unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art36d
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2023
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Rezension: Zirlewagen, Marc
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2023
Werner Michl
Zirlewagen, M. (2022a): Vom SS-Obersturmführer zum Handballdoktor. Die zwei Leben des Dr. Walter Schmitt (1909–1971) Beiträge zur Geschichte der Schule Schloss Salem, Bd. 1. BoD, Norderstedt. 190 Seiten, ISBN 978-3-7557-6749-7, € 9,95
Zirlewagen, M. (2022b): Akteure, Gegner und Opfer der Schule Schloss Salem im „Dritten Reich“. Ein biographisches Lexikon Beiträge zur Geschichte der Schule Schloss Salem, Bd. 2. BoD, Norderstedt. 300 Seiten, ISBN 978-3-7562-7676-9, € 24,99
Marc Zirlewagen hat zwei inhaltsreiche Bücher vorgelegt, die eine große Lücke füllen. Mit größtem Fleiß hat er schonungslos, detailversessen und mit sicherlich tiefer Recherche die NS-Zeit auf Schloss Salem nachgezeichnet. Band 1 und 2 der Beiträge zur Geschichte der Schule Schloss Salem sind 2022 erschienen.
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270 uj 6 | 2023 Rezensionen Der Band 1 stellt die zwei Leben des Dr. Walter Schmitt dar, eine schillernde Figur in der NS- Zeit und eine geachtete Persönlichkeit der Nachkriegszeit. Schmitt war stellvertretender Schulleiter der Schule Schloss Salem ab 1944 bis 1945. Wie Zirlewagen ausführt, tauchte er „wie aus dem Nichts auf“ und nach 1945 „auch wieder in dieses ab“ (2022 a, 5). Am Ende des Krieges flüchtete er, wurde gefangen genommen, in ein Internierungslager gesteckt und schließlich entlassen, weil es ihm mithilfe mehrerer Zeugen gelang, sich als Mitläufer darzustellen: Andere, wie z. B. ein Salem-Schüler dieser Zeit, sahen in ihm einen gefürchteten Nazi (ebd., 24) - vermutlich zu Recht. Schon 1949 wurde Walter Schmitt zum Studienrat auf Widerspruch an der Höheren Privatschule in Mannheim ernannt, an der er bis 1961 blieb und wieder eine kleine pädagogische Karriere machte. Zudem machte er sich einen Namen als Förderer des Handballsports und baute die SG Leutershausen, die ursprünglich in der 3. Regionalliga spielte, als Spitzenmannschaft der Bundesliga aus. Der Sportler aus Passion (Turnverein, Handball, Reit- und Fahrverein) studierte in Heidelberg Physik und Mathematik (ab 1927) und entschied sich danach für das Lehramt. Er wurde Sportlehrer und Lehrer für Chemie, Physik und Mathematik (ebd., 36). Ab 1933 bemühte er sich, ein „guter Nationalsozialist zu werden“ (ebd., 37), trat der NSDAP bei, der Reiter-SS und dann der Waffen-SS. Ohne Zweifel war er ein „überzeugter Anhänger der NS-Weltanschauung“ (ebd., 61). Die Schule Schloss Salem stand natürlich unter großem politischen Druck, da alle Internate „in das NS-Erziehungssystem überführt werden“ (ebd., 63) sollten. Der „Salemer Geist“ konnte diesem Ansinnen lange widerstehen. Zunächst musste 1933 der jüdische Kurt Hahn die Schule verlassen. Auf Rat von Zirlewagen, M. (2022 a): Vom SS-Obersturmführer zum Handballdoktor. Die zwei Leben des Dr. Walter Schmitt (1909 -1971) Beiträge zur Geschichte der Schule Schloss Salem, Bd. 1. BoD, Norderstedt. 190 Seiten, ISBN 978-3-7557-6749-7, € 9,95 Zirlewagen, M. (2022 b): Akteure, Gegner und Opfer der Schule Schloss Salem im„Dritten Reich“. Ein biographisches Lexikon Beiträge zur Geschichte der Schule Schloss Salem, Bd. 2. BoD, Norderstedt. 300 Seiten, ISBN 978-3-7562-7676-9, € 24,99 Marc Zirlewagen hat zwei inhaltsreiche Bücher vorgelegt, die eine große Lücke füllen. Mit größtem Fleiß hat er schonungslos, detailversessen und mit sicherlich tiefer Recherche die NS-Zeit auf Schloss Salem nachgezeichnet. Band 1 und 2 der Beiträge zur Geschichte der Schule Schloss Salem sind 2022 erschienen. Rezensent: Prof. Dr. Werner Michl, M. A. Jg.1950; bis 2016 Professor für Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Nürnberg und assoziierter Professor an der Universität Luxemburg. 1996 - 2002 Begründer und Leiter des „Zentrum für Hochschuldidaktik der bayerischen Fachhochschulen - DiZ“ in Kempten. Mitherausgeber der Zeitschrift „e&l. erleben und lernen. Internationale Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen“ und der Buchreihe „erleben und lernen“ uj 6 | 2023 271 Rezensionen FreundInnen verließ er im Juli 1933 Deutschland und gründete 1934 in Gordonstoun die „British Salem School“. Heinrich Blendinger übernahm 1934 die Leitung von Salem, gestärkt durch den Salemer Geist und den mutigen Berthold Markgraf von Baden, wie Golo Mann anmerkte (ebd., 68). Er wurde 1938 abgesetzt, weil es in Salem nichtarische SchülerInnen gab. Erst Ende 1943, vermutlich auch durch die Erkrankung von Blendinger, der weiterhin in Salem wohnte und dort Widerstand leistete und organisierte, wurde Salem zu einer NS-Erziehungsstätte. Nun trat Dr. Walter Schmitt ins Geschehen als stellvertretender Leiter Salems. Der Speisesaal wurde zu einem „Weihesaal“, mit NS-Farben und Bildern von NS-Größen geschmückt, und NS-Parolen wurden in den Gängen aufgehängt. Der Gruß „Heil Hitler“ wurde befohlen. Die Umwidmung Salems in eine nationalsozialistische Schule schritt voran, wenngleich es immer wieder punktuell Widerstand gab. Zirlewagen berichtet von mutigen SchülerInnen und LehrerInnen, von großer Zivilcourage, aber auch von MitläuferInnen und begeisterten Nazis. Als die Alliierten sich Salem näherten, wollte Schmitt Salem als Trutzburg und zu einer „Kampfstätte des Nationalsozialismus“ ausbauen (ebd., 96). Der Endkampf wurde vorbereitet. Vermutlich wurde dieser Endkampf verhindert durch die Abberufung von Dr. Walter Schmitt am 1. April 1945, abgelöst von Rudolf Allgeier, eine sehr dubiose Persönlichkeit, die aber kaum mehr Schaden anrichten konnte, weil die Alliierten kurz vor Salem standen. Schmitt wurde wieder eingesetzt und flüchtete vor den anrückenden französischen Truppen. „Am 13. April 1945 marschierte die Fremdenlegion in Salem ein“ (ebd., 105). Neben einer Zusammenfassung bietet das Buch im Anhang eine Zeittafel und Kurzbiografien wichtiger Persönlichkeiten, die in diesem Zeitraum an der Schule Schloss Salem tätig oder mit ihr verbunden waren. Obwohl sich diese Veröffentlichung auf eine Person konzentriert, ist sie ein spannendes Stück Zeitgeschichte, denn in der und durch die Figur des Dr. Walter Schmitt spiegeln sich viele Facetten dieser schrecklichen Zeit. Das Buch liest sich fast wie ein Roman und fesselt vor allem deswegen, weil hier Zeitgeschichte wie unter einem Brennglas nahegebracht wird und die Leserin und der Leser den Schicksalsfaden Salems, und damit der Schul- und Internatspädagogik, gebannt verfolgen kann. Im 2. Band der Salemer Geschichte (Zirlewagen 2022 b) werden AkteurInnen, GegnerInnen und Opfer in alphabetischer Reihenfolge anhand von Biografien beschrieben. Einige Namen kehren wieder, wie gleich zu Anfang Rudolf Allgeier (2022 b, 29f ), der Nachfolger von Dr. Walter Schmitt. Schon diese erste Biografie zeigt, dass Zirlewagen bestens recherchiert hat und nichts beschönigt. Ansonsten tut sich eine Salemer Welt auf mit Höhen und Tiefen, mit mutigen Menschen, MitläuferInnen und TäterInnen und mit Persönlichkeiten und Netzwerken. Schon die dritte Biografie (Mark Arnold-Forster) bringt eine solche Horizonterweiterung: Die Familien Arnold-Forster und Winthrop-Young sind befreundet (ebd., 13) und senden ihre Söhne, Mark und Jocelyn, zunächst nach Salem, dann nach Gordonstoun. Jocelyn Winthrop-Young war von 1948 - 1959 Leiter der griechischen Anavryta-Schule, einem Jungeninternat nach dem Muster von Salem, und beschreibt dies auch in einem Sammelband, den Hermann Röhrs 1966 herausgegeben hat („Bildung als Wagnis und Bewährung. Eine Darstellung des Lebenswerkes von Kurt Hahn“). Von 1964 - 1974 war er Leiter der Schule Schloss Salem. Nicht wenige ehemalige SchülerInnen kehrten als LehrerInnen nach Salem oder Gordonstoun zurück, z. B. Irmgard Baum (ebd., 15), Otto Baumann (ebd., 16) oder Hans Bembé (ebd., 17). Berthold Markgraf von Baden, der einzige Sohn des Salem-Gründers, setzte sich in einem persönlichen Gespräch mit Hitler für Kurt Hahn ein und beschützte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften die Schule Schloss Salem vor dem Nationalsozialismus. Er war für die Schule ebenso ein Glücksfall wie der Salem-Leiter Hein- 272 uj 6 | 2023 Rezensionen rich Blendinger, der bis 1943 Salem vor vielem Unbill bewahrte. Hildegard Hamm-Brücher (ebd., 86ff ), Salem-Schülerin wie ihr Bruder Ernst Brücher (ebd., 43), wurde später eine der großen Politikerinnen der Nachkriegszeit. Sie saß 42 Jahre im Bundestag, hat zu Recht zahlreiche Ehrungen erfahren, kandidierte 1993 bei der Wahl zur Bundespräsidentin und trat 2002 aus Protest wegen der Möllemann-Affäre aus der FDP aus. Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg arbeitete die Lehrerin Hildegard Disch (ebd., 52f ) entscheidend am Wiederaufbau Salems mit - eine leider vergessene Frau wie bis vor kurzem Marina Ewald. Diese wird zu Recht ausführlich gewürdigt. Sie war der gute Geist von Salem (laut Golo Mann) und „führte 56 Jahre ihres Daseins ein Leben für Salem“ (ebd., 60ff ). Es folgen Biografien berühmter Persönlichkeiten wie Kurt Hahn, Ernst (eigentlich: Ernstel, W. M.) Jünger, Golo und Monika Mann, Elisabeth Noelle-Neumann und Prinz Philip, Duke of Edinburgh, der beim Nazi-Gruß Lachanfälle bekam (ebd., 199). Arnold, P., Kotthaus, J. (Hrsg.). (2022): Soziale Arbeit im Fußball. Theorie und Praxis sozialpädagogischer Fanprojekte Beltz Juventa, Weinheim/ Basel. 294 Seiten, ISBN 978-3-7799-6588-6, € 24,95 (auch als E-Book erhältlich) Rezensent: Prof. h. c. Dieter Kreft Jg. 1936; Verwaltungs- und Erziehungswissenschaftler, Honorarprofessor der Leuphana Universität in Lüneburg. Seit Mitte der 1970er-Jahre publiziert er fortlaufend zum Thema Sport und Soziale Arbeit, zuletzt den Beitrag „Sport“ (mit M. Welsche) im „Wörterbuch Soziale Arbeit“ (Amthor et al. 2021, 874 - 880). Was für eine Entwicklung! Weder das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt von 1922 noch das - immerhin bis 1990 geltende - Gesetz für Jugendwohlfahrt von 1953 kannten den Begriff „Sport“. Die ersten Annäherungen der Sozialen Arbeit an den Sport begannen dann in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre. Und natürlich erwähnt und beschreibt Zirlewagen eine Vielzahl von dubiosen Figuren, von MitläuferInnen und Nazis. Die inhaltliche Fülle dieses Werkes kann hier nur andeutungsweise wiedergegeben werden. Letztlich ist es ein Buch zum Schmökern, denn an das Alphabet braucht man sich nicht zu halten. Eine ausführliche „Chronik der Schule Schloss Salem 1933 - 1945“ am Schluss des Buches (275 - 291) bündelt einige Ergebnisse dieser Untersuchung und bietet einen notwendigen Überblick. Für alle, die sich für die Geschichte von Schule Schloss Salem interessieren, besonders für die weißen Flecken aus dieser Zeit, ist die Lektüre beider Bücher ein Gewinn. Prof. i. R. Dr. Werner Michl Kellerbachstr. 7, 82335 Berg www.wernermichl.de E-Mail: michl@hostmail.de DOI 10.2378/ uj2023.art36d Das ist inzwischen anders. Sowohl die Soziale Arbeit hat den Sport als auch der Sport die Soziale Arbeit für das jeweils besondere Handeln in den Fokus genommen und bedient sich der Möglichkeiten des anderen. Die aktuelle Lektüre dazu hat Mone Welsche, selbst eine der aktiven Entwicklerinnen rund um die modernen
