unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art30d
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2023
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Rezension: Michl, W., Fengler, J. (2022): 500 Stichwörter zur Erlebnispädagogik. Insiderwissen für Outdoorhandeln
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2023
Hans-Peter Heekerens
Das Buch enthält nach einem kurzen Vorwort, in dem über die Entstehungsgeschichte des Buches aufgeklärt wird, eine längere Einleitung. In dieser wird das von Janne Fengler schon früher entwickelte Modell der Verhältnisbestimmung von Theorie, Praxis und Empirie dargelegt und dieses als Landkarte genutzt, um darauf die Einzelbeiträge näher zu verorten.
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uj 5 | 2023 231 Rezension Rezensent: Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens Jg. 1947; nach Studien der Theologie und Psychologie 1976 - 1984 praktisch, lehrend und forschend auf dem Gebiet der Klinischen Psychologie tätig. Ab 1984 Professor an der Hochschule München für das (Zentral-)Fach Sozialarbeit/ Sozialpädagogik. Seit 1986 zunehmende Ausrichtung auf praxisorientierte Lehre in Erlebnispädagogik, bald abgesegnet durch Erweiterung der Lehrbefugnis um das Fach Pädagogik. In den letzten Jahren Schriften zu systematischen und historischen Aspekten der Erlebnispädagogik. AutorInnen Der Erstautor, Jg. 1950, Pädagoge, Prof. i. R., ist seit den frühen Jahren der modernen Erlebnispädagogik über Fach- und Landesgrenzen hinaus als Autor, Herausgeber, Organisator und Referent bekannt; manche nennen ihn „Mister Erlebnispädagogik“. Die Erziehungswissenschaftlerin Janne Fengler, Jg. 1978, ist seit 2013 Professorin für Kindheitspädagogik und Pädagogische Psychologie an der Alanus Hochschule. Vielen dürfte sie bekannt sein, weil auch sie zum HerausgeberInnen- und AutorInnenkreis von e&l gehört; manche von Ihnen kennen ihre qualifizierten Beiträge zur erlebnispädagogischen (Evaluations-)Forschung. Die Angabe „AutorInnen“ ist nicht ganz korrekt, weil nicht alle 500 Stichwörter aus der Feder der AutorInnen stammen, sondern von Dritten, die jeweils mit Namen genannt werden, beigesteuert wurden. Insofern müsste man auch von zusätzlicher HerausgeberInnenschaft sprechen. Aufbau und Inhalt Das Buch enthält nach einem kurzen Vorwort, in dem über die Entstehungsgeschichte des Buches aufgeklärt wird, eine längere Einleitung. In dieser wird das von Janne Fengler schon früher entwickelte Modell der Verhältnisbestimmung von Theorie, Praxis und Empirie dargelegt und dieses als Landkarte genutzt, um darauf die Einzelbeiträge näher zu verorten. Das kann man sinnvollerweise nur, wenn man die einzelnen Stichwörter einer überschaubaren Gruppe von Begriffen zuordnet und somit semantische Wolkenhaufen bildet. Diese tragen folgende Namen: Konzepte/ Fachbegriffe, Methoden, Netzwerkaktivitäten, Personen und Anbieter. Welche Stichwörter welcher Gruppe zugeordnet wurden, kann man anschließend nachschauen. Den weitaus größten Teil des Buches nehmen die 500 Einzelbeiträge, nach Stichwörtern alphabetisch geordnet und mit je einem eigenen Literatur-/ Quellenverzeichnis versehen, ein. Die einzelnen Beiträge sind von unterschiedlicher Länge und stammen meist von den AutorInnen; sind sie von Dritten verfasst, ist das jeweils mit Namensnennung kenntlich gemacht. Diskussion Die AutorInnen haben dem Buch mit „Stichwörter“ den trefflichen Titel gegeben; andere erwogene Titel, die mit Begriffen wie „Grundbegriffe“, „Lexikon“,„Wörterbuch“ oder gar „Enzyklopädie“ operieren, wären verfehlt gewesen. „Stichwörter“ passt, denn Erlebnispädagogik ist immer noch work in progress. Die Schrift ist keineswegs, wie der Untertitel nahelegt, nur eine gelehrte Michl, W., Fengler, J. (2022): 500 Stichwörter zur Erlebnispädagogik. Insiderwissen für Outdoorhandeln Beltz Juventa, Weinheim. 241 Seiten, ISBN 978-3-7799-6911-2, € 38,- (auch als E-Book erhältlich) 232 uj 5 | 2023 Rezension Handreichung für PraktikerInnen. Für diese dürften die „Stichwörter“ freilich einen leichteren Zugang zu Wissensbeständen der Erlebnispädagogik bieten, als das „Einführungen“ oder „Studienbücher“ leisten können. Das Werk stellt eine wertvolle Ergänzung zu dem bereits in zweiter Auflage erschienenen „Handbuch Erlebnispädagogik“ (Michl/ Seidel 2021) dar und enthält viel Material, auf das man in einem noch zu schreibenden „Lehrbuch (der) Erlebnispädagogik“ zurückgreifen kann. Eine Diskussion aller 500 Einzelbeiträge verbietet sich von selbst. Man kann sich als RezensentIn allerdings die Fragen stellen, die sich anderen LeserInnen auch aufdrängen: Was ist gut, wo muss man widersprechen, welcher Beitrag scheint überflüssig und welche Stichwörter vermisse ich? Bei „überflüssig“ halte ich mich zurück, da ich viele Beiträge gefunden habe, die für mich unerwartet und bereichernd waren; zum Glück haben die AutorInnen sie nicht für überflüssig gehalten. Zu „gut“ und „widersprechen“ kann ich summarisch sagen: Die Mehrzahl der Artikel decken sich mit meinem derzeitigen Kenntnis- und Meinungsstand (Heekerens 2019, 2021 a, 2021 b); nur bei einer Minderzahl - „Abenteuer“ etwa - muss ich Widerspruch einlegen. Ausführlich äußern möchte ich mich zu „vermissen“, da das Schließen von Lücken das Unternehmen „Erlebnispädagogik“ voranbringen könnte. Unter den vermissten Stichwörtern steht an erster Stelle „Ganztagsschule“ (wahlweise „Nachmittagsunterricht“). Die Ganztagsschule enttäuscht bis heute die in sie gesetzten Hoffnungen (Heekerens 2017). Das hat auch damit zu tun, dass die außerschulischen Lernpartner in den Nachmittagsangeboten zum einen zu wenig Gestaltungsspielraum haben, zum anderen aber auch, dass sie zu wenig Gestaltungswillen zeigen. Evaluationsergebnisse zur Erlebnispädagogik begründen die Hoffnung, dass passgenaue erlebnispädagogische Maßnahmen im Nachmittagsunterricht direkt das Selbstwertgefühl sowie die kommunikative/ soziale Kompetenz und damit auch indirekt die kognitiven Fähigkeiten von SchülerInnen verbessern können. Die Erlebnispädagogik könnte ihren Beitrag dazu leisten, die zentrale in die Ganztagsschule gesetzte Hoffnung zu realisieren: die Bildungsgerechtigkeit zu fördern. Davon, dass in der erlebnispädagogischen Szene das Thema bereits auf der Tagesordnung ist, zeugen Beiträge in e&l 5/ 2022. Gleich nach „Ganztagsschule“/ „Nachmittagsunterricht“ vermisse ich einen Beitrag zum Stichwort „Kindertagesstätte“ (wahlweise „Frühkindliche Bildung“). Das eben genannte e&l- Themenheft trägt den Titel „Erlebnis in der Kindheitspädagogik“ und ist das jüngste Zeugnis dafür, dass „Kindertagesstätte“/ „Frühkindliche Bildung“ seit Längerem im Fokus der erlebnispädagogischen Bewegung steht. Wie die Ganztagsschule verfehlt auch die Kindertagesstätte den zentralen und gesellschaftlich bedeutsamen Auftrag, Bildungsgerechtigkeit zu fördern (Heekerens 2010; Schoener 2022). Ganztagsschule und Kindertagesstätte sind staatlich organisierte Lernorte. Will die Erlebnispädagogik dort mitarbeiten, muss sie sich zu „Lernen“ äußern. Das tut sie fortlaufend und selbstverständlich findet sich auch im vorliegenden Buch ein Eintrag zu „Lernen“. Dort gibt es auch Ausführungen zum Gehirn und dessen Tätigkeiten, doch bleiben diese doch sehr im Allgemeinen und lassen konkrete Hinweise auf einschlägige Ergebnisse der Neurowissenschaft vermissen. Die sollte man ab einer zweiten Auflage eigens unter dem Stichwort „Neuropsychologie“ darstellen. Die neurowissenschaftlichen Forschungen bestätigen immer wieder und zunehmend mehr, dass die von der Erlebnispädagogik geteilte Wertschätzung eines Lernens durch aktiv-erkundende Prozesse viel Wahrheit für sich hat. Ich zitiere zur Illustration die Ansicht von György Buzsáki, Systemneurowissenschaftler im Rang eines Professors an der New York State University School of Medicine, zum (Forschungs-)Gebiet Wahrnehmung. Dem dort bis heute vorherruj 5 | 2023 233 Rezension schenden Outside-in-Modell stellt er ein auf jüngsten Forschungsbefunden gegründetes Inside-out-Modell als alternativen Erklärungsansatz gegenüber: „Er geht davon aus, dass wir die Außenwelt verstehen lernen, indem wir mit ihr interagieren. Wenn man ein Objekt, etwa eine Blume, bewegt, erfährt man mehr über sie. Um diese Aufgabe zu meistern, fließen Signale von handlungsauslösenden und sensorischen Neuronen zusammen und geben gemeinsam Aufschluss über seine Größe, Form und weitere Attribute. Ein bedeutungsvolles Bild entsteht und lässt das Gehirn in diesem Falle die Blume ‚sehen‘“ (Buzsáki 2022, 15). Im Vorwort geben die AutorInnen der Hoffnung Ausdruck, „dass in einer zweiten Auflage die Zahl der Stichwörter wachsen wird und manche Begriffe verbessert, erweitert und vertieft werden können“ (8). Dem schließe ich mich an und möchte in dem Zusammenhang zwei Anregungen geben: mehr Einzelbeiträge erstens von Frauen und zweitens von Jüngeren. Das kann nicht nur förderlich sein für die Außenwirkung der Erlebnispädagogik, sondern auch für deren Selbstverständnis. Fazit Das Buch sei allen zur Lektüre empfohlen, die auf dem Gebiet der Erlebnispädagogik forschend, lehrend und/ oder praktisch tätig sind bzw. es werden wollen. Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens Rotkreuzstraße 2 b 86919 Utting am Ammersee DOI 10.2378/ uj2023.art30d Literatur Buzsáki, G. (2022): Wie das Gehirn die Welt konstruiert. Gehirn & Geist 10, 12 - 19 Heekerens, H.-P. (2010): Die Auswirkung frühkindlicher Bildung auf Schulerfolg - eine methodenkritische Bestandsaufnahme. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 30, 311 - 325 Heekerens, H.-P. (2017): Ganztagsschule - Viel Lärm um nichts. In: https: / / www.socialnet.de/ materialien/ 27809.php, 17. 11. 2022 Heekerens, H.-P. (2019): 100 Jahre Erlebnispädagogik. Rück-, Rund- und Ausblicke. ZKS-Verlag für psychosoziale Medien, Goßmannsdorf. In: https: / / zks-verlag. de/ wp-content/ uploads/ FINAL-Heekerens_1.8Paper backInnenteil.pdf, 17. 11. 2022 Heekerens, H.-P. (2021 a): Ergebnis- und Prozessforschung in der Erlebnispädagogik. In: Michl, W., Seidel, H. (Hrsg.): Handbuch Erlebnispädagogik. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München, 314 - 321 Heekerens, H.-P. (2021 b): Wie die Erlebnispädagogik laufen lernte. Outward Bound in der Bonner Republik. ZKS Verlag für psychosoziale Medien, Höchberg. In: https: / / zks-verlag.de/ wp-content/ uploads/ Heekerens_Erlebnispaedagogik_ebook.pdf, 17. 11. 2022 Michl, W., Seidel, H. (Hrsg.) (2021): Handbuch Erlebnispädagogik. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München Schoener, J. (2022): Wer hat sie noch im Blick? DIE ZEIT 47, 35 - 36
