unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art35d
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Fachkräftemangel
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Martin Stahlmann
„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ (Albert Einstein) „Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung. Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion.“ (Voltaire) „Wir leben in der Welt des und, denken in Kategorien des entweder-oder.“ (Ulrich Beck)
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261 unsere jugend, 75. Jg., S. 261 - 269 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art35d © Ernst Reinhardt Verlag von StD Dr. Martin Stahlmann Jg. 1959; Diplom-Pädagoge, Dr. phil., Leiter der Fachschule Heilpädagogik am Regionalen Berufsbildungszentrum der Stadt Neumünster, Elly-Heuss-Schule, langjähriges Mitglied des Beirates von „unsere jugend“ Fachkräftemangel Von ausgequetschten Zitronen und kleinen Brötchen „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ (Albert Einstein) „Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung. Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion.“ (Voltaire) „Wir leben in der Welt des und, denken in Kategorien des entweder-oder.“ (Ulrich Beck 1 ) 1. Einleitung „Zehn Jahre Lehrermangel“ - Ministerin löst Diskussion aus. Die Kultusministerin des Landes Niedersachsen, Julia Willie Hamburg, hat im NDR-Interview Klartext in Bezug auf die Situation an den Schulen gesprochen. Sie geht davon aus, dass der Lehrkräftemangel mindestens zehn Jahre anhält (vgl. Hildebrandt 2022). Mit diesem Interview hat Julia Willie Hamburg auf den Punkt gebracht, womit sich nicht nur die Schulen in den nächsten Jahrzehnten werden herumschlagen müssen. „Bis 2035 verliert Deutschland durch den demografischen Wandel sieben Millionen Arbeitskräfte und damit ein Siebtel des Arbeitsmarkts“, sagte Enzo Weber vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) (vgl. ZEIT ONLINE 2022). Vom Dachdeckerbetrieb über den ÖPNV bis hin zur Industrie, dem Handel, der Pflege etc. werden Arbeitskräfte gesucht. Besonders groß ist die Lücke offensichtlich bei Gesundheits- und Sozialdienstleistern und in der Logistikbranche (vgl. für die sozialpädagogischen Berufe u. a. AKJStat 2022; Bertelsmann Stiftung 2022). Der aktuelle Fachkräftemangel, der sich derzeit zu einem Arbeitskräftemangel einerseits und einem enormen Arbeitskräftebedarf andererseits ausweitet, wirbelt - so steht zu erwarten - nicht nur die vertraute, gewachsene Architektur der traditionellen Qualifikationen und Professionen durcheinander und legt lang gehegte Standesdünkel und Besitzstandswahrungskonzepte offen. Auch stehen in der Konsequenz wohl viele gewohnte pädagogische Angebote, Strukturen und Konzeptionen zur Disposition. Die folgenden Ausführungen - mit Fokus auf die sozialen Berufe - sind z. T. bewusst etwas überspitzt, um die Dramatik der Lage deutlich werden zu lassen. 262 uj 6 | 2023 Fachkräftemangel 2. Beispiel: Ausbildung Da gerade im Bereich der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung - als der Dreh- und Angelpunkt der Fachkräftegewinnung - anscheinend die meisten offenen Stellen zu verzeichnen sind und hier überwiegend ErzieherInnen arbeiten, galt und gilt es hier tätig zu werden. Es zeichnet sich ab, dass „der Personalanstieg (der letzten Jahre, M. S.) zu gering ist, um die bestehenden Bedarfe zu decken“ (Afflerbach/ Meiner-Teubner 2022, 3; schon Rauschenbach 2018). Tatsächlich wurde in der Vergangenheit schon viel unternommen, um mehr Personal für die pädagogischen Berufe, insbesondere für die Kitas zu gewinnen, wie wir am Beispiel Schleswig-Holstein sehen 2 : ➤ Ausweitung der Ausbildungskapazitäten durch mehr Berufsfach- und Fachschulen sowie mehr Lehrpersonal; ➤ Flexibilisierung der Weiterbildungsstrukturen im tertiären Bereich der Fachschule, sodass es mittlerweile fünf (! ) verschiedene Wege zum/ zur ErzieherIn gibt (Praxisintegrierte Weiterbildung (PIA), Vollzeit zweijährig (mit Abschluss Sozialpädagogische Assistenz), Vollzeit dreijährig, Teilzeit arbeitsbegleitend, besondere Maßnahme mit der Bundesanstalt für Arbeit (auslaufend)) ➤ Flexibilisierung der Zugangsvoraussetzungen zur Weiterbildung, insbesondere mit Fachhochschulreife/ Allgemeiner Hochschulreife und niedrigen Eingangsvoraussetzungen aus der Praxis; ➤ Sicherstellung der Finanzierung der FachschülerInnen (Studierenden) u. a. durch „Aufstiegsbafög“ oder die Praxisintegrierte Weiterbildungsform PIA; ➤ Strukturelle und inhaltliche Veränderung der Lehrplangestaltung mit der Schwerpunktsetzung auf Kindertageseinrich- Abb. 1: Hickmann, H., Koneberg, F. (2022): Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken. IW-Kurzbericht, 67. Institut der deutschen Wirtschaft, Köln. Ausführliche Information unter DJI 2022. Vgl. a. Bertelsmann Stiftung 2022; NDR 2022; Deutschlandfunk 2022 Die Berufe mit den größten Fachkräftelücken Jahresdurchschnitt 2021/ 2022 (1. 7. 2021- 30. 6. 2022) 24.000 20.000 16.000 12.000 8.000 4.000 0 100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0 % 20.578 20.466 18.279 16.974 16.839 14.013 13.638 12.060 11.771 10.562 Sozialarbeit und Sozialpädagogik Experte Kinderbetreuung u. -erziehung Spezialist Altenpflege Fachkraft Bauelektrik Fachkraft Gesundheitsu. Krankenpflege Fachkraft Sanitär-, Heizungsu. Klimatechnik Fachkraft Informatik- Experte Physiotherapie Spezialist Kraftfahrzeugtechnik Fachkraft Berufskraftfahrer (Güterverkehr/ LKW) Fachkraft Fachkräftelücke (linke Achse) Stellenüberhangsquote (rechte Achse) Quelle: IW-Berechnungen auf Basis von Sonderauswertungen der BA und der IAB-Stellenerhebung, 2022 263 uj 6 | 2023 Fachkräftemangel tungen unter Vernachlässigung anderer Arbeitsfelder; ➤ Zusätzliche Flexibilisierung der vorgeschalteten einschlägigen Berufsausbildung zum/ zur Sozialpädagogischen AssistentIn mit mittlerem Schulabschluss (Vollzeit oder jetzt auch in praxisintegrierter Form) oder jetzt neu mit erstem allgemeinbildenden Abschluss (ESA)). Nicht jede dieser Veränderungen hat zu einer Verbesserung der Gesamtlage geführt. So bedeutet die Schwerpunktsetzung auf die Kita zwangsläufig eine Benachteiligung der anderen sozialpädagogischen Arbeitsfelder wie Jugendhilfe, offene Jugendarbeit oder Kinder- und Jugendpsychiatrie (vgl. hierzu z. B. IGFH 2022). Zudem führen die verschiedenen Strukturen dazu, dass sich die Aus- und Weiterbildungsinstitute sowohl untereinander als auch im eigenen Hause selbst Konkurrenz machen. Es scheint, als seien die Möglichkeiten ausgereizt zu sein, denn ein substanzieller Zuwachs an AbsolventInnen ist kaum zu verzeichnen, die Wartelisten sind so gut wie leer. So bestanden schon 2020 mehr Aus- und Weiterbildungsplätze als BewerberInnen (Anfrage SPD Landtag SH). Dieser Hinweis deutet an, dass wir es mit einem größeren Problemkreis zu tun haben. 3. Beispiel: Praxis Wer kennt nicht die engagierte Erzieherin, die gerne in der Kita arbeiten möchte, aber zu Hause bleiben muss, um sich sowohl um ihre Mutter als auch um ihr dreijähriges Kind zu kümmern, das keinen Kitaplatz erhält, weil das Personal fehlt? Oder den Krankenpfleger - Vater von drei Kindern -, der sich, statt in der Klinik zu arbeiten, um seine eigenen pflegebedürftigen Eltern kümmern muss. Bestenfalls ist eine - wohlgemerkt nicht auskömmliche! - Teilzeitbeschäftigung möglich, die es immerhin erlaubt, sowohl eigene Kinder als auch ggf. zu pflegende Angehörige zu versorgen - ein sehr weit verbreitetes Modell gerade in vielen Arbeitsfeldern der sozialen Berufe (vgl. AKJStat 2022; Weber 2023). Es ist u. a. dieser Teufelskreis, der sich über die Jahre hat verselbstständigen können und ein Beispiel für das ist, was die Soziologie „double-front-care“ nennt, Sorgearbeit, die in der Regel von jungen Frauen erbracht wird und drei Generationen umfasst. Hinzu kommen Arbeitsverdichtung und zunehmende Belastung durch mehr Aufgaben in der beruflichen Praxis (Stichwort: Dokumentation, QM, diffuse Aufgabenpaletten wie im §19 Ki- TaG-SH „Pädagogische Qualität“). Kurz: sowohl das Personal als auch der Arbeitskräftemarkt selbst gleichen ausgequetschten Zitronen - „da kommt beim besten Willen nichts mehr heraus“. Exkurs Es lohnt sich ein kurzer Blick über den Tellerrand der Care-Berufe: Firmen und Betriebe insbesondere in der freien Wirtschaft überschlagen sich angesichts dieser Situation mit besonderen Angeboten und Zugeständnissen für Interessierte. Es ist Fantasie gefragt: „Aber die Schrumpfung lässt sich aufhalten, wenn alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um Ältere im Job zu halten, berufliche Entwicklung von Frauen zu stärken, Zuwanderer anzuziehen und zu integrieren, Arbeitslosigkeit weiter abzubauen und die Geburtenrate zu erhöhen“, sagte der oben zitierte Weber. Sicher ist jedoch, dass diese Maßnahmen, die politisch diskutiert und zum Teil auf den Weg gebracht wurden, zu spät kommen oder aber schon länger ohne nachhaltigen Erfolg praktiziert werden (siehe unten). Jetzt auf höhere Löhne oder 4-Tage-Woche zu setzen, ist nicht nur naiv, sondern viel zu schlicht gedacht. Auch der aktuell mitunter zu hörende Ruf nach Digitalisierung (KI), Seniorenprogrammen, Schulungsprogrammen für Langzeitarbeitslose, erneute Weiterbildung oder gezielter Einwanderung erscheint als der verzweifelte Griff nach einem letzten Strohhalm. Schließlich gehen ältere ArbeitnehmerInnen nicht ohne Grund in den Ruhestand, der Krankenstand 264 uj 6 | 2023 Fachkräftemangel spricht deutliche Worte. Zudem war der Arbeitsmarkt schon in der Vergangenheit nicht in der Lage, Langzeitarbeitslose oder vermeintlich schlechter (aus)gebildete, qualifizierte SchülerInnen und BerufsumsteigerInnen zu motivieren, und zu guter Letzt ist zu konstatieren, dass berufliche Integration bei Migration kein Vorzeigeprojekt bundesdeutscher Politik war bzw. ist. 4. Veränderte Erwartungen Die „Generation Z“, auf der jetzt die Hoffnungen lasten und die die jetzt in Rente gehenden „Babyboomer“ ablösen soll, ist jedoch rein zahlenmäßig nicht annähernd in der Lage, diese Lücke zu füllen. Demografisch gesehen ist der Zug ohnehin bereits längst abgefahren, da auch schon die vorlaufenden Generationen zahlenmäßig viel zu klein sind. Hinzu kommt, dass die Vorstellungen von Lebensgestaltung und Lebensplanung sich unter der Hand derart verändert haben, dass sie kaum kompatibel sind mit vielen eher noch traditionell gestrickten Arbeitsstrukturen und -zeitmustern. Angesichts der Lage der Welt ist dies auch kein Wunder: Klimawandel, Krieg in Europa, Pandemie, Energiekrise, explodierende Kosten, zunehmender Rechtspopulismus, Fluchtbewegungen und die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte haben die Erwartungen nicht nur der Generation Z beeinflusst. Immer mehr (zukünftige) ArbeitnehmerInnen setzen auf Flexibilität, Homeoffice, hybrides Arbeiten, Remote Work, Desk Sharing, Mitbestimmung, flache Hierarchien, Wertschätzung - kurz Work-Life-Blending statt Work-Life-Balance. Ein - aus der Sicht der Arbeitgeber - Unwort macht die Runde: Quiet Quitting - man erfüllt seine Aufgaben sicher, gut und zuverlässig, aber eben auch nicht mehr. Gefordertes oder gewünschtes zusätzliches Engagement wird sorgfältig auf die Goldwaage gelegt, Nachteile und Vorteile gegeneinander abgewogen. Aber Obacht vor Fehlschlüssen: Diese Generation hat keine Angst vor Arbeit, sondern vor starren und verkrusteten Strukturen: „Die Menschen stellen heute andere und teils auch höhere Ansprüche. Sie möchten etwa individuelle Arbeitszeiten, die sich eher dem eigenen Leben anpassen und nicht umgekehrt“, so der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber in der Frankfurter Rundschau vom 1.11.2022. Der Sozialisationsforscher Klaus Hurrelmann ergänzt, dass die junge Generation im Arbeitsleben auf eine durch die ältere Generation geprägte Tradition von Arbeitsmoral, Arbeitsrhythmus und Arbeitsstil trifft (beide zit. n. Weber 2022). Sicher darf man aktuelle Trends nicht verallgemeinern oder alle Mitglieder einer Generation über einen Kamm scheren, aber zurückdrehen lässt sich das Rad der Geschichte der Arbeitswelt wohl nicht. Gerade die Zeit der Pandemie hat die Tür in Richtung alternativer Arbeitsformen und -zeiten geöffnet bzw. umgekehrt und - mit Blick auf die sozialen und pflegerischen Berufe - Belastungen, Zumutungen und Entwürdigungen noch deutlicher werden lassen. Das ehemals ideelle Flair der pflegerischen und sozialen Berufe gepaart mit einer gehörigen Portion Altruismus und Engagement aufseiten der Mitarbeitenden hat arg gelitten und droht sich unter der rauen Wirklichkeit der beruflichen Praxis in Luft aufzulösen. Bezogen auf personenbezogene Dienstleistungen deutet sich ein Horrorszenario an: Denn mit dem dort üblichen Schichtdienst, langen Arbeitszeiten, geringem Ansehen und mageren Löhnen (trotz Verbesserung) und den starken personellen Fluktuationen können die Träger von Einrichtungen kaum punkten. 5. Zukunft der Arbeit? Mit aller Vorsicht steht zu befürchten, dass sich hier eine „Kündigung einer Idee“ andeutet: „Es ist weniger ein Protest gegen die Arbeit selbst als gegen den ideologischen Überbau der Ar- 265 uj 6 | 2023 Fachkräftemangel beit“, ein „frontaler Angriff auf die bisherige Angestellten-Doktrin“ (Siemons 2023, 32). Die Zukunftsversprechen, die vorher schon brüchig waren, sind spätestens mit Corona und dem Ukrainekrieg zusammengebrochen (vgl. Amlinger/ Nachtwey 2022; Rosa 2022). Oder in den Worten von Hartmut Rosa: „Wir haben nicht mehr das Gefühl, wir gehen auf eine verheißungsvolle Zukunft zu, sondern wir laufen vor einem Abgrund weg, der uns von hinten einholt“ (2022, 52). Nicht von ungefähr bezeichnet sich eine große Umweltschutzbewegung „Letzte Generation“. Beschweren darf sich keiner, schon gar nicht die Babyboomer-Generation, die schließlich verantwortlich zeichnet, obwohl sie es hätten besser wissen müssen, sind sie doch schließlich mit Jute statt Plastik, autofreien Sonntagen (Ölkrise) und den „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome (1972) groß geworden. Wir haben alle den Baum der Erkenntnis (Maturana/ Varela 1987) gelesen und Becks Risikogesellschaft (1986) und Die Erfindung des Politischen (Beck et al. 1996) - richtig verstanden aber wohl nicht. Auch diskutieren wir seit Jahren den Bolognaprozess im tertiären Bereich der Bildung, Kompetenzorientierung, Transdisziplinarität, Prävention, Inklusion und ökologisch-systemische Zusammenhänge, handeln aber nicht danach. Stattdessen werden wir immer besser darin, das Rad mit den alten Bauplänen neu zu erfinden (vgl. nur exemplarisch aus jüngster Zeit für die Frühförderung kritisch Sohns 2022 und für Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung 2022). 6. Versäumnisse Die Tatsache, dass die Babyboomer-Generation in den nächsten Jahren in Rente gehen wird, ist nicht erst seit heute bekannt. Wer einigermaßen rechnen und die Entwicklung der Bevölkerungsstatistik lesen konnte, wusste seit Jahrzehnten, dass diese Situation auf uns als Gesellschaft zukommt und nicht aufzuhalten war und ist. Die Leiterin der Arbeitsagentur für Arbeit Andrea Nahles hat schon recht: Wer allzu lange Alarm ruft, wird irgendwann nicht mehr gehört (vgl. Bollmann 2023). Hier zeigen sich Versäumnisse nicht nur der Politik, sondern auch vieler anderer Wissenschaften, die in den letzten Jahren immer so getan haben, als ginge die Entwicklung so weiter. Neoliberalisierung und Deregulierung der Märkte haben zu dieser Illusion beigetragen (vgl. Reckwitz/ Rosa 2021; Reckwitz 2019; Nachtwey 2016). Die neoliberale Gesellschaft scheint festzuhängen in einer Endlosschleife von höher, schneller, weiter (u. a. zuletzt Rosa 2022). Ein kritischer Blick auf das zu beobachtende Krisenmanagement offenbart daher auch folgerichtig ein eher selbstreflexives, systemimmanentes Denken der Planenden, PersonalerInnen und Entscheidenden, ein Muster des „mehr derselben“ der sattsam bekannten Strategien. Das Denken in sich selbst reproduzierenden scheinbar alternativlosen Argumentationsschleifen gebiert denn auch erwartbare „Lösungen“ - Lösungen erster Ordnung nach Watzlawick (z. B. 1994). So schlägt zum Beispiel ein Beratergremium der Kultusministerkonferenz Folgendes vor: Um die Lage zu entspannen, sollen demnach Lehrkräfte z. B. zeitweise mehr arbeiten, Teilzeitmöglichkeiten könnten eingeschränkt werden und gegebenenfalls sollten größere Klassen gebildet werden; Selbstlernzeiten für die SchülerInnen könnten das Lehrpersonal zusätzlich entlasten, so die Kommission (vgl. Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz 2022; zuletzt Ministerium für Allgemeine und Berufliche Bildung, Forschung und Kultur 2023). Insgesamt scheint sich einerseits eine toxische Klientelpolitik und Interessensorientierung bei Verbänden, Gewerkschaften, Parteien weiter zu verfestigen. Andererseits verselbstständigen und isolieren sich selbstreproduzierende Verwaltungs-, Hilfe- und Bildungssysteme, die dazu neigen, ihre Existenzberechtigung durch Autopoiese abzusichern. 266 uj 6 | 2023 Fachkräftemangel 7. Lasten Mit ein wenig Nachdenken erschließt sich schnell, dass diese Strategie zu Lasten der jetzt im Betrieb arbeitenden MitarbeiterInnen, der Familien und der Kinder und Jugendlichen gehen wird. ➤ Das vorhandene Personal wird künftig nicht mit weniger, sondern mit mehr auskommen müssen: mehr Kindern in den Gruppen, mehr SchülerInnen in den Klassen, mehr Lebensarbeitszeit, mehr Wochenarbeitszeit, mehr Vertretung, mehr Überstunden. Die Folgen liegen auf der Hand: ein Teufelskreis von Überlastung durch Personalmangel und Personalmangel durch Überlastung! ! 3 Zusammen mit zunehmender Arbeitsverdichtung und vor allem dem Gefühl, keine Kontrolle über die eigene Arbeit mehr zu haben, führt dies zu Burnout und Abwanderung. Weber (2023, 132ff ) weist darauf hin, dass 2/ 3 (! ) der erwerbstätigen Mütter in Deutschland teilzeitbeschäftigt sind. Hintergrund ist oft die Übernahme der - nicht bezahlten (! ) - Sorgearbeit - (sog. „Gender Care Gap“) - und sich damit in Gefahr der Altersarmut zu bringen (zu dem Gender Pay Gap kommt also noch der Gender Pension Gap). Diese schon längst bekannte gravierende Ungerechtigkeit wurde infolge der Pandemie massiv verstärkt durch eine „entsetzliche Retraditionalisierung. Die Aufgabenverteilung zwischen Männern und Frauen ist wie in alten Zeiten, eine Rolle zurück“ (Allmendinger zit. n. Weber 2023, 137). ➤ Und nicht nur die MitarbeiterInnen leiden, sondern auch die Familien. Denn - um ein Beispiel zu nennen - um Arbeitskräfte zu gewinnen, kann es notwendig sein, Kinder von morgens 7.00 bis abends um 17.00 oder länger in Einrichtungen betreuen zu lassen. Es gibt bereits Kitas, deren Öffnungszeit 24/ 7 beträgt - eine in der Entwicklungspsychologie durchaus umstrittene Entwicklung. Auch die Einführung des Ganztags hat u. a. auch den Sinn, unter dem Label der Vereinbarkeit von Familie und Beruf letztlich Arbeitskräfte zu gewinnen, wobei sich die Frage stellt, ob nicht hier der Anteil „Familie“ und die Quality Time schrittweise auf der Strecke bleiben müssen. ➤ Nicht oder nur kaum kommuniziert werden schließlich die Folgen für die Kinder und Jugendlichen. Deren Belastungen werden ohne Zweifel zunehmen, denn größere Gruppen und längere Betreuungszeiten gehen nicht spurlos an ihnen vorbei und können eine erhebliche Belastung für deren Entwicklung darstellen. Dies gilt insbesondere für Kinder in belastenden und/ oder behindernden Lebenslagen. ➤ Zu warnen ist in diesem Zusammenhang vor einer weiteren Deprofessionalisierung des Personals, denn wenn immer weniger ausgebildetes Personal zur Verfügung steht, wird zu sog. „Helfenden Händen“, d. h. nicht passend ausgebildeten Menschen, gegriffen. Dies ist eine Praxis, wie sie in Förderzentren und manchen Kitas sowie der Kinder- und Jugendhilfe bereits anzutreffen ist. Die Arbeit in Jugendhilfe, Bildung und Pflege jedoch ist höchst anspruchsvoll und erfordert beste Qualifikation. 8. Streichen - Kürzen - Abspecken Solange aber die politischen EntscheiderInnen und ihre BeraterInnen auf die bekannten Muster setzen, wird sich - so steht zu befürchten - das Problem nicht lösen können (vgl. u. a. die Fachkräftestrategie der Bundesregierung 2022 oder die Kreditanstalt für Wiederaufbau). Ehrlich wäre - auch wenn‘s schwerfällt - das Zugeständnis, dass es nur weitergeht mit Streichen, Kürzen, Abspecken - bei Angeboten, Qualität, Personal - sowie bei gleichzeitiger Inanspruchnahme und Reaktivierung von Selbsthilfe und bürgerschaftlichem Engagement. Die sogenannten freiwilligen Leistungen von Kommunen, Land und kreisfreien Städten sind bereits 267 uj 6 | 2023 Fachkräftemangel in der Vergangenheit Streichungen zum Opfer gefallen. Sozialpsychiatrische Angebote, Trialogische Seminare, Begegnungsstätten, offene Jugendarbeit, aufsuchende soziale Arbeit - Streetwork, Angebote für Suchtkranke und psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche sind Mangelware - mit einschlägigen Konsequenzen und einer leider viel zu kleinen Lobby. Die politisch Verantwortlichen ahnten wohl schon Ungemach, weshalb sie lieber auf jederzeit kürz- und streichbare Projektfinanzierung gesetzt haben. Demnächst werden wir aber vermutlich auch auf viele liebgewonnene Errungenschaften der letzten Jahrzehnte verzichten müssen: Rechtsansprüche auf Leistungen der Eingliederungs- und Jugendhilfe (vgl. IGFH 2022), Rechtsansprüche auf Kindergarten- und Krippenplatz gehörten hierzu, der Ganztag in der Schule wird in der angedachten Form wohl kaum kommen können. Allerdings darf bei einer Neuorientierung (heil-, sozial-)pädagogischer Leistungen nicht die bekannte Strategie verfolgt werden, so zu tun, also ob die versprochene Qualität tatsächlich gesichert und Inklusion verwirklicht werden würde. Unter diesen Labels - entstanden in einer Zeit der Prosperität - sind uns schon in der jüngsten Vergangenheit massive Kürzungen untergejubelt worden. Es gilt, in den ergebnisoffenen Dialog zu gehen und über die verbliebenen Möglichkeiten breit zu streiten und auch über den Tellerrand zu schauen. Hinzu muss zwingend die Suche nach einer Lösung zweiter Ordnung kommen, z. B. die Prüfung, ob bekannte sozial-, schul-, heilpädagogische Leistungen nicht auch anders gestrickt werden können, ohne an Qualität einzubüßen. Transdisziplinarität, Inklusion, Sozialraumorientierung, systemisch angelegte Hilfen und UnterstützerInnenkreise können dabei hilfreiche Orientierung sein. Dabei lohnt es sich, Projekte zu verstetigen, die bereits gezeigt haben, dass ohne Qualitätsverlust sowohl Personal effektiver eingesetzt als auch finanzielle Mittel gespart werden können (z. B. Sohns 2022; Kal 2006). 9. Schluss Die skizzierte Lage - sie mag überzeichnet sein - trifft auf eine Gesellschaft, die gewohnt ist, eigene Bedürftigkeit zu ignorieren, Dienstleistung zu delegieren, nach wie vor zu separieren, anstatt zu diversifizieren und Vielfalt gelten zu lassen. Große Teile der „Sorgearbeit“ sind in den letzten Jahrzehnten in professionelle Hände verlagert worden, schon, weil die traditionellen lokalen, kirchlichen und sozialen Strukturen erodiert sind und soziale sowie geografische Mobilität stark zugenommen haben. Die von Beck (1986) beschriebenen Tendenzen der Individualisierung und Pluralisierung sowie die Reflexive Modernisierung (vgl. Beck et al. 1996) haben jetzt ihre volle Durchschlagskraft entfalten können und können nun als „regressive Modernisierung“ beschrieben werden (Amlinger/ Nachtwey 2022, 96). Wir haben uns wohlig eingerichtet in dieser Welt parallel existierender selbstreferenzieller Subsysteme und ihren Insignien Urkunde, Siegel-Stempel, Zeugnis, Bescheid. Und merken erst jetzt in der Krise, wie wir heillos verstrickt und verheddert sind in Verwaltungsvorschriften, Rechtsnormen und juristischen Auseinandersetzungen. Ein signifikantes Beispiel hier ist die quälende, entwürdigende Prozedur der Anerkennung ausländischer Abschlüsse, deren Subtext bestimmt wird von Misstrauen und Ablehnung. Längst hätten Tausende zugewanderter oder geflüchteter Menschen dem (pädagogischen) Arbeitsmarkt zugeführt werden können. Stattdessen drängen wir sie zur Nachqualifizierung durch unser Bildungssystem - ein Initiationsritus. Die Aufgabe der Sozialen Arbeit wird es sein, sowohl an Lösungen zu arbeiten als sich auch für die Erhaltung von Standards einzusetzen. StD Dr. Martin Stahlmann E-Mail: martin.stahlmann@web.de 268 uj 6 | 2023 Fachkräftemangel Anmerkungen 1 1993, 61, Hervorh. i. Orig. 2 Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Lobbyarbeit der Eltern-, Arbeitgeber- und Trägerverbände besonders hier am erfolgreichsten war. Denn auch in der offenen Jugendarbeit, Behindertenhilfe, Jugendhilfe oder Psychiatrie ist die Personalnot sehr groß, ohne allerdings über eine annähernd schlagkräftige Lobby zu verfügen. 3 Die Alternative „Homeoffice“, auf die nicht wenige Unternehmen setzen, muss aber nicht zwingend die Lösung sein. Zwar sparen die Firmen durch Umstrukturierung ihrer Gebäude (Desk Sharing; Coworking Spaces) viel Geld, aber der Preis kann auch hoch sein (Vereinsamung etc.). Und dieses Modell eignet sich nun wahrlich nicht bei personenbezogenen Dienstleistungsberufen. Literatur Afflerbach, L. K., Meiner-Teubner, C. (2022): Kindertagesbetreuung im Jahr 2022 - zwischen Ausbaubedarf und Fachkräftemangel. KomDat 25(3), 1 - 4 AKJStat (2022): Der Informationsdienst der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik. Ausgabe 03/ 2022. In: https: / / www.akjstat.tu-dortmund.de/ komdat/ , 29.03.2023 Amlinger, C., Nachtwey, O. (2022): Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp, Berlin Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main Beck, U. (1993): Die Erfindung des Politischen. Suhrkamp, Frankfurt am Main Beck, U., Giddens, A., Lash, S. (1996): Reflexive Modernisierung. Suhrkamp, Frankfurt am Main Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2022): Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme. In: https: / / www. laendermonitor.de/ de/ startseite, 29.03.2023 Bollmann, R. (2023): „Wir sind die Agentur für Arbeit, nicht für Freizeit“. In: https: / / www.faz.net/ aktuell/ wirtschaft/ arbeitsagentur-chefin-andrea-nahles-iminterview-18652101.html, 29. 3. 2023 Bundesregierung (Hrsg.) (2022): Fachkräftestrategie der Bundesregierung. Berlin Club of Rome (1972): Die Grenzen des Wachstums. In: https: / / clubofrome.de/ die-grenzen-des-wachstums/ , 29. 3. 2023 Deutsches Jugendinstitut (DJI) (2022): Bildungsbericht 2022: Fachkräftemangel drängendstes Problem der Frühen Bildung. In: https: / / www.dji.de/ veroeffentlichungen/ pressemitteilungen/ detailansicht/ article/ 1149-bildungsbericht-2022-fachkraeftemangel-draengendstes-problem-der-fruehen-bildung. html, 29. 3. 2023 Deutschlandfunk (2022): Warum Arbeitskräfte fehlen und was dagegen getan wird. In: https: / / www. deutschlandfunk.de/ arbeitsmarkt-fachkraeftemangel-zuwanderung-arbeitslosigkeit-deutschland-100. html, 29. 3. 2023 Hickmann, H., Koneberg, F. (2022): Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken. IW-Kurzbericht, 67. Institut der deutschen Wirtschaft, Köln Hildebrandt, T. (2022): „Zehn Jahre Lehrermangel“ - Ministerin löst Diskussion aus. In: https: / / www.ndr. de/ nachrichten/ niedersachsen/ Zehn-Jahre-Lehrermangel-Ministerin-loest-Diskussion-aus-,lehrermangel268.html, 29. 3. 2023 Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGFH) (2022): Das Inobhutnahme-System steht vor dem Kollaps. Positionspapier 2022. In: https: / / www. sozial.de/ mangel-an-fachkraeften-in-der-kinder-undjugendhilfe-wirkt-sich-dramatisch-aus.html, 11. 3. 2023 Kal, D. (2006): Gastfreundschaft. Das niederländische Konzept Kwartiermaken. Paranus, Neumünster Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung Schleswig-Holstein (Hrsg.) (2022): Das ist uns wichtig: Von der Kindheit bis ins Alter - Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf inklusive! Kiel Maturana, H., Varela, F. J. (1987): Der Baum der Erkenntnis. Goldmann, Bern Ministerium für Allgemeine und Berufliche Bildung, Forschung und Kultur (2023): Handlungsplan Lehrkräftegewinnung. Bildungsministerin Karin Prien und Allianz für Lehrkräftebildung stellten erstes Maßnahmenpaket vor. In: https: / / www.schleswig-holstein. de/ DE/ landesregierung/ ministerien-behoerden/ III/ Presse/ PI/ 2023/ Februar/ 20230228_hp_lehrkraeftegewinnung.html, 29. 3. 2023 Nachtwey, O. (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main NDR (2022): Kita-Studie: In Schleswig-Holstein fehlen 18.000 Plätze. In: https: / / www.ndr.de/ nachrichten/ schleswig-holstein/ Studie-In-Schleswig-Holsteinfehlen-18000-Kitaplaetze,kitaplaetze128.html, 29. 3. 2023 Rauschenbach, T. (2018): Nach dem Ausbau ist vor dem Ausbau - Kindertagesbetreuung vor neuen Herausforderungen. Nachrichtendienst des Deutschen Vereins 9, 453 - 459 269 uj 6 | 2023 Fachkräftemangel Reckwitz, A. (2019): Das Ende der Illusionen. Suhrkamp, Frankfurt am Main Reckwitz, A., Rosa, H. 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Kiepenheuer & Witsch, Köln ZEIT ONLINE (2022): Deutschland könnte bis 2035 sieben Millionen Arbeitskräfte verlieren. In: https: / / www.zeit.de/ arbeit/ 2022-11/ arbeitsmarkt-fach kraeftemangel-verlust-demografischer-wandel? utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de, 29. 3. 2023 - Anzeige -
