unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Nachruf auf Otto Speck
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Ferdinand Klein
In großer Trauer und Dankbarkeit nehmen wir Abschied von Prof. em. Dr. Otto Speck, einer großen Persönlichkeit, die mit der Denkkraft des Herzens die Heil-, Sonder- und Sozialpädagogik grundlegend geprägt hat. Sein besonderes Interesse galt der Erziehung des Menschen mit geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten. Er hat das System der interdisziplinären Frühförderung maßgeblich gestaltet, nicht zuletzt durch die Gründung der „Zeitschrift Frühförderung interdisziplinär“ im Jahr 1982.
Für sein wissenschaftliches Werk sowie sein gesellschaftliches und sozialpolitisches Engagement wurde Otto Speck vielfach geehrt. An sein umfangreiches Werk erinnere ich mit persönlichen Begegnungserfahrungen und praxisnahen Beispielen.
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274 uj 6 | 2023 Nachruf Nachruf auf Otto Speck * 25. März 1926 † 11. April 2023 In großer Trauer und Dankbarkeit nehmen wir Abschied von Prof. em. Dr. Otto Speck, einer großen Persönlichkeit, die mit der Denkkraft des Herzens die Heil-, Sonder- und Sozialpädagogik grundlegend geprägt hat. Sein besonderes Interesse galt der Erziehung des Menschen mit geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten. Er hat das System der interdisziplinären Frühförderung maßgeblich gestaltet, nicht zuletzt durch die Gründung der „Zeitschrift Frühförderung interdisziplinär“ im Jahr 1982. Für sein wissenschaftliches Werk sowie sein gesellschaftliches und sozialpolitisches Engagement wurde Otto Speck vielfach geehrt. An sein umfangreiches Werk erinnere ich mit persönlichen Begegnungserfahrungen und praxisnahen Beispielen. von Ferdinand Klein Jg. 1934; arbeitete als Erzieher und Heilpädagoge an den Universitäten Würzburg, Mainz, Halle-Wittenberg, der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und seit 1997 als Emeritus an der Comenius-Universität Bratislava und der Eötvös-Loránd-Universität Budapest 1. Erinnern an die Festschrift „Focus Heilpädagogik. Projekt Zukunft“ - Plädoyer für Heilpädagogik als erziehungswissenschaftliches Grundlagenfach Mit „Focus Heilpädagogik - Projekt Zukunft“ (Opp/ Peterander 1996) wurde Otto Speck in einer akademischen Feier eine Festschrift zum 70. Geburtstag überreicht, in der 43 Persönlichkeiten sein Werk würdigten, in dessen Zentrum das Menschenbild der PädagogInnen, Heil- und SonderpädagogInnen steht. Von den Erfahrungen einer 17-jährigen heilpädagogischen Praxis im Münchener Waisenhaus und mit Kindern mit geistiger Behinderung ausgehend, hat sich Otto Speck seit 1957 für das Recht auf schulische Bildung aller Kinder eingesetzt. Seine ökologisch-reflexive Sichtweise gilt dem sinnerfassenden Dienst für jeden hilfebedürftigen Menschen, überwindet egologisch-monologisches Denken und ist auf ganzheitliche Zusammenhänge in der Lebens- und Erziehungswirklichkeit konzentriert. Speck hat sich nie auf ermüdende metatheoretische Diskurse eingelassen und erzieherische Sachverhalte bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Sein Interesse war auf das Wahrnehmen und Gestalten der Lebens-, Beziehungs- und Erziehungssituation konzentriert. Seine ethischen Reflexionen im Gesamtentwurf moderner Heilpädagogik beachten die Phänomene und Tatsachen der Erziehung: Was soll Erziehung des Menschen mit Behinderung unter den Bedingungen der Zeit beachten und wie ist sie theoretisch zu fassen? Otto Specks re- Foto: privat uj 6 | 2023 275 Nachruf flexive Gedanken stellen ein Gegengewicht gegen den schleichenden Bedeutungsschwund der Heilpädagogik dar, die unter dem alles beherrschenden berechnenden Denken im Bildungswesen ein Auslaufmodell zu werden droht. Diese„Ökonomisierung sozialer Qualität“ (Speck 1999 a) führte zu einem erziehungswissenschaftlichen Studium der Heilpädagogik, das sich auf die Vermittlung von Basiswissen oder Wissenschaftspropädeutik reduziert. Dem Verrechnen des Menschen und seiner Erziehung mit Messlatte, Schnur und Winkelmaß steht die Bildungsfrage gegenüber. Angesichts der Bedrohung des Menschlichen im Menschen muss Heilpädagogik weiter vertieft und ein Fundament für reflexives Berufshandeln aller PädagogInnen werden. 2. Erinnern an Begegnungen mit Otto Speck - heilpädagogische Reflexionen 2.1 Ethik des Anderen Ich verstehe das Begegnen als die Grundvoraussetzung einer modernen Heilpädagogik: Antwort geben und Verantwortung tragen entspringen der Begegnung. In seinem Werk „Existenzphilosophie und Pädagogik“ widmet Otto Friedrich Bollnow der Begegnung große Aufmerksamkeit und bezeichnet sie als „Schlüsselwort unserer Zeit“ (Bollnow 1959, 87). Ich erkenne im Werk von Otto Speck die Ethik des Anderen, die bedingungslose Verantwortung und Sorge für den Nächsten. Diese Ethik nach Auschwitz ist nach dem litauisch-jüdischfranzösischen Sozialphilosophen Emmanuel Lévinas, dessen Familie von den Nationalsozialisten ermordet wurde und dessen Philosophie die philosophische Reflexion der Gegenwart selbst verändert, ganz ursprünglich. Das Antlitz des Anderen ruft uns in die Verantwortung, ohne zu erwarten, dass er sie auch für uns übernimmt. Der Ursprung dieser menschlichen Haltung liegt in einer Tiefenschicht des Menschen, die vor der Reflexion und Sprache liegt. Sie kommt uns aus dem Antlitz des Anderen entgegen und nimmt uns in den Dienst. Auf diese Ethik mache ich bei den folgenden drei Begegnungen aufmerksam. 2.2 Erste Begegnung Mit Freude und Dankbarkeit erinnere ich mich an die erste Begegnung mit Otto Speck. Beim einjährigen „Lehrgang zur Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen an Hilfsschulen“ 1961/ 62 konfrontierte er die 27 TeilnehmerInnen mit seiner Dissertationsschrift „Kinder erwerbstätiger Mütter“ (1956), die er mit sozialpädagogischen Erfahrungen im Münchner Waisenhaus veranschaulichte. Andreas Mehringer war Leiter dieses Hauses der Heimkinder, die er mit dem Wort von Rainer Maria Rilke „Niemandskinder“ nannte, um ihre Verlassenheit zu charakterisieren. Die Kinder waren gesund, aber seelisch verkümmert, mit ängstlichen und leeren Gesichtern, und damit Otto Specks erste Bewährungsprobe als Leiter der Heimschule, denn allzu oft schon hatten sie ihre Fühler ausgestreckt und waren enttäuscht worden. Sozialpädagogik, sozialpädagogisch orientierte Schule waren ein Weg, um den verwaisten Kindern aus ihrer seelischen Not und Einsamkeit zu helfen. Im angebotenen Blick fühlte sich das Menschenkind aufgenommen, in seinem Sein und Werden bestätigt und bestärkt. Ich erinnere mich an eine Vorlesung in der Münchener Hilfsschule an der Klenzestraße, bei der Otto Speck von Hansi sprach, einem 13-jährigen Schüler mit Down-Syndrom, der erst seit Kurzem eine öffentliche Bildungseinrichtung besuchte. Er beschreibt diese Erinnerung im heilpädagogischen Grundlagenwerk „Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung“ (1. Auflage 1971, 2018 in 13. Auflage), das ins Japanische, Russische und Polnische übersetzt worden ist, folgendermaßen: „Eines Tages gelang ihm das 276 uj 6 | 2023 Nachruf Wort ,Lehrer‘. Dieser war hocherfreut über diesen Fortschritt. Der Schüler merkte dies, war seinerseits sichtlich beglückt, versuchte nun unentwegt dieses ,Zauberwort‘, rief also immer wieder ,Lehrer‘ und erhielt jedes Mal die Antwort: ,Ja, Hansi! ‘ Die Blicke trafen sich jedes Mal, und jeder erlebte die Freude des anderen in diesen kurzen Augenblicken als seine Freude“ (Speck 2018, 295). In diesem begegnenden Blick zwischen zwei Menschen, der seit alters als Fenster zur Seele gilt, erleben wir die dialogische Beziehung. In ihr wird, wie Martin Buber sagt, das ewig Seiende sichtbar: „Die Beziehung zum Menschen ist das eigentliche Gleichnis der Beziehung zu Gott: darin wahrhafter Ansprache wahrhafte Antwort zuteil wird“ (Buber 1983, 122). Hier erkannte Otto Speck ganz intuitiv in der Begegnung mit Hansi die Ethik des Anderen. Bald brachte er den Begriff der „spurenhaften Bildungsfähigkeit“ nicht hilfsschulfähiger Kinder in die bildungspolitische Diskussion. In Kooperation mit Eltern und der Heilpädagogin Mathilde Eller, die sich in der Bürgerbewegung „Lebenshilfe für geistig Behinderte“ im November 1958 in Marburg und 1960 in München zusammenschlossen, kämpfte er um das schulische Bildungsrecht sogenannter schulbefreiter Kinder. Mathilde Eller hatte schon ab 1957 außerhalb ihres Dienstes an der Hilfsschule in der Klenzestraße in ihrer „Abendhochschule“ 48 schulbefreite Kinder aufgenommen und regelmäßig unterrichtet. Mit ihrer Arbeit überzeugte die spätere Oberschulrätin von München den Kulturpolitischen Ausschuss des Bayerischen Landtags von der Bildungsfähigkeit dieser Kinder. In einem Nachruf zum Tode der Begründerin der Schule für geistig Behinderte in Bayern schreibt Otto Speck: „Ich erinnere mich noch an eine Aktion im Kulturpolitischen Ausschuss, die ich - als damaliger Verbandsvertreter - mit Frau Eller eingehend vorbesprochen hatte“ (Speck 1999 b, 211). Otto Speck hat eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen im Bereich der Behindertenhilfe entscheidend beeinflusst und mit dem vernünftigen Argument die Politik überzeugt. Dieses Argument finden wir in Otto Specks Heilpädagogik der bedingungslosen Achtung jedes Menschen. Sie hat eine ihrer Wurzeln in der Biografie, die dadurch geprägt ist, dass er in Familie und Schule christliche Werte lebte, mit 17 Jahren den Verlockungen der SS-Aufforderungen, zur SS zu gehen, erfolgreich widerstand und zur Kriegsmarine ging, den Verlust seiner Oberschlesischen Heimat als das „Fürchterlichste“ (Ellger-Rüttgardt 2005, 439) erlebte. Nach Gefangenschaft und einem einjährigen Abiturientenlehrgang war er bereits mit 21 Jahren (Hilfs-)Lehrer. Ihm wurde eine eigene Klasse im Münchener Waisenhaus anvertraut. Diese Biografie macht sensibel für eine Welt im Epochenumbruch. In seiner ökologisch reflexiven Grundlegung „System Heilpädagogik“ (1. Auflage 1988, 6. neu bearbeitete Auflage 2008) lädt Otto Speck ein, sich mit seinem wissenschaftlichen Denken auseinanderzusetzen, das die Fragen des Lebenssinns und der Bewertungsmaßstäbe aufnimmt: Eine Heilpädagogik ohne Sinndeutung degeneriert zu einer positivistischen Förderungstechnologie mit ethischem Indifferentismus. Für Speck geht der unverfügbare Mensch in keinem System auf, das sich auf empirische Fakten und Deutungsversuche beruft. Der Mensch ist eben nicht auf bloße Kausalitäten reduzierbar und rational fassbar. Hier erinnere ich an das Beispiel Hansi, das uns Menschsein in der Beziehung lehrt und das Otto Speck im Anschluss an die Biologie der Liebe von Maturana und Varela sowie an die dialogische Phänomenologie von Merleau-Ponty und Lévinas im wissenschaftlichen Zusammenhang wie folgt erörtert: „Was sich gegen die eigene rationale Reflexion sperrt, ist der Andere in seiner unvergleichbaren, unassimilierbaren, unreduzierbaren Andersheit, der meine Reflexion in uj 6 | 2023 277 Nachruf Frage stellt. Die Resonanz in mir betrifft nicht nur meine Emotionalität und meine Rationalität, sondern sie ist auf eine Transformation meines Bewusstseins gerichtet, freilich nicht über irgendeine Technik des ,Ich - denke‘; sie bewirkt vielmehr ein Sichöffnen für das Sprechen des Anderen, dem gegenüber ich mich ausgeliefert erlebe - und er sich mir. Was sich Auge in Auge ereignet ist Transzendenz, ein ,Denken für…‘, ein Denken über das hinaus was ,man denkt‘, das in ethische Verantwortung und Verpflichtung hineinreicht. Hier entsteht eine Abhängigkeit vom Anderen, durch die aber die eigene Autonomie keine Einbuße erleidet, sondern eine neue Qualität gewinnt. Das Menschsein ist vom Anderen her begründet“ (Speck 2008, 24). Nicht ein namenloses Niemandskind, sondern Hansi wird mit seinem Namen gerufen, in seinem Leben bejaht. Er spricht uns durch sein Antlitz an, wir begegnen einander. Hier nehmen wir eine menschliche Urleidenschaft wahr, die in der „Sphäre des Zwischen […] als Urkategorie der menschlichen Wirklichkeit“ (Buber 1982, 165) ihre Wurzeln hat. Dieses Zwischen ist keine „Hilfskonstruktion, sondern wirklicher Ort und Träger zwischenmenschlichen Geschehens“ (ebd.). Hansi ruft uns in die Verantwortung zum unbedingten Handeln und für ihn Gutes zu tun. Die Resonanz in uns ist hier auf die Transformation unseres Bewusstseins gerichtet, Auge in Auge ereignet sich Transzendenz und ein im Leiblichen verankertes Gefühl eines tiefen gemeinsamen Daseinswillens wird soziale Wirklichkeit. Wir nehmen hier in der heute so verunsicherten Zeit einen Gegenentwurf zu allen selektionsorientierten Bewertungskriterien über den unverfügbaren Anderen wahr und erkennen: Das eigentliche pädagogische Verhältnis ist das ethische Verhältnis des Menschen mit Behinderung und seines Erziehers bzw. seiner Erzieherin, das jedem Denken vorausgeht und sich im konkreten Vollzug immer wieder neu verwirklicht. 2.3 Zweite Begegnung Gerne erinnere ich mich an die Zeit von 1992 bis 1994, in der ich als kommissarischer Aufbaudirektor das älteste deutsche Institut für Heil- und später Rehabilitationspädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, das seit 1949 besteht, neu zu begründen hatte. Eine eingerahmte schlichte Urkunde, verliehen von den StudentInnen des Instituts im Mai 1994, begleitet mich bis heute. Sie lautet: „In Chaos liegt (…) sowohl das Gestaltlose, Undurchdringliche, Leere und Finstere als auch das schöpferische Potenzial für ständig neu zu Bildendes.“ (Otto Speck) Urkunde für das besondere Engagement bei der Beseitigung des destruktiven Chaos’ während des Prozesses der Rehabilitation unseres Institutes erhält der Vorsitzende der Berufungskommission Prof. Dr. Klein eine Auszeichnung (OMA*) sowie die tiefempfundene Dankbarkeit… * OMA = ohne materielle Anerkennung“ Das Urkunden-Zitat finden wir in Otto Specks Werk „Chaos und Autonomie in der Erziehung“ (Speck 1997, 16). Der zentrale Gedanke ist, dass Erziehung vor dem Chaos nicht kapitulieren dürfe, sondern den Autonomie-Anspruch auf der Basis gegenseitiger Fairness zur Geltung zu bringen und sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren habe, um Freiheit und Würde nicht zu verlieren. Otto Speck erkennt das Gute im Kind als Ausgangsbasis eines normativen ErzieherInnenhandelns, das die moralische Kategorie in die Autonomiebildung einbindet. Das kann nur gelingen, wenn ErzieherInnen sich um Selbstentwicklung bemühen, den Umgang mit Unzulänglichkeiten und Möglichkeiten reflektieren. Diese Arbeit an sich nannten der Philanthrop und Theologe Christian Gotthilf Salzmann und der Heilpädagoge Paul Moor „Selbsterziehung“. Selbsterziehung übersteigt die Semantik des Begriffs der Selbstevaluation aus der ange- 278 uj 6 | 2023 Nachruf wandten Sozialforschung, bedeutet ein Ringen um Selbsterkenntnis und Ausbilden einer Willenskraft, das Erkannte auch umzusetzen, indem der methodische Umgang mit den eigenen Unzulänglichkeiten und Potenzen reflektiert wird. Otto Speck hat mit dieser erkennenden Haltung die Neustrukturierung des Halleschen Instituts unterstützt. Es ging ihm, im Gegensatz zu anderen sogenannten Wessis, um ein vernünftiges Klären der Sachverhalte und dadurch Stärken des anderen Menschen. In Gesprächskreisen mit Otto Speck und den noch verbliebenen InstitutsmitarbeiterInnen versuchten wir uns bewusst zu machen, dass die eigene und fremde Biografie in persönliche und geschichtliche Zusammenhänge eingebunden ist und deshalb erst in einem längeren Entwicklungsprozess gewandelt werden kann. Dieser selbstreflexive Bildungsbegriff ist auch heute noch aktuell. Pädagogische Denkschriften mahnen, es komme zu einer technokratischen Umsteuerung des gesamten Bildungswesens, weil Politik und Administration es für ihre Zwecke instrumentalisierten. Das verschärfe die Fremdbestimmung aller Einrichtungen. Bildung als Wachsen selbstständiger Urteilskraft werde verhindert, wenn Lehrende an Hochschulen und ErzieherInnen in Einrichtungen zu Instruktionsangestellten werden. Hier verkümmere die moralische Dimension der Erziehung, der es um das „oberste Gut“, das Menschliche im Menschen geht. Gegen dieses verkürzte Bildungsverständnis wendet sich Otto Speck. Es geht ihm um das Wachsen am Widerstand, das Professionalität im Sinne gekonnter Beruflichkeit und beruflicher Identität ermöglicht, und Professionalismus, der Eigeninteressen vor die Bedürfnisse der anvertrauten Menschen stellt, verhindert: durch gemeinsames Reflektieren und Prüfen situationsgerechten Handelns (Selbstbewertung, Selbstevaluation; Beurteilung durch MitarbeiterInnen anderer Profession, Eltern oder Menschen mit Beeinträchtigung). Wie diese Professionalität sein kann, zeigt uns Janusz Korczak, der sich bemühte, wie ein Kind zu fühlen, sich in dessen Entscheidungsstrukturen und Sinnzusammenhänge zu versenken (vgl. Klein 2022). Die Praxis seiner Pädagogik wendet sich den Bedürfnissen, Motiven, Fantasien, Interessen, Neigungen und Wünschen, aber auch sachlich begründeten Kausalitäten, Notwendigkeiten, Ordnungen, Regeln, Pflichten und Aufgaben der Kinder zu. Diese heilpädagogische Professionalität, die im interdisziplinären und Disziplinen übergreifenden Diskurs ihre besondere eigene Sichtweise wie die Anderer zu wahren versteht und äußeren Widerständen mit überzeugenden Argumenten zu trotzen vermag (vgl. Klein/ Neuhäuser 2006), fordert das Kind von uns. In seinem Beitrag „Professionalität im sonderpädagogischen Schulsystem - Neue Berufsrollen“ sagt Otto Speck: „Das Kind zielt […] auf das Innere des Lehrers, auf seine Emotionalität und seine Moralität. […]. Heilpädagogische Professionalität, die ihren primären Sinn im Anderen, in den uns anvertrauten Kindern, in den uns begegnenden Eltern und Kollegen, in ihrem unbedingten Wertsein sucht und daher auf der unbedingten Achtung vor dem Anderen gründet, kann die ethische Dimension nicht sich selbst überlassen. Sie muss integrierter Bestandteil unseres Berufsverständnisses sein. […]. Es kann nicht wahr sein, dass die Maximen unseres Handelns nur aus bloßen Diskursen […]. hervorgehen sollen“ (Speck 1999 c, 10f ). 2.4 Dritte Begegnung In der Studie „Mit Janusz Korczak Inklusion gestalten“ (Klein 2018) reflektiere ich die erfahrungsbezogene inklusive Praxis und Forschung und erinnere an das von Otto Speck in den Diskurs eingeführte „spirituelle Bewusstsein“ (Speck 2016). In seiner inklusiven (einschließenden, nicht ausgrenzenden, einheitsstiftenden) Studie erkennt Otto Speck das Herz als geistigen Wesenskern des Menschen, das „schon immer als Sitz der Liebe“ (Speck 2016, 34) gilt. Speck spricht vom Befreien aus der entfremdeuj 6 | 2023 279 Nachruf ten Lebenswelt durch Einlassen auf eine „spirituelle Metamorphose“, bei der die Kunst als Schöpfung eine meditative, intuitive und inspirierende Erkenntnispraxis ermöglicht, die einen biologischen Ursprung hat und auf das Verwirklichen von Menschlichkeit als einer geistigen oder spirituellen Fähigkeit ausgerichtet ist. Speck schrieb mir am 28. 5. 2015 und erläuterte das Erkenntnisparadigma: „Unter dem Aspekt eines Epochenumbruchs lässt sich unter Spiritualität eine reale, innere und menschlich zentrale Dimension verstehen, die angesichts der dominanten Außenorientierung, Versachlichung und Ökonomisierung des Lebens heute zunehmend an Bedeutung gewinnt, nachdem sie durch den Fortschritt des einseitig Rationalen und Technologischen seit Jahrzehnten verdrängt worden ist. Gerade Menschen mit Behinderungen, die sich gegenüber dem allgemeinen Druck steigender Leistungsanforderungen und kalter Rivalität und Selbstdurchsetzung zu behaupten haben, müssen sich stärker auf ihr inneres Leben beziehen und in ihm selbst spirituellen Halt aufbauen. Dies bedeutet, das eigene Ich zu transzendieren in einen Sinnhorizont hinein, der die Maßstäbe des Physischen und Materiellen überschreitet und in die übergreifende Wirklichkeit eines all-einenden Ganzen hineinreicht. Man kann in ihm gegenüber dem kalten physischen Universum ein wärmendes Licht sehen, das ins einzelne reale Leben und in diese Welt der Unzulänglichkeiten hinein strahlt, Stabilität, Hoffnung und Trost geben kann, innerlich beglückt und letztlich über den Tod hinausweist in eine Wirklichkeit, in der der Mensch seinen Ursprung und seine Heimat erkennen kann. Wollte man ein metaphorisches Organ für dieses spirituelle Vermögen benennen, so wäre es das ,Herz‘ - verstanden vor allem als Gegengewicht zur einseitig rationalen Funktion des ,Kopfes‘. Das Herz gilt über alle Zeiten, Kulturen und Religionen hinweg als der spirituelle Wesenskern des Menschen. Es spiegelt und formt das spirituelle Erleben, wenn auch auf eine übersinnliche und unerklärliche Weise.“ 3. Deutung des Werkes von Otto Speck ➤ Otto Specks tiefenhermeneutisches Erkenntnisparadigma ist im Epochenumbruch der Wissenschaft und Praxis (auf )gegeben. Wissenschaft darf kein einsames Denken im Elfenbeinturm sein und keinen Selbstzweck haben. Forschung muss sich legitimieren als elementares Denken aus der Lebenspraxis heraus. Sie gründet in einer globalen Ethik, die über den nationalen Rahmen hinausreicht und der Menschheit dient. Diese Lebensethik macht uns die Einmaligkeit und Gleichwertigkeit aller Lebensformen bewusst. Es geht hier nicht zuerst um Maßnahmen und Regeln, sondern um Sinnerschließung, die das spirituelle Erkenntnisparadigma als rückwärtsgewandte zukunftsweisende Perspektive ans Herz legt. ➤ Otto Speck hat die geistes- und sozialwissenschaftlichen Ansätze mit empirischer Forschung verbunden und wissenschaftliches Bemühen mit der Kraft des gütigen Herzens betrieben. Das Herz als Materialisation der Güte, verstand er als eine tiefe und umfassende Menschlichkeit. Er fühlte sich mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit ihrem Schicksal und mit den Zeitverhältnissen positiv verbunden. Je stärker er diese Verbundenheit erlebte, desto deutlicher wurde das Sinnerleben für die eigene Existenz. Ihm wuchsen im Auseinandersetzen mit belastenden Faktoren, Ärgernissen und Frustrationen Kräfte zu, die aus dem tragenden Sinngrund des Seins hervorgingen. Er fand sich nie mit untätigem Erleiden ab, sondern verarbeitete das seelisch Schmerzhafte, indem er diesem einen Sinn zuschrieb. ➤ Otto Speck hat in vielen Publikationen und Vorträgen eine heilpädagogische Ethik begründet und vertieft, die sich in der Praxis als bedingungslose Verantwortlichkeit und Sorge für den Nächsten erweisen muss. Eltern und ErzieherInnen (PädagogInnen, 280 uj 6 | 2023 Nachruf Heil- und SonderpädagogInnen), aber auch Menschen in Politik und Verwaltung sind gut beraten, wenn sie sich im sich radikal verändernden gesellschaftlichen System mit ihren individuellen und kollektiven Egoismen und Reduktionismen an den von Otto Speck unverzichtbaren Werten orientieren. Menschen, die ihr Handeln auf seine sozial- und heilpädagogische Fachautonomie gründen, können zusammen mit anderen in der Gegenwart die Zukunft gewinnen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Verwirklichung des ethischen Prinzips der unbedingten Zugehörigkeit des Anderen zur menschlichen Gemeinschaft. Prof. em. Dr. Dr. et Prof. h. c. Ferdinand Klein Adalbert-Stifter-Straße 4 a 83043 Bad Aibling E-Mail: ferdi.klein2@gmail.com Literatur Bollnow, O. F. (1959): Existenzphilosophie und Pädagogik. Kohlhammer, Stuttgart Buber, M. (1982): Das Problem des Menschen. Lambert, Heidelberg Buber, M. (1983): Ich und Du. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Ellger-Rüttgardt, S. (2005): Biografie und Wissenschaftsgeschichte: Der Blick auf das Jahr 1945. Zeitschrift für Heilpädagogik 56, 430 - 441 Klein, F. (2018): Mit Janusz Korczak Inklusion gestalten. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Klein, F. (2022): Mit Janusz Korczak die Heilpädagogik gestalten. BHP, Berlin Klein, F., Neuhäuser, G. (2006): Heilpädagogik als therapeutische Erziehung. Reinhardt. München/ Basel Opp, G., Peterander, F. (Hrsg.) (1996): Focus Heilpädagogik - Projekt Zukunft. Reinhardt, München/ Basel Speck, O. (1956): Kinder erwerbstätiger Mütter. Kohlhammer, Stuttgart Speck, O. (1997): Chaos und Autonomie in der Erziehung. Erziehungserschwernisse unter moralischem Aspekt. 2. Aufl. Reinhardt, München/ Basel Speck, O. (1999 a): Die Ökonomisierung sozialer Qualität. Zur Qualitätsdiskussion in Behindertenhilfe und Sozialer Arbeit. Reinhardt, München/ Basel Speck, O. (1999 b): Zum Tode von Mathilde Eller. Behindertenpädagogik in Bayern 42, 211 Speck, O. (1999 c): Professionalität im sonderpädagogischen Schulsystem - Neue Berufsrollen. Pädagogische Impulse 32, Einhefter Speck, O. (2008): System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung. 6. Aufl. Reinhardt, München/ Basel Speck, O. (2016): Spirituelles Bewusstsein. Wissenschaftliche und kulturelle Aspekte - Übersinnliche Erfahrungen. 3. Aufl. BoD, Norderstedt Speck, O. (2018): Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung. 13. Aufl. Reinhardt, München/ Basel
