unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art22d
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2023
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Inobhutnahme für Geschwisterreihen - Ein Pilotprojekt
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Peter Büttner
Die Unterbringung von größeren Geschwisterreihen im Rahmen der Inobhutnahme ist in der täglichen Praxis der Jugendämter häufig mit einem mangelnden Platzangebot konfrontiert. Darüber hinaus finden sich nur unzureichende Strukturen, die den spezifischen Anforderungen einer Betreuung von Geschwisterreihen entsprechen. Diese Situation steht im Gegensatz zu der fachlichen Notwendigkeit, die Geschwisterreihen nach Möglichkeit nicht zu trennen. Wir berichten im Folgenden über eine Piloteinrichtung, die diese Versorgungslücke in einem spezifischen regionalen Raum zu schließen versucht.
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163 unsere jugend, 75. Jg., S. 163 - 167 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art22d © Ernst Reinhardt Verlag von PD Dr. Dipl.-Psych. Peter Büttner Jg 1946; Träger und Leiter Projekt PETRA Inobhutnahme für Geschwisterreihen - Ein Pilotprojekt Die Unterbringung von größeren Geschwisterreihen im Rahmen der Inobhutnahme ist in der täglichen Praxis der Jugendämter häufig mit einem mangelnden Platzangebot konfrontiert. Darüber hinaus finden sich nur unzureichende Strukturen, die den spezifischen Anforderungen einer Betreuung von Geschwisterreihen entsprechen. Diese Situation steht im Gegensatz zu der fachlichen Notwendigkeit, die Geschwisterreihen nach Möglichkeit nicht zu trennen. Wir berichten im Folgenden über eine Piloteinrichtung, die diese Versorgungslücke in einem spezifischen regionalen Raum zu schließen versucht. 1. Ausgangslage In Deutschland werden jährlich ca. 50.000 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Kinder unter 6 Jahren werden in der Regel in Bereitschaftspflegefamilien untergebracht; für ältere Kinder und Jugendliche gibt es spezifische Inobhutnahmeeinrichtungen, häufig auch differenziert zwischen Kindern und Jugendlichen. Darüber hinaus werden Kinder und Jugendliche in Kinderheime nach § 34 SGB VIII integriert. Was aber passiert, wenn ganze Geschwisterreihen in Obhut genommen werden müssen? Die Geschwister werden dann zumeist auseinandergerissen und verlieren mit den Brüdern oder Schwestern wichtige Bezugspersonen, die für die Krisenbewältigung ganz entscheidend sein können. Zur Bedarfslage In Deutschland leben 8,2 Millionen Familien mit Kindern (Statistisches Bundesamt 2016). 862.000 Familien leben mit drei oder mehr Kindern und zählen damit zu den Mehrkinderfamilien. Der überwiegende Teil dieser Familien (690.000) hat dabei drei minderjährige Kinder, 127.000 Familien haben vier Kinder und 45.000 Familien haben sogar fünf oder mehr Kinder (Statistisches Bundesamt 2016). Jährlich werden etwa 0,3 % (= 50.000) von 15 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland in Obhut genommen. Unterstellt man, dass diese Prävalenz auch bei Mehrkinderfamilien (= 862.000) gilt, so ergäbe sich ein jährlicher Bedarf an der Unterbringung von ca. 2.400 Kindern aus Geschwisterreihen. Daraus ergäbe sich (eine Dreikinderreihe vorausgesetzt) eine vermutete jährliche Anzahl von ca. 800 Geschwisterreihen. 164 uj 4 | 2023 Inobhutnahme für Geschwisterreihen - Ein Pilotprojekt 2. Zur Indikation In der Jugendhilfe wird die Frage der getrennten oder gemeinsamen Unterbringung von Geschwistern im stationären Kontext seit Jahren kontrovers diskutiert. Sowohl für die Kompensationshypothese (Geschwister kompensieren eine unzulängliche Elternschaft, was sich bei gemeinsamer Unterbringung förderlich auf die Betreuung auswirkt) sowie für die Kongruenzhypothese (Geschwisterbeziehungen sind ggf. ebenso belastet wie die Eltern-Kind-Beziehungen, was sich in diesem Sinne dysfunktional während der Unterbringung auswirkt) lassen sich aus der unmittelbaren Praxis stets Beispiele finden. In Europa und in den USA existieren jedoch keine systematischen Forschungen zu den Aspekten der gemeinsamen/ getrennten Geschwisterunterbringung in der Inobhutnahme. Auf der Basis von klinischem Wissen und Praxisbeispielen gilt jedoch aktuell die gemeinsame Unterbringung als die erstrebenswerte Lösung, sofern sie dem Kindeswohl einzelner Geschwisterkinder nicht abträglich ist. Internationale Empfehlungen (unter Bezug auf die UN-Kinderrechtskonvention) favorisieren aktuell die gemeinsame Unterbringung als Regelfall, die getrennte sei hingegen lediglich als Ausnahme durchzuführen. Eine Indikation für eine getrennte Unterbringung kann beim Vorliegen hochproblematischer Beziehungsdynamiken angezeigt sein: ➤ sexueller Missbrauch unter Geschwistern, ➤ weitgehende und andauernde altersunangemessene Verantwortungsübernahme eines Kindes für jüngere Geschwister (Parentifizierung), ➤ stark aufeinander fixierte Beziehungen, bei denen die Geschwister in einem Abhängigkeitsverhältnis bleiben, sich als Gruppe schließen und keine neuen Vertrauensbeziehungen eingehen (ehemalige Überlebensgemeinschaft), ➤ konstant starke Geschwisterrivalität mit ausgeprägten Benachteiligungs- oder Bevorzugsdynamiken durch die Eltern, ➤ anhaltende exzessive Konflikte, die auch körperlich ausgetragen werden. Zudem kann das Vorliegen klinischer Symptome bei einzelnen Kindern aus der Geschwisterreihe den Ausschluss dieses Kindes von der Aufnahme verursachen und damit eine zumindest partiell getrennte Unterbringung veranlassen: ➤ bei gravierenden Suchtproblemen und -erkrankungen, ➤ bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung, ➤ bei psychotischen Zuständen, die eine stationäre psychiatrische Betreuung erforderlich machen, ➤ bei sexueller Übergriffigkeit, ➤ Mädchen und Jungen, die wegen gerade zurückliegender Erfahrungen im Bereich des Missbrauchs und sexueller Gewalt einer besonderen Abschirmung bedürfen, ➤ bestimmte Formen geistiger und/ oder körperlicher und/ oder mehrfacher Behinderungen, die eine spezielle Betreuung erfordern. Bei Nichtvorliegen der obigen Aspekte können zudem Aspekte wie ➤ wechselseitige Vertrautheit, ➤ Kontinuität einer (Rumpf-)familiären Identität, ➤ Verantwortungsbewusstsein älterer Geschwister für die Jüngeren als positive Indikation zur gemeinsamen Unterbringung verstanden werden. Bei der Inobhutnahme von Geschwisterreihen gilt es also, vorab eine Ersteinschätzung der obigen Aspekte durchzuführen, ob eine gemeinsame Unterbringung angezeigt ist. Häufig wird jedoch bei krisenhaften Inobhutnahmen von Geschwisterreihen nicht ausreichend Vorwissen über die Geschwisterdynamik vorhanden sein, sodass dies unmittelbar nach der Inobhutnahme oder im Rahmen der Inobhutnahme geklärt werden muss. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass die gemeinsame Unterbringung von Geschwisterreihen den Regelfall darstellen wird. 165 uj 4 | 2023 Inobhutnahme für Geschwisterreihen - Ein Pilotprojekt 3. Das Pilotprojekt Das Projekt PETRA hat in der Region Darmstadt den Versorgungsauftrag für die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen seit 2005 übernommen. Von 2005 bis 2019 haben wir hierfür eine Einrichtung für Kinder und Jugendliche von 6 - 17 Jahren mit zehn Plätzen vorgehalten. Seit Oktober 2019 sind die Gruppen zwischen Kindern und Jugendlichen getrennt und wir halten insgesamt 15 Plätze und zwei Notplätze vor. An die Inobhutnahme ist eine Clearingabteilung angedockt, die für das Jugendamt der Stadt Darmstadt einen diagnostischen Clearingprozess fest institutionalisiert hat, um damit die Qualität der Perspektivenklärung und die Laufzeit der Inobhutnahme positiv zu beeinflussen. Seit Januar 2020 wurde diese regionale Versorgung um ein überregionales Versorgungsangebot in Form eines Geschwisterhauses für die Inobhutnahme erweitert. Die durch die Konzeption vorgegebene Altersrange von 0 - 18, die damit verknüpften architektonischen Besonderheiten sowie die Verknüpfung von geschwisterspezifischer Diagnostik und alltäglicher Betreuungsstruktur erforderte aufseiten des regional zuständigen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe und des Landesjugendamtes eine hohe Innovationsbereitschaft im Kontext des Betriebserlaubnisverfahrens und im Abschluss der Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarung. Mit dem Jugendamt der Stadt Darmstadt haben wir hier einen konstruktiven Partner gefunden, das wechselseitige Vertrauen auf Basis der langen Kooperation war die Grundlage hierfür. Von 2017 bis 2020 erfolgten die konzeptionellen Vorarbeiten, eine Einrichtung wurde spezifisch dafür geplant und erbaut. Leitmotiv des Gesamtansatzes waren die Diskussionen um die UN-Kinderrechtskonvention, die seit Jahren mit Forderungen verknüpft sind, dass Geschwister mit bestehenden Bindungen bei einer Unterbringung in alternativer Betreuung nicht getrennt werden sollen. Seit Kurzem wird dies auch im neuen Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG 2021) abgebildet. Genau dies ist aber häufig tägliche Praxis in der Inobhutnahme und konstituiert so eine in Einzelfällen dramatische Versorgungslücke. Das Geschwisterhaus ist in Darmstadt angesiedelt, überregional aufgestellt und bietet insgesamt zehn Plätze für Geschwisterreihen ab zwei Kindern im Alter von 0 - 17 Jahren. Die Einrichtung verfügt - bei einem Schlüssel von 1 : 0,87 - über insgesamt 11,5 Stellen, dazu kommt eine Stelle als Leitung. Diese personelle Ausstattung gewährleistet eine personelle Doppelbesetzung von 6 bis 22 Uhr. Die Doppelbesetzung wird nachts durch einen regulären Nachtdienst sowie eine Nachtbereitschaft sichergestellt. Zudem ist der Einrichtung eine Psychologenstelle im Rahmen von 25 % direkt zugeteilt. Die Leistungen des projektinternen medizinischen Dienstes sowie der Fachabteilung für Diagnostik und Gutachten sind von der Einrichtung im Rahmen eines formalisierten Ablaufes abrufbar. Für die untergebrachten Geschwisterkinder ist von montags bis freitags (9 - 12 Uhr) eine interne Ersatzbeschulung durch eine Fachkraft eingerichtet. Die Inhalte orientieren sich dabei an den entsprechenden Lehrplänen der Herkunftsschulen. Dies ist erforderlich, da von einer überregionalen Belegung ausgegangen werden muss und ein Besuch der Regelschule während der Inobhutnahme nicht leistbar ist. Die Einrichtung ist grundsätzlich an 365 Tagen 24 Stunden geöffnet und bietet eine zuverlässige pädagogische Rund-um-die-Uhr- Betreuung. Die Architektur ermöglicht die Aufteilung in kleine familiäre Bereiche und verfügt über verbindende, gemeinsam nutzbare Räume. Die wohnliche Atmosphäre vermittelt Wärme und Geborgenheit und trägt zur Stabilisierung bei. Das Geschwisterhaus PETRA stellt eine befristete Übergangsstation dar, die so schnell wie möglich in eine zuverlässige Lebensperspektive verwandelt werden muss. Der maximale an- 166 uj 4 | 2023 Inobhutnahme für Geschwisterreihen - Ein Pilotprojekt gestrebte Aufenthaltszeitraum beträgt acht Wochen. Die angeschlossene Diagnose- und Clearing-Abteilung exploriert und analysiert die Krisensituation und sichert die Grundlagen für gute Lösungsansätze und eine tragfähige Perspektivenklärung. Das Team verknüpft psychologisches Fachwissen mit kinder- und jugendpsychiatrischer Kompetenz. Im Rahmen der Diagnostik und des Clearings im Geschwisterhaus werden, neben den seit Jahren erprobten Verfahren, spezifische diagnostische „Pakete“ verwendet, die eine gezielte Analyse der geschwisterlichen Identität und der Beziehungen untereinander ermöglichen und damit eine Optimierung bei der Entwicklung von Perspektiven herbeiführen. Die „Pakete“ umfassen standardisierte Testverfahren, darüber hinaus werden im Rahmen systematischer teilnehmender Beobachtungen, sowohl im pädagogischen Alltag als auch in eigens dafür inszenierten Settings, diagnostische Daten zur geschwisterlichen Identität und der Beziehungsstruktur erhoben. Die Beobachtungsprozesse orientieren sich dabei an vorgegebenen Kategorien. 4. Bisherige Erfahrungen/ Daten zur Inanspruchnahme seit Eröffnung im Januar 2020 Der vermutete hohe Bedarf an Geschwisterunterbringungen wird durch eine konstante Anfragesituation bestätigt. Für den Fall, dass im Rahmen der Aufnahme einer Geschwisterreihe auch ein Säugling/ Kleinkind aufgenommen werden muss, entstehen zusätzliche Betreuungs- und Pflegeaufwände sowie besondere Anforderungen an die Aufsichtspflicht. Hierfür muss ein Netz von zusätzlichem Fachpersonal vorgehalten werden, das im Einzelfall abgerufen und gesondert abgerechnet werden muss. Die Nachfrage übersteigt die Kapazität der Einrichtung bei Weitem. In der Rückmeldung durch die Jugendämter wird die Nützlichkeit der im Clearing erhobenen Befunde und Empfehlungen ausdrücklich betont. Bisher erwies sich im Rahmen der spezifischen (Geschwister-)Diagnostik, dass bei allen Geschwisterreihen die Indikation zur gemeinsamen Unterbringung bestätigt wurde. In Bezug auf die entwickelten Perspektiven und Anschlusshilfen erwies sich, dass für etwa 80 % der Kinder/ Jugendlichen eine stationäre Unterbringung nach § 34 SGB VIII vorgeschlagen und umgesetzt wurde. Bei ca. 20 % der entwickelten Perspektiven ergaben sich Rückführungsperspektiven in die Familien, teilweise mit flankierenden Hilfen zur Erziehung (SPFH, Tagesgruppe). Der allgemeine Trend des Fachkräftemangels sowie die Effekte der Coronapandemie haben dazu geführt, dass das Geschwisterhaus seit Eröffnung die vorgesehene Personalstärke nicht erreichen konnte. Dadurch wurde die Belegungsstärke modifiziert. Mit diesen Einschränkungen ergibt sich für den Zeitraum folgendes Bild: Der Erfahrungsbericht beruht (noch) nicht auf einer wissenschaftlichen Evaluation, sondern berichtet klinische und pädagogische Erfahrungen aus den diagnostischen und pädagogischen/ alltäglichen Prozessen und ist insofern vorläufig. Nach der Stabilisierung der Personalsituation, und damit eine Vollauslastung vorausgesetzt, planen wir mittelfristig eine systematische wissenschaftliche Evaluation. Diese Evaluation setzt eine weitaus größere Anzahl von betreuten Geschwisterreihen voraus, um dann zu wissenschaftlich validen Aussagen zu Anzahl Geschwisterreihen größte Geschwisterreihe kleinste Geschwisterreihe 17 5 2 Anzahl Kinder insgesamt Alter jüngstes Kind Alter ältestes Kind/ Jugendlicher durchschnittliches Alter 52 3 18 10 minimale Betreuungsdauer/ Tage maximale Betreuungsdauer/ Tage durchschnittliche Betreuungsdauer/ Median 2 317 69,8/ 55 Tab. 1: Belegungsstatistik Abbildung: PD Dr. Peter Büttner, Schlüchtern 167 uj 4 | 2023 Inobhutnahme für Geschwisterreihen - Ein Pilotprojekt gelangen, die den Jugendämtern Erkenntnisse zur Indikationsbildung bei der Unterbringung von Geschwisterkindern in der Fremdunterbringung und insbesondere in der Inobhutnahme vermitteln soll. Projekt PETRA GmbH & Co. KG Alte Bahnhofstr. 31 36391 Schlüchtern E-Mail: p.buettner@projekt-petra.de a www.reinhardt-verlag.de In diesem Buch wird gezeigt, wie die Kriterien Kindeswohl und Kindeswille kontrolliert und sensibel genutzt werden können. Der Praktiker erhält außerdem konkrete Anleitungen zur Diagnostik und zum Umgang mit dem Kindeswillen. Beschrieben werden Altersbesonderheiten sowie die Spezifik des selbstgefährdenden und des induzierten Kindeswillens. Anhand der Entfremdung eines Kindes von einem Elternteil wird gezeigt, wie schwierig eine differenzierte Beurteilung des Kindeswillens ist. Aktualisiertes Standardwerk Harry Dettenborn Kindeswohl und Kindeswille Psychologische und rechtliche Aspekte 6., überarb. Auflage 2021. 169 Seiten. 9 Abb. 5 Tab. (978-3-497-03071-2) kt
