strauß-Politik. Die langfristigen Wirkungen von Fremdplatzierungen sind unter dem Aspekt der sozialen Nachhaltigkeit zu beurteilen. Die zentrale Fragestellung ist dabei: was will die Gesellschaft mit einer derartigen Maßnahme erreichen? Grundsätzlich besteht diesbezüglich eine Einigkeit insofern, dass Kinder und Jugendliche, auch wenn sie von Fremdplatzierung betroffen sind, im Vergleich mit denjenigen, die nicht von einer derart einschneidenden Maßnahme betroffen sind, gut aufwachsen sollen. Welche Vorstellungen, Erwartungen und Haltungen haben Fachkräfte in Bezug auf die individuelle und soziale Nachhaltigkeit derartiger Fremdplatzierungen? Wie wirken sich die unweigerlich mit einer 145 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz Fremdplatzierung verbundenen Traumatisierungen auf das spätere Leben aus? Wie steht es mit der Rechtsstaatlichkeit der jeweiligen Interventionen? Die wissenschaftliche Aufarbeitung muss sich mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Wie entstehen Fehlentscheide und wie wären sie zu vermeiden? Wie lassen sich Instrumentalisierungen erkennen? Was können eine Fehler- und Erinnerungskultur in Zusammenhang mit Fremdplatzierungen bewirken? Bei familienrechtlichen Auseinandersetzungen müssen für die betroffenen Kinder Lösungen gefunden werden, die sich primär am Kindeswohl orientieren und welche zusätzliche Beeinträchtigungen der Kinder auf ein Minimum beschränken. „Kinder dürfen im Streit vor Gericht nicht zum blossen Verfahrensobjekt degradiert werden, um das gestritten wird. Sie haben ein Recht darauf, dass ihre eigenen Interessen als Subjekte im Verfahren gewahrt bleiben“ (Tewes 2016, 39). Das deutsche Verfassungsgericht hat zudem in einem Entscheid klar gemacht, „[…] dass es in Kindschaftssachen nicht um die Herstellung einer vermeintlichen Gerechtigkeit oder um die Sanktionierung des etwaigen Fehlverhaltens eines Elternteils gehen darf, sondern ausschliesslich um die Herbeiführung einer kindeswohlorientierten Entscheidung“ (BVerfG 2012, zit. in Tewes 2016, 17). Die soziale Nachhaltigkeit von Fremdplatzierung verdient vermehrte Beachtung. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zeigen sich in den Gesetzen, sozialen Normen, Werten und der Einstellung zu Fremdplatzierung. Welche Mittel werden für Kindesschutzmaßnahmen zur Verfügung gestellt? Wie wird die Aus- und Weiterbildung von Fachleuten, die mit solchen Fragen zu tun haben, gestaltet und umgesetzt? Welche Theorien und Hypothesen bestimmen das Handeln der Fachkräfte? Wie wird die Partizipation von betroffenen Kindern und Jugendlichen sichergestellt? Historische Bezüge Das Thema Fremdplatzierung berührt einen in der Schweiz: „Wenn man im Bekanntenkreis das Thema fremdplazierter Kinder anspricht, so fällt auf, wie viele von einem Vater, einer Grossmutter, einer Tante oder einem Grossonkel zu berichten wissen, die als Kinder in fremden Familien aufgewachsen sind. Dies ist kein Wunder, lebte doch im Jahr 1910 schätzungsweise jedes 25. Kind in einer fremden Familie und konnte - aus welchen Gründen auch immer - nicht bei seinen leiblichen Eltern aufwachsen“ (Häsler 2009). Verständlich, dass man am liebsten Augen und Ohren vor diesem Thema verschließen möchte. Niemand kümmerte sich um diese Kinder - deshalb der Begriff „Niemandskinder“. Die vielen und zahlreichen Missstände im Umgang mit diesen Fremdplatzierungen wurden bis heute erst in Ansätzen aufgearbeitet. Es ist ein schmerzliches, trauriges und düsteres Kapitel der schweizerischen Sozialgeschichte. In der Schweiz sind aktuell jährlich über 12.000 Kinder durch Trennung oder Scheidung ihrer Eltern betroffen (2020: 12.687 Kinder). In rund 95% aller Fälle finden Eltern einvernehmliche Lösungen zum Sorgerecht und dem Umgang mit den Kindern. Bei 500 bis 700 Kindern kommt es gemäß der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz zu problematischen Verläufen und anhaltenden Elternkonflikten. Familiengerichte und Kinderschutzbehörden tendieren in solchen Fällen dazu, betroffene Eltern über Jahre hinweg über Obhuts- und Besuchsrechtsfragen prozessieren zu lassen - was kaum mit dem Kindeswohl zu vereinbaren ist. Der Kinderarzt Remo Largo sagte dazu: „Durch ihre Passivität unterstützen Behörden und Gerichte jenen Elternteil, der mit seiner unkooperativen Strategie dem Kind schweren psychischen Schaden zufügt“ (Largo 2008). Derartige Streitereien zwischen Eltern können auch durch gerichtliche Entscheidungen nur geregelt, aber nicht gelöst werden - ein richterliches Machtwort, „dass man das Kind nun einmal in Ruhe lassen solle“, wäre manchmal hilfreich und würde die Prozessmög- 146 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz lichkeiten von streitsüchtigen Elternteilen zugunsten des Kindeswohls einschränken. Grotesk wird es jedoch, wenn Familiengerichte und Kinderschutzbehörden zur vermeintlichen Beendigung von Streitereien einen Sorgerechts- und Obhutsentzug verfügen. Die Behörden müssen nicht den elterlichen Konflikt lösen, sondern die aus dem Konflikt resultierenden Probleme für die betroffenen Kinder. Immer wieder wird in familienrechtlichen Auseinandersetzungen mit der Begründung „man wolle das Kind schützen“ durch einen Obhutsentzug das Kontaktrecht vom Kind zum anderen Elternteil unterbunden. Erfolgt dies tatsächlich zum Wohl des Kindes oder spielen vorgeschobene Gründe eine Rolle? Ist ein Kind sexualisierter Gewalt durch einen Elternteil ausgesetzt, wird man das Kind so vor weiteren Gewalttaten schützen? Erfolgt der Obhutsentzug gestützt auf nicht zutreffenden Annahmen und wird das Kind womöglich in die alleinige Obhut des übergriffigen Elternteils übergeben, wird es tragisch. Bei unklaren Situationen kann zumindest temporär ein begleitetes Besuchsrecht für den beschuldigten Elternteil angeordnet werden. Oder eine Sistierung des Besuchsrechtes bis zur Klärung - dies insbesondere bei Inzestverdacht. Damit ist sichergestellt, dass das Kind unter der Trennungssituation die Zuwendung des beschützenden Elternteils erhält. Kinder können die Gründe für die Trennung der Eltern zunächst nicht verstehen und suchen nach Erklärungen. Dies führt bei betroffenen Kindern unweigerlich zu Loyalitätskonflikten - worauf das Kind in der Folge widersprüchliche Verhaltensweisen zeigt. Viele Kinder entwickeln während familienrechtlichen Streitereien große Ängste, den verbleibenden Elternteil auch noch zu verlieren. Einerseits passt sich das Kind an und lässt gewisse Gefühle nicht mehr zu, andererseits entwickelt es Schuldgefühle im Sinne: „Ich bin schuld, dass meine Eltern sich getrennt haben“, oder es hegt unbegründete Befürchtungen wegen mangelndem Gehorsam: „Ich bin böse/ schlecht, deswegen will mich Mami/ Papi nicht mehr sehen“. Wird das Kontaktrecht des Kindes zu beiden Elternteilen bei einer Trennung oder Scheidung ohne offensichtliche Gründe über mehrere Wochen oder Monate unterbunden, resultiert beim Kind immer ein Loyalitätskonflikt. Ein Kind in einem derartigen Loyalitätskonflikt zu belassen, ist eine Form psychischer Kindesmisshandlung. Dies stellt ein passives Vergehen dar, indem dem Kind die erforderlichen Erfahrungen vorenthalten werden, die es für eine gesunde Entwicklung benötigt. Die Auswirkungen sind oft erst Jahre später festzustellen. Eine von vielen Betroffenen in der Schweiz, Mariella Mehr, hat in einem 1981 erschienenen autobiografischen Roman ihr persönliches Schicksal festgehalten (vgl. Mehr 1990). Muss ein Kind unter solchen Bedingungen vor Fachkräften aussagen, wird es überfordert. Das Kind spürt instinktiv, dass es mit seinen Aussagen den einen oder anderen Elternteil verletzen würde, und schweigt lieber. Das Kind möchte zum einen beide Elternteile ohne Zwietracht vereint wissen und zum anderen übernehmen Kinder in der Regel die Gefühle desjenigen Elternteils, der die Obhut innehat. Vielfach führen wiederholte Drohungen und Gewalthandlungen eines Elternteils zu ehelichem Streit und Zerwürfnis. Die Vorstellung einer Konflikteskalation, wo beide Elternteile ihre Verantwortung daran haben, ist in diesen Fällen irreführend. Wir haben es in derartigen Konstellationen auf der Seite der gewaltausübenden Person mit erheblichen Pathologien zu tun (vgl. Hirigoyen 2002). Persönlichkeitsstörungen sind Beziehungsstörungen - dass es manchmal Jahrzehnte dauert, bis derartige pathologische Verhaltensweisen durch Gerichte anerkannt werden, mag das Beispiel um Ghislaine Maxwell (* 25. 12. 1961) verdeutlichen. Und es verdeutlicht auch, dass Sexualdelinquenz in allen Gesellschaftsschichten vorkommt - am 28. Juni 2022 wurde Maxwell wegen Menschenhandel und Missbrauch von Minderjährigen in Tatgemeinschaft mit Jeffrey Epstein zu 20 Jahren Freiheitsstrafe und einer 147 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz Geldstrafe verurteilt. Dass auch Gerichtsverfahren nicht unbedingt die Wahrheit zu Tage fördern, zeigt sich rückblickend bei Epstein - die Intimität einer partnerschaftlichen Beziehung lässt Defizite erkennen, die tief in der Persönlichkeit verwurzelt liegen und die gegen außen schwer zu erkennen sind. Die eheliche Zerrüttung und Trennung kann Folge von derartigen Verhaltensweisen sein. Entsprechend schwierig sind solche Vorkommnisse in gerichtlichen Auseinandersetzungen nachzuweisen, wo strenge Maßstäbe an die Beweiswürdigung gelten. Letztlich bleibt es jedoch dem Richter resp. der Richterin überlassen, ob er oder sie den Aussagen von Betroffenen Glauben zu schenken bereit ist. Gewalt und Sexualdelinquenz sind häufige Delikte, auch wenn die offiziellen Statistiken etwas anderes behaupten - das illustriert beispielsweise eine Umfrage der FRA (Fundamental Rights Agency der EU) (vgl. FRA 2014). Basierend auf face-to-face-Interviews mit 42.000 Frauen kam die Untersuchung zum Schluss, dass 33 % aller Frauen in der EU-28 mit ca. 550 Mio. EinwohnerInnen körperliche und/ oder sexualisierte Gewalt, oft durch den Partner, erlebt haben. Das sind 62.000.000 betroffene Frauen. Und damit ist auch von einer entsprechenden Zahl von Tätern auszugehen. Es ist anzunehmen, dass sich diese Gewalthandlungen auf die Scheidungsverfahren auswirken - wissenschaftliche Zahlen liegen dazu allerdings keine vor. Bisher hat einzig eine Regierungskommission in Frankreich diese Zusammenhänge genauer untersucht (vgl. CIIVISE 2021) und mögliche Schlussfolgerungen gezogen. Immer wieder wird über Fälle von ungerechtfertigten Inobhutnahmen durch staatliche Instanzen berichtet. Seit 1912 waren in der Schweiz gestützt auf das Zivilgesetzbuch Kindswegnahmen wegen Verarmung, Trunksucht, lasterhaftem Lebenswandel oder bei Vernachlässigung der elterlichen Pflichten an der Tagesordnung. 1930 wurden 68.000 Kinder in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht (vgl. Wehrli 2022), oft nur deshalb, weil sie den rigiden Moralvorstellungen der damaligen Verantwortlichen nicht entsprachen. Wer der Auffassung ist, derartige Fehlentscheide gehören der Vergangenheit an, irrt sich gründlich. Als das neue Kindes- und Erwachsenenrecht 2013 in Kraft gesetzt wurde, beteuerten alle politischen Instanzen, dass damit eine Professionalisierung der KESB erreicht werde - bei der Auseinandersetzung mit aktuellen Fällen kommen einem allerdings erhebliche Zweifel. Das Ausmaß an struktureller Gewalt im modernen Rechtsstaat wird durch gutgemeinte Beteuerungen allein nicht überwunden: „Es ist darauf hinzuweisen, dass der Schutz der Grundrechte in der Schweiz lange Zeit vernachlässigt wurde, sowohl vom Gesetzgeber als auch in der Rechtsprechung“ (Galle 2016, 649). Frau Galle hat die Entscheide der Rechtsmittelinstanzen und der politischen Behörden der Schweiz in Zusammenhang mit Kindswegnahmen durch das Kinderhilfswerk Pro Juventute und dessen Stiftung „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“ untersucht - dabei zeigte sich mit aller Deutlichkeit, wie gesellschaftliche Interessen dem Kindeswohl übergeordnet wurden (vgl. Wehrli 2022). Die Problematik der Obhutsentzüge gestützt auf unhaltbare Vorgehensweisen durch Gerichte ist ein globales Problem, welches nicht nur die Schweiz betrifft. In Spanien wurde kürzlich der Mutter Diana Garcia M. das Sorgerecht für ihre sechsjährige Tochter entzogen, weil sie angeblich die Beziehung zwischen ihrer Tochter und dem Kindsvater verunmöglicht habe. Obwohl Gerichtsbeweise vorlagen, welche häusliche Gewalt des Kindsvaters sowie jahrelangen sexuellen Missbrauch der Tochter durch ihn belegten, wurde dem Vater durch das Gericht in Pozuelo de Alarcón, einem Vorort von Madrid, das alleinige Sorgerecht für die Tochter zugesprochen. Der UN-Menschenrechtsrat kritisierte den Entscheid scharf: „Despite clear guidance to the contrary in the Convention on the Rights of the Child, courts continue to determine that it is always in the child’s best interest to main- 148 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz tain contact with a parent, even when those parents are violent or abusive“ (OHCHR 2021). Der Kerngedanke der Gleichberechtigung beider Elternteile und der Grundsatz des geteilten Sorgerechts wird durch derartige Entscheide ad absurdum geführt. Völlig absurd und schräg ist ein Obhutsentzug unter den gegebenen Umständen - ein Kind ist kein teilbares Objekt. Der Grundsatz des Kindeswohls wird hier in sein Gegenteil verkehrt. „Guided by pseudo-scientific and regressive theories such as parental alienation, courts in Spain and other countries are failing to ensure children’s right to be free from violence and women’s right to non discrimination.“ (Press Releases by OHCHR, Geneva, 9. 12. 2021) Der Berner Schriftsteller und Publizist Carl Albert Loosli (1877 - 1959) war unehelich geboren und wurde mehrere Jahre in Zwangserziehungsanstalten gehalten. Er galt zeitlebens als unangepasst und widerspenstig. In seinen Schriften prangert er immer wieder Ausgrenzungen und Disziplinierung von gesellschaftlichen Außenseitern an. Seine Beiträge über die Untersuchungshaft und Anstaltswesen sind heute noch lesenswert. Loosli setzte sich u. a. auch für die Schaffung eines Jugendstrafrechts ein (vgl. Marti 2018). Er gilt - wohl bedingt durch sein Schicksal - als bedeutender Kämpfer für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Schweiz. Heute sind es regelmäßig Sorgerechtsstreitereien, die zu Fremdplatzierungen von Kindern durch Behördenentscheide führen. Der Blick auf die zurückliegenden Entwicklungen kann mithelfen, ein besseres Verständnis für die aktuelle Situation zu schaffen. Kindswegnahmen waren immer nur durch das Zusammenwirken einer arbeitsteiligen Täterschaft möglich - beispielsweise war die gesellschaftliche Akzeptanz von Pro Juventute dermaßen ausgeprägt, dass praktisch keine Kritik am Vorgehen aufkam. Der private Verein bildete die größte und einflussreichste Jugendschutzorganisation der Schweiz und wirkte als einzige landesweit tätige Gruppierung. Bis 1973 wurden 586 Kinder durch das „Hilfswerk“ ihren Eltern weggenommen und fremdplatziert (vgl. Galle 2016, 629). Dieses Beispiel illustriert, wie sich staatliche Instanzen instrumentalisieren lassen, wie elementarste Grundrechte durch Entzug von Rechtsmitteln ausgehebelt wurden und wie die Betroffenen rechtlos im Rechtsstaat waren und es mitunter immer noch sind. Die Erfahrungen der Vergangenheit verdeutlichen, dass „Professionalisierung der Behörden Stigmatisierungen und Diskriminierungen nicht automatisch vorbeugen“ (Galle 2016, 636) und dass die in zurückliegenden Zeiten erfolgten Maßnahmen die weitgehende Zustimmung und Unterstützung von Fachleuten erhielten. Der für die Pro Juventute als Haupttäter bekannt gewordene Alfred Siegfried „zählte zu den namhaften Fürsorgeexperten“ (Galle 2016, 636). Siegfried (15. 2. 1890 - 27. 3. 1972) war Lehrer und gründete das Hilfswerk für die Kinder der Landstraße. Er war unter anderem am Humanistischen Gymnasium Basel tätig, bis er 1924 wegen pädosexuellen Übergriffen an einem Schüler verurteilt und entlassen wurde. Sara Galle hält in ihren Untersuchungen fest, dass potenzielle SexualdelinquentInnen oft eine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen suchen - als Nachfolger von Siegfried wurde der Lehrer Peter Doebeli in die Stiftung Pro Juventute berufen - Doebeli wurde 1963 wegen mehrfachem und wiederholtem sexuellen Missbrauch und wegen Vergewaltigung von minderjährigen Schutzbefohlenen schuldig gesprochen (vgl. Galle 2016, 632). In das gleiche Bild passt der als „Lehrer der Nation“ bekanntgewordene pädokriminelle Täter Jürg Jegge, der im Frühjahr 2017 nach der Veröffentlichung eines Buches seines ehemaligen Schülers Markus Zangger seine Delinquenz öffentlich zugab (vgl. Zangger 2017). Das Erfolgswerk von Jegge „Dummheit ist lernbar“ wurde im deutschen Sprachraum mit über 200.000 ver- 149 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz kauften Exemplaren zu einem Bestseller. Jegge gründete 1985 die Stiftung Märtplatz, eine nach reformpädagogischen Grundsätzen ausgerichtete berufliche Eingliederungsstätte für Jugendliche mit „Startschwierigkeiten“. Gerade in Zusammenhang mit dem Vorwurf von sexualisierten Übergriffen erfolgen regelmäßig Sorgerechts- und Obhutsentzüge - gewisse Fachleute stellen das Ganze als ein PAS (Parental Alienation Syndrom, resp. elterliches Entfremdungssyndrom) dar, dabei würden scheidungswillige Mütter ihre Kinder manipulieren und die Kindsväter angeblich zu Unrecht der sexuellen Übergriffe an den gemeinsamen Kindern bezichtigen. Die französische Kommission „Commission Indépendente sur l’Inceste et les Violence Sexuelles faites aux Enfants“ hat dazu neue Erkenntnisse vorgelegt, die einen Paradigmenwechsel einleiten. Inzwischen wurde PAS als pseudowissenschaftliches Konstrukt durch mehrere Staaten resp. Gerichtsbehörden in familienrechtlichen Auseinandersetzungen als obsolet erklärt. Die Schweiz wurde durch die UN-Kommission für die Rechte des Kindes (Committee on the Rights of the Child) mit Schreiben vom 27. September 2021 aufgefordert, dass das Kindeswohl in der Schweizer Verfassung, in den Gesetzen und im staatlichen Handeln besser zu berücksichtigen sei. Der Fall „Flaach ZH“ Der Fall „Flaach ZH“ führte 2015 in der Schweiz zu einer bis heute anhaltenden Diskussion über die Arbeit der KESB sowie die Arbeit des Justizvollzugs. Mit dem Suizid der Kindsmutter am 8. August 2015 in ihrer Zelle in der JVA erreichte die öffentliche Diskussion ihren Höhepunkt. Am 1. Januar 2015 tötete die damals 27-jährige Natalie K. ihren fünfjährigen Nicolas und die zweijährige Alessia in ihrem Haus in Flaach. Sie hätte auf Anordnung der KESB in den darauffolgenden Tagen die beiden Kinder ins Heim zurückbringen müssen. Gestützt auf eine Gefährdungsmeldung war den Eltern die Obhut über ihre Kinder entzogen worden. Die Eltern der Mutter erhoben schwere Vorwürfe gegen die Behörden und insbesondere gegen die Justizdirektorin: „Als wir die Kinder ins Heim zurückbringen mussten, hörten wir ihr Weinen bis nach draussen. Es war schrecklich. […] Unsere Tochter und unsere Enkel könnten noch leben“ (Gnos 2016). Die Schweizer Schriftstellerin Zoë Jenny hat ein Buch über diese tragische Geschichte herausgegeben: „Natalie K. Meine Geschichte beginnt in einem wunderbaren Dorf“ (Jenny 2017). Sie veröffentlichte mit diesem Werk die persönlichen Aufzeichnungen der Kindsmutter, welche diese in der JVA verfasst hatte, bevor sie sich durch Strangulation das Leben nahm. Rolle der KESB Die Kontaktregelungen bei hochstrittigen Familienangelegenheiten bringen alle beteiligten Instanzen rasch an ihre Grenzen. In solchen Fällen müssen Behörden und Gerichte ihre rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen: „Der Kontakt des Kindes zu beiden Elternteilen ist insbesondere nach einer Trennung der Eltern von zentraler Bedeutung für dessen Entwicklung“ (Wider/ Pfister-Wiederkehr 2018, 345; BGE 130 III 585 E. 2.2.2). Aber aufgepasst: Besuchsrechtskonflikte lassen sich kaum nur mit juristischen und administrativen Maßnahmen regeln, vielmehr erfordern sie Geschick und Fingerspitzengefühl in der Begleitung und Beratung durch die involvierten Fachpersonen. Diesbezüglich muss man sich manchmal fragen, ob hier die geeigneten Leute im Einsatz stehen. Orientiert sich die geforderte Professionalisierung der KESB einzig an formalen Kriterien, wird die persönliche Befähigung übersehen. Leider muss oft festgestellt werden, dass das 150 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz Profil der für die KESB und die Gerichte tätigen Fachpersonen nicht erfüllt wird, welches für eine erfolgreiche Tätigkeit bei familienrechtlichen Angelegenheiten, insbesondere bei hochstrittigen Ausgangslagen, erforderlich ist. Patentrezepte gibt es nicht - hier können persönliche Erfahrung und Lebensweisheit manchmal zielführend sein. Ein stures Festhalten an rechtlichen Grundsätzen nach Art. 273 - 275 a Zivilgesetzbuch kann zum Scheitern beitragen. Hier gilt es auch in den gerichtlichen Anordnungen den Ermessensspielraum im Hinblick auf das Kindeswohl auszuschöpfen. Die Umgestaltung müssen die Eltern zusammen mit den Kindern leisten. Um Kinder vor einem übergriffigen Elternteil zu schützen, müssen KESB und Gericht die nötigen Maßnahmen ergreifen. Das erforderliche Instrumentarium steht den Behörden zur Verfügung. Oft fehlen jedoch elementare Kenntnisse über Persönlichkeitsstörungen, Täterstrategien und deren manipulative Vorgehensweise (vgl. Hirigoyen 2002; Jean 2020). Partizipation von Kindern Das internationale Recht postuliert die Partizipation von Kindern in allen sie betreffenden Belangen. Maßgebend ist diesbezüglich Art. 12 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei äußern zu dürfen, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ Es ist leider trotz aller gegenteiligen Beteuerungen immer noch an der Tagesordnung, dass Erwachsene über die Köpfe der Kinder hinweg Entscheide fällen - Kinder sind jedoch nicht einfach „BefehlsempfängerInnen“, sondern eigene Rechtssubjekte. Im Blick auf soziale Nachhaltigkeit wird durch Einbeziehung der Kinder ihre Entwicklung nachhaltig geprägt: „Es wirkt sich positiv auf das gesamte Leben von Kindern aus, wenn sie bereits früh erleben, dass ihre Meinung wertgeschätzt und bei Entscheidungen berücksichtigt wird. Kinder, die sich ihrer Rechte bewusst sind und diese einfordern, sind eher vor Missbrauch geschützt und verfügen über ein höheres Mass an Selbstwirksamkeitserwartung und Resilienz“ (Rosenkötter 2019, 36). Der persönliche Verkehr Im Zivilgesetzbuch (ZGB) ist der persönliche Verkehr zwischen Eltern und Kindern in fünf Artikeln geregelt. Eltern und Kinder haben ein gegenseitiges Anrecht auf persönlichen Verkehr. Aus der Sicht des Kindes ist dies ein Recht auf regelmäßige persönliche Kontakte zu beiden Eltern, inkl. Brief- und Telefonkontakte, sowie Informations- und Auskunftsrechte. Gemäß ZGB Art. 274 Abs. 2 können diese Rechte durch Beschluss der KESB resp. der Gerichte eingeschränkt resp. entzogen werden. Der persönliche Kontakt soll angemessen sein. Die Ausgestaltung kann bei Hochkonfliktfamilien anspruchsvoll sein. Wiederum prioritär ist das Kindeswohl maßgebend - elterliche Interessen haben dahinter zurückzustehen. Die Empfehlungen der französische Kommission CIIVISE bei Verdacht auf Inzest, die Besuchsregelungen für die Dauer der Ermittlungen auszusetzen, wurden bisher in der Schweiz kaum beachtet: „Das elterliche Sorgerecht und das Besuchsrecht werden bei Anzeigen wegen Inzest dem angeschuldigten Elternteil entzogen“ (CIIVISE 2021). Die Angemessenheit der Besuchsregelung muss jeweils aus der Sicht des Kindes beurteilt werden. „Die Qualität der Begegnungen ist bedeutsamer als ihre Quantität“ (Wider/ Pfister-Wiederkehr 2018, 349). Damit ergibt sich ein erheblicher Ermessensspielraum in der Begleitung von betroffenen Kindern und ihrer Eltern. 151 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz Fehlentscheide Fehlentscheide der Behörden beruhen vielfach auf strukturellen Defiziten. Fehlen beispielsweise die finanziellen Mittel, können Stellen nicht adäquat besetzt werden. Die Arbeitsbelastung der einzelnen MitarbeiterInnen wird in der Folge zu hoch. Dass darunter die Betreuungsqualität leidet, ist nachvollziehbar. Ein besonderes Problem ist die Erreichbarkeit der KESB-MitarbeiterInnen in Krisensituationen - die sich bekanntlich nicht nur zu Bürozeiten ereignen. Das dürfte auch im erwähnten Fall „Flaach“ eine wichtige Rolle gespielt haben. Häufig fehlen den Fachkräften elementare Kenntnisse über Psychopathologie, Konflikteskalation, Strategien von TäterInnen und manipulative Vorgehensweisen. Den Kindern wird nicht geglaubt, ihre Aussagen werden angezweifelt. Dabei wäre es zentrale Aufgabe der KESB, Kinder zu schützen. Regelmäßig kann man feststellen, dass es den MitarbeiterInnen der KESB resp. den Familiengerichten nicht gelingt, das Leiden der von Fremdplatzierung betroffenen Kinder und Elternteile wahrzunehmen. Die Ohnmacht ist mit Händen zu greifen, wenn diejenigen Instanzen, die das Kindeswohl sicherstellen sollen, dazu nicht in der Lage sind. Es geht hier nicht darum, die Arbeit der KESB und der Familiengerichte schlecht zu reden, sondern Betroffenen bei Fehlentscheiden behilflich zu sein, die Verantwortlichen zu einem Überdenken ihrer Handlungsweisen zu bringen und das Kindeswohl ins Zentrum ihrer Bemühungen zu stellen. Bedeutung der Gutachten in familienrechtlichen Angelegenheiten Die KESB und die Gerichte können bei familienrechtlichen Auseinandersetzungen Gutachten in Auftrag geben. Familienrechtspsychologische Gutachten sind Aufträge an Sachverständige, die eine Verschränkung von wissenschaftlichen Anforderungen und praxiserprobten Vorgehensweisen erfordern und die den allgemeinen Gütekriterien von Objektivität, Validität, Reliabilität und Replizierbarkeit zu entsprechen haben. Derartige Gutachten behandeln stets einen Einzelfall. Für zahlreiche Fachleute stellen Begutachtungen ein lukratives Geschäftsmodell dar, welches ihnen eine gesicherte Existenz gewährleistet - inzwischen hat sich eine regelrechte Gutachter-Industrie herausgebildet. Rechnet man für ein Gutachten im familienrechtlichen Verfahren mit Durchschnittskosten von 6.000 bis 12.000 Franken, so kann man leicht die ökonomische Bedeutung erahnen (vgl. Tschan im Druck). Die Sachverständigen müssen in erster Linie zu Besuchsrechtsregelungen, zur Frage der Zuteilung der Obhut sowie zu Fragen im Zusammenhang mit erkennbaren Gefährdungen des Kindeswohl (schwerwiegende psychiatrische Krankheiten eines oder beider Elternteile, Substanzmittel-Missbrauch, (Verdacht auf ) Misshandlungen, sexualisierte Gewaltdelikte und/ oder Vernachlässigung resp. Verwahrlosung der Kinder) Stellung beziehen und kindeswohlgerechte Lösungen empfehlen, die das Gericht dann anordnen kann. Die Sachverständigen greifen in ihren Vorgehensweisen und Empfehlungen auf ihren persönlichen Ausbildungs- und Erfahrungshintergrund zurück - verbindliche Standards fehlen. Die Beurteilung der Qualität solcher Gutachten durch die auftraggebenden Gerichte ist angesichts nicht vorhandener Richtlinien erheblich erschwert - die Qualitätsbeurteilung obliegt den auftraggebenden Gerichten, was jeweils heikle Fragen der richterlichen Unabhängigkeit aufwirft. Meistens sind die Gerichte nur in der Lage, die formalen Kriterien zu überprüfen; eine inhaltliche Qualitätskontrolle ist mangels des erforderlichen Fachwissens in der Regel nicht möglich. 152 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz Immer wieder müssen wir im Rahmen familienrechtlicher Auseinandersetzungen feststellen, dass Diagnosen über psychisches Leiden sowie Einschätzungen über die Erziehungsfähigkeit nicht mit der erforderlichen Sorgfalt erhoben werden. Einmal in den Akten, sind derartige Behauptungen kaum mehr wegzubringen und zwingen Betroffene zu oft aufwendigen Gegenbeweisen. Gerichte ziehen Sachverständige bei, wenn die Richterin resp. der Richter nicht über die besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die zur Feststellung oder Beurteilung eines Sachverhaltes erforderlich sind. Das Gericht ist in der Würdigung von Beweisen frei und entscheidet nach der aus dem gesamten Verfahren gewonnenen Überzeugung. Die RichterInnen dürfen dabei jedoch nicht allein auf ihre persönliche Intuition abstellen, sondern sie sind gehalten, sich an (objektivierenden) Denk-, Natur- und Erfahrungssätzen sowie wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren (BGE 144 IV 345 E 2.2.3.1). Das Urteil muss „die Prüfung der Beweise aufgrund objektiver, einleuchtender, nachvollziehbarer Erwägungen erkennen lassen. Die Beweiswürdigung muss intersubjektiv diskutierbar und nachvollziehbar sein“ (Schwarz 2021, 148f ). Eine Qualitätssicherung der familienrechtspsychologischen Gutachten ist somit unabdingbare Voraussetzung einer adäquaten Rechtsprechung. Behördentraumatisierung Kinder sollen geschützt und in ihrer Entwicklung gefördert werden - jede Kinderschutzmaßnahme kann zur Kindeswohlgefährdung werden, wenn sie nicht lege artis umgesetzt wird. Sich gegen hoheitsrechtliche Anordnungen wie Kinderschutzmaßnahmen zur Wehr zu setzen, ist für Betroffene problematisch und aufwendig und gleicht häufig einem Spießrutenlauf, der an den Mythos von Sisyphos erinnert. Diejenigen Behörden, die das Kind schützen wollen, liefern es buchstäblich ans Messer. Die Trennung eines Kindes von einem oder beiden Elternteilen stellt ein unfassbar traumatisches Ereignis für das Kind dar. Die involvierten Behörden und Fachkräfte tendierten und tendieren nicht selten noch heute dazu, das Ganze als etwas darzustellen, das im besten Interesse des Kindes erfolgt. Die Säuglings- und Kleinkinderforschung untersucht die Auswirkungen von Trennungen. Diese Forschung wurde durch den Österreicher René A. Spitz (1887 - 1974) maßgebend geprägt. Durch einen Forschungsauftrag an der Kinderübernahmestelle Wien 1935 nahmen seine Arbeiten ihren Anfang. Sein Fokus lag auf den Sozialbeziehungen des Kleinkindes und dem interaktionellen Geschehen mit den Bezugspersonen. Seine streng empirisch ausgerichtete Forschung zeigte die grundlegende Bedeutung der Beziehung zwischen Mutter und Kind für die körperliche und seelische Entwicklung des Kindes. Seit 1910 betrieb Wien eine Kinderübernahmestelle, wo Säuglinge, Kinder und Jugendliche nach ihrer Herausnahme aus dem Elternhaus in einer Art Quarantäne ohne Besuchsmöglichkeit platziert wurden. Dann wurde 1925 das Julius-Tandler-Familienzentrum eröffnet, das nunmehr Platz für 220 Kinder bot und welches die ältere Institution ersetzte. Von der Kinderübernahmestelle wurden die Kinder in Heime oder Pflegefamilien eingewiesen; nur in außerordentlich seltenen Fällen kamen sie in ihr Elternhaus zurück. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Kinderübernahmestelle zu einem Hauptzuträger für die Kinder-Euthanasie. Die „klinische Beobachtung“ der Kinder bestand darin, dass Ärzte, Kinderkrankenschwestern und Erzieherinnen die völlig isolierten Kinder hinter Glaswänden beobachteten und basierend darauf ihre Fachgutachten erstellten. Das erlittene Unrecht und die gesundheitlichen Spätfolgen wurden ab 2010 im Rahmen des Heimskandals bekannt, nachdem ehemalige Heimkinder an die Öffentlichkeit gelangten, resp. Klagen wegen Verstößen gegen die Menschenrechte oder institutionalisiertem Unrecht ergingen. 153 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz Einzelne Kinder versuchten, mit Anzeigen auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen - sie wurden als LügnerInnen hingestellt, man glaubte ihnen kein Wort, und sie wurden in das Heim zurückgebracht. Die Auffassungen über Kindheit und Erziehung haben sich gewandelt. Dem Kind wird heute eine Mitgestaltung in der Beziehung zu seinen Eltern eingeräumt. Die Liberalisierung ab den 1960er-Jahren in den westlichen Ländern und die Erkenntnisse der Bindungsforschung haben die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung deutlich verbessert, wie Langzeitstudien gezeigt haben. Die elterliche Bereitschaft, die Entwicklung ihrer Kinder zu unterstützen und den Nachwuchs in seinen Bedürfnissen und Lebensvorstellungen ernst zu nehmen, hat sich als äußerst positiv erwiesen. Der Verlust der Bindung zu einem Elternteil bedeutet stets einen Verlust an „Sicherheit“, Geborgenheit und Aufgehobensein. Ein sicher gebundenes Kind kann sich auf seine Elternfiguren verlassen. Es wird durch sie buchstäblich „ins Leben hineingeführt“; das Kind eignet sich Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl an, was für die weitere Entwicklung eine grundlegende Voraussetzung darstellt. Die elterliche Feinfühligkeit verdeutlicht, inwieweit Eltern in der Lage sind, auf ihre Kinder einzugehen, deren Sorgen und Ängste wie auch ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten wahrzunehmen. Das Kind fühlt sich beachtet und wertgeschätzt. Hat es Angst, bekommt es Schutz und Unterstützung. Mit diesem „Urvertrauen“ kann das Kind auf Neues und Unbekanntes zugehen und Herausforderungen meistern. Der Begriff „basic trust“ wurde durch Erikson in seinem Werk „Childhood and society“ (1950) geprägt und mit „Urvertrauen“ ins Deutsche übersetzt. Dieses Urvertrauen bildet die Basis für weitere Entwicklungsschritte - die Erfahrung der Zuverlässigkeit der Bezugspersonen ist Voraussetzung für dieses Urvertrauen, welches im späteren Leben „Vertrauen in die Lebenswelt“ bedeutet. Die Trennung von einem Elternteil, in den meisten hier zu beurteilenden Fällen von der Mutter, erschüttert dieses Urvertrauen und beeinträchtigt damit die weitere Entwicklung des Kindes. Die empirischen Forschungen der Arbeitsgruppe um Michael Meaney (geb. 1951) hat weitere Resultate über den Zusammenhang zwischen mütterlicher Zuwendung und Gen-Expression gezeigt (vgl. Tschan 2019). Die an Tieren durchgeführten Untersuchungen wurden inzwischen durch Untersuchungen an Menschen bestätigt; die universelle Gültigkeit dieser Hypothesen auf die Entstehung von Krankheiten wurde inzwischen ebenfalls bestätigt (vgl. Yang et al. 2013). Unser Stressregulationssystem wird im Laufe der Entwicklung mittels epigenetischer Adaptation auf die Erfordernisse justiert. In der gesunden Entwicklung werden nicht benötigte Genabschnitte auf der DNA-Doppelhelix der Kernsubstanz durch Anlagerung von Methylgruppen blockiert und damit inaktiv gemacht. Im Falle von Trennungen von den Bezugspersonen unterbleiben diese Blockierungen mit dem Resultat, dass zu viele aktive Genabschnitte verbleiben. Die Stressantwort ist in diesen Fällen inadäquat, überschießend und lange anhaltend. Betroffene können diese Reaktionen nicht willentlich beeinflussen. Betroffene sind ihren Angst- und Panikreaktionen sowie den körperlichen Reaktionen ausgeliefert, welche ihre Befindlichkeit und ihr soziales Verhalten erheblich beeinträchtigen. Ihre innere Balance, entsprechend dem Modell von „Window of Tolerance“, ist gestört (vgl. Tschan 2019), womit alle ihre emotionalen, kognitiven und sozialen Funktionsqualitäten in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Konzentrations- und die Leistungsfähigkeit leidet und führt zu erheblichen Lern- und Schulschwierigkeiten wie auch zu Schwierigkeiten im sozialen Bereich und im Erwerbsleben. Sie leiden unter mangelndem Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Die Befähigung zu adäquater Selbstorganisation ist erheblich beeinträchtigt. 154 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz Weiter haben die Forschungsdaten der ACE- Studie (adverse childhood experience) einen eindeutigen Zusammenhang zwischen negativen Kindheitserlebnissen und der Gesundheit gezeigt (vgl. Felitti et al. 1998; Tschan 2019). Die Auswirkungen dysfunktionaler Haushaltsstrukturen resp. von Trennung und Scheidung auf die Kinder wurden dabei nebst anderen Faktoren untersucht. Mit 23,3 % bilden in der ACE-Studie Trennung und Scheidung die dritthäufigste Form von Kindheitstraumata. Am häufigsten fanden sich körperliche Misshandlungen (28,3 %), gefolgt von Suchtmittel-Missbrauch im Haushalt (26,9 %). Fast zwei Drittel der über 17.000 StudienteilnehmerInnen berichteten über mindestens ein signifikantes Traumaerlebnis in ihrer Biografie; bei 12,5 % der StudienteilnehmerInnen (jede achte Person) fanden sich vier und mehr signifikante Traumatisierungen in der Kindheit. Die modernen Neurowissenschaften haben nun gezeigt, wie Bindungserfahrungen die Hirnentwicklung beeinflussen (vgl. Siegel 1999). Das Konzept des „Window of Tolerance“ beschreibt den optimalen Funktionsbereich - zu viel Stress führt zu Hyperarousal und dysfunktionalem Verhalten, zu wenig Beachtung und Stimulation führt zu einer Unterfunktion. Die sichere Bindungserfahrung ist der beste Garant für eine gute innere Balance: „Our attachment bonds are our greatest protection against threat“ (Van der Kolk 2014, 210). Ein Kind, das von seinen Bezugspersonen getrennt wird, verliert seine elementarste Sicherheit. Erfolgt ein Obhutsentzug nicht im Interesse des Kindeswohls, sprechen wir von „Behördentraumatisierung“. Eine derartige „Behördentraumatisierung“ stellt eine nachhaltige und bleibende Traumatisierung von Betroffenen mit der Folge von irreversiblen Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentwicklung dar. Zudem wird das Vertrauen in die soziale und gesellschaftliche Ordnung nachhaltig erschüttert. Ausblick Die KESB hat nun zehn Jahre ihre Arbeit getan - wir denken, dass damit in der Schweiz die Zeit einer fundierten wissenschaftlichen Aufarbeitung gekommen ist. Die der KESB zugrunde liegende Gesetzgebung wird durch die involvierten Fachleute allgemein als befriedigend angesehen. Das Kinder- und Erwachsenenschutzrecht ist nach Ansicht vieler Fachleute gut konzipiert und bedarf deshalb keiner Revision. Erforderlich ist hingegen eine Untersuchung über die Ergebnisqualität familienrechtlicher Entscheide, insbesondere im Hinblick auf das Kindeswohl. Im Vergleich zum alten Vormundschaftsrecht wurde die KESB professionalisiert. Mit der Schaffung von Berufsbeiständen wurde eine neue Staatsaufgabe definiert, die früher größtenteils ehrenamtlich übernommen wurde. Nach unseren Erfahrungen gibt es drei Bereiche, die einer vertieften wissenschaftlichen Aufarbeitung bedürfen: Die personelle Situation der KESB in den einzelnen Kantonen ist unterschiedlich - in manchen Fällen fehlt es bei den involvierten Fachleuten am erforderlichen Fachwissen und der psychosozialen Kompetenz. Vielfach hat die angestrebte Professionalisierung nicht zu einer verbesserten Prozessqualität geführt, sondern hat ein absicherndes Aktenchaos generiert. Dies zeigt sich mit aller Deutlichkeit bei Hochkonfliktsituationen, die für die betroffenen Kinder häufig zu prekären Situationen führen. Die Qualität familienrechtspsychologischer Gutachten ist oft mangelhaft; es fehlt an Sachkunde, Objektivität und Neutralität. Oft sind die prozessualen Standards, die man aus anderen Rechtsbereichen gewohnt ist, bei familienrechtspsychologischen Gutachten nicht eingehalten (vgl. Weltert 2022). GutachterInnen dürfen keine Empfehlungen aussprechen, die das Kindeswohl gefährden. 155 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz Die Gerichte beschäftigen sich bei familienrechtlichen Angelegenheiten nicht mit der notwendigen Tiefe. Regelmäßig laufen die Rechtsstreitereien auf eine Aktenwälzerei (Akten statt Fakten) hinaus (vgl. Weltert 2022). Die Gerichte berücksichtigen die internationalen Vertragswerke (z. B. UN-Kinderrechtskonvention) und die Rechtsprechung der umliegenden Länder nur ungenügend. Allgemein wird das Kindeswohl in der Schweiz nur suboptimal berücksichtigt. Die Erkenntnisse der „therapeutic jurisprudence“ (Wexler 1989) werden in der Rechtsprechung bisher kaum berücksichtigt. Unter der Leitung eines universitären rechtswissenschaftlichen Institutes streben wir eine interdisziplinär konzipierte Längsschnitt-Untersuchung zu den vorstehend aufgeführten Aspekten an. Diese praxisbezogene wissenschaftliche Forschung soll mithelfen, die Prozess- und Ergebnisqualität sowie die Wahrung des Kindeswohls bei familienrechtlichen Auseinandersetzungen in der Schweiz zu verbessern, die Gründe für Fehlentscheide erkennbar zu machen und Lösungsansätze zu formulieren. Angesichts der bekannten historischen Ausgangslage benötigen wir in der Schweiz in familienrechtlichen Angelegenheiten eine wirksame Fehlerkultur. Dr. med. Werner Tschan Facharzt Psychiatrie & Psychotherapie Baslerstr. 353 4123 Allschwil Schweiz E-Mail: tschankast@bluewin.ch Literatur Commission Indépendante sur l’inceste et les Violences Sexuelles faites aux Enfants (CIIVISE) (2021): Inceste: protéger les enfants. In: https: / / www.ciivise.fr/ les-tra vaux-avis/ avis/ , 12. 11. 2021 Eberstaller, M., Barth-Richtarz, J., Weidinger, D. (2022): „Eltern werden durch Verfahren traumatisiert“. In: https: / / www.wienerzeitung.at/ nachrichten/ reflexio nen/ zeitgenossen/ 2155411-Eltern-werden-durch- Verfahren-traumatisiert.html, 26. 1. 2023 Erikson, E. H. (1950): Childhood and society. W. W. Norton & Company, New York Felitti, V. J., Anda, R. F., Nordenberg, D., Williamson, D. F., Spitz, A. M., Edwards, V. et al. (1998): Relationship of Childhood Abuse and Household Dysfunction to Many of the Leading Causes of Death in Adults. American Journal of Preventive Medicine 14 (49), 245 - 258 Fundamental Rights Agency (FRA) (2014): Violence against women: an EU-wide survey. European Union Agency for Fundamental Rights, Wien Galle, S. (2016): Kindswegnahmen. Das „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“ der Stiftung Pro Juventute im Kontext der schweizerischen Jugendfürsorge. Chronos, Zürich Gnos, L. (2016): „Jetzt können wir endlich trauern“. In: https: / / www.blick.ch/ schweiz/ fall-flaach-jetzt-koen nen-wir-endlich-trauern-id4623945.html, 31. 1. 2023 Häsler, M. (2009): Niemandskinder. Dossier: „Weggegeben, weggenommen: Verdingkinder“. In: https: / / schweizermonat.ch/ 1-niemandskinder/ , 31. 1. 2023 Hirigoyen, M.-F. (2002): Die Masken der Niedertracht: Seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann. dtv, München Jean, P. (2020): La loi des pères. Rocher, Monaco Jenny, Z. (2017): Natalie K. Meine Geschichte beginnt in einem wunderbaren Dorf. Die Aufzeichnungen einer Kindsmörderin. Salis Verlag, Zürich Largo, R. (2008): Und der Staat schaut zu. Beitrag von Otto Hostettler. Der Beobachter, Zürich Marti, E. (2018): Gesamtbiografie Carl Alber Loosli. Chronos, Zürich Mehr, M. (1990): Steinzeit. 7. Aufl. Zytglogge Verlag, Gümligen OHCHR (2021): Spanish courts must protect children from domestic violence and sexual abuse, say UN experts. In: https: / / www.ohchr.org/ en/ press-releases/ 2022/ 01/ spanish-courts-must-protect-childrendomestic-violence-and-sexual-abuse-say, 26. 1. 2023 Rosenkötter, W. (2019): Das Recht des Kindes auf Beteiligung. Zur Bedeutung von Partizipation. In: Körner, W., Hörmann, G. (Hrsg.): Staatliche Kindeswohlgefährdung? Beltz, Weinheim, 35 - 49 156 uj 4 | 2023 Kindesobhutnahme in der Schweiz Schwarz, V. (2021): Beweislehre. In: Bender, R., Häcker, R., Schwarz, V. (Hrsg.): Tatsachenfeststellung vor Gericht. 5. Aufl. C. H. Beck, München Siegel, D. J. (1999): The Developing Mind: Toward a Neurobiology of Interpersonal Experience. Guilford, New York Tewes, U. (2016): Psychologie im Familienrecht - zum Nutzen oder Schaden des Kindes? Springer, Berlin Tschan, W. (2019): Trauma. Verstehen - erkennen - behandeln. Diagnostik und Behandlung der Traumafolgestörungen - eine aktuelle Übersicht. Books on Demand, Norderstedt Tschan, W. (im Druck): Obhutsentzug und Fremdplazierung im Familienrecht. Mit Schwerpunkt auf pädokriminelle Delinquenz im Rahmen familienrechtlicher Auseinandersetzungen, Fehlentscheide und Behördentraumatisierung. Die Bedeutung von Gutachten im Familienrecht. Hogrefe, Bern Van der Kolk, B. (2014): The Body keeps the Score. Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma. Viking, New York Wehrli, C. (2022): „Vaganten“ als Obsession - wie die Organisation Pro Juventute während Jahrzehnten Familien zerstörte. In: https: / / www.nzz.ch/ schweiz/ kinder-der-landstrasse-wie-pro-juventute-familienzerstoerte-ld.1678586, 26. 1. 2023 Weltert, H. (2022): Persönliche Mitteilung im Rahmen eines Forschungsprojektes zu Fremdplazierung in der Schweiz, Veröffentlichung vorgesehen Wexler, D. B. (1989): Therapeutic Jurisprudence. Carolina Academic Press, Durham NC Wider, D., Pfister-Wiederkehr, D. (2018): Persönlicher Verkehr. In: Rosch, D., Fountoulakis, C., Heck, C. (Hrsg.): Handbuch Kindes- und Erwachsenenschutz. Recht und Methodik für Fachleute. 2. Aufl. Haupt Verlag, Bern, 345 - 376 Yang, B.-Z., Zhang, H., Ge, W., Weder, N., Douglas-Palumberi, H., Perepletchikova, F. et al. (2013): Child Abuse and Epigenetic Mechanisms of Disease Risk. Am J Prev Med 44 (2), 101 - 107 Zangger, M. (2017): Jürg Jegges dunkle Seite: Die Übergriffe des Musterpädagogen. Wörterseh, Lachen a www.reinhardt-verlag.de Junge Menschen mit FASD begleiten Welchen Hilfebedarf haben Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Fetaler Alkoholspektrumstörung (FASD)? Wo bekommen (Pflege-)Familien von Kindern mit FASD Unterstützung? Dieses Buch gibt Fachkräften in der Jugendhilfe Orientierung, wie man Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit FASD sowie ihre Familien gut begleitet. Best-Practice- Beispiele zeigen, welche konzeptionellen, pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen besonders hilfreich sind. Feldmann / Graf (Hg.) Praxishandbuch FASD in der Jugendhilfe 2022. 189 Seiten. 3 Abb. 1 Tab. (978-3-497-03105-4) kt
