unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art39d
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2023
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Haltung als Wurzel und Basis traumapädagogischer Entwicklungen
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2023
Jacob Bausum
Der Begriff Haltung hat in der Traumapädagogik eine hohe Bedeutung. Im vorliegenden Artikel werden die Fragen diskutiert, was Haltung eigentlich ist und worin ihr Nutzen in unterschiedlichen Kontexten besteht. Mit Blick auf die Bedeutung von Haltung in der Traumapädagogik wird anhand einiger Beispiele dargestellt, wo und in welcher Weise traumapädagogische Haltung u.a. im Fachverband Traumapädagogik entwickelt und beschrieben wird.
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287 unsere jugend, 75. Jg., S. 287 - 296 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art39d © Ernst Reinhardt Verlag von Jacob Bausum Jg. 1975; Erzieher, Dipl.-Sozialarbeiter, Traumapädagoge, Referent und Mitglied im Leitungsteam des Zentrum für Traumapädagogik/ Welle gGmbH Hanau, Mitglied im Vorstand des Fachverband Traumapädagogik e.V. Haltung als Wurzel und Basis traumapädagogischer Entwicklungen Der Begriff Haltung hat in der Traumapädagogik eine hohe Bedeutung. Im vorliegenden Artikel werden die Fragen diskutiert, was Haltung eigentlich ist und worin ihr Nutzen in unterschiedlichen Kontexten besteht. Mit Blick auf die Bedeutung von Haltung in der Traumapädagogik wird anhand einiger Beispiele dargestellt, wo und in welcher Weise traumapädagogische Haltung u. a. im Fachverband Traumapädagogik entwickelt und beschrieben wird. In den Jahren 1240 bis 1250 verfasste Friedrich II. das Werk „De arte venandi cum avibus - Über die Kunst mit Vögeln zu jagen“, das bis heute das gültige Standardwerk zu diesem Thema ist. Eine beeindruckende Leistung, ein Fachbuch zu schreiben, das seit fast 800 Jahren an Gültigkeit nicht verloren hat. Eine interessante und bemerkenswerte historische Tatsache - aber was hat das mit Pädagogik bzw. mit Traumapädagogik zu tun? Das Etablieren pädagogischer Standards ist weniger nachhaltig als gedacht In der alltäglichen pädagogischen Arbeit erscheinen uns die meisten Methoden, Ideen, Ansätze und Erklärungsmodelle als etwas sehr Einfaches und in der Regel auch als etwas sehr Selbstverständliches, also etwas, das man schon lange kennt und schon lange verwendet. Es entsteht häufig der Eindruck, als würden die KollegInnen und die Einrichtung schon seit vielen Jahr(zehnt)en so arbeiten. Dabei gerät allzu oft aus dem Blick, dass die Pädagogik, wie wir sie aktuell verstehen und betreiben, nicht älter als 40 Jahre ist, und selbst in diesen 40 Jahren viel Entwicklung stattgefunden hat. Basiswissen, auf das sich die Traumapädagogik in ihrer Entwicklung und Gestaltung von Konzepten heute bezieht, entlehnt sich aus unterschiedlichen Fachrichtungen und Fachgebieten. Erkenntnisse aus der Psychoanalyse helfen im psychosozialen Alltag, Übertragungsphänomene besser zu verstehen. Dabei sind die Erkenntnisse der Bindungstheorie oder das Wissen um Trigger, Dissoziationen oder Flashbacks aus dem Wissensschatz der Psychotraumatologie ebenfalls nicht älter als 100 Jahre. Auch wenn das, was wir tun und denken, uns als selbstverständlicher Standard erscheint, sind wir in vielen Bereichen immer noch und immer wieder pädagogische PionierInnen. Zum Einstieg in das Thema Haltung mit einer pädagogischen Perspektive zunächst eine vermeintlich einfache Frage: 288 uj 7+8 | 2023 Traumapädagogische Haltung als Wurzel und Basis „Sollten Kinder zu erzieherischen Zwecken geschlagen werden? “ Ich vermute, im Kreis der LeserInnen dieser Zeitschrift würden wir schnell eine gemeinsame Haltung entwickeln. Denn für uns alle ist Gewalt gegen Kinder mit einer respektierenden und fördernden Pädagogik selbstverständlich nicht zu vereinbaren. Aber haben wirklich alle PädagogInnen diese Haltung? Und wenn ja, seit wann? Mit einigen historischen Momentaufnahmen möchte ich diesen Fragen nachgehen: ➤ Eine erste, eher schockierende Haltung zu dieser Frage lässt sich über den Pädagogen Moritz Schreber (1808 - 1861) finden: „Von den damals üblichen körperlichen Züchtigungen hielt Schreber zwar nichts, aber er riet, den kindlichen Willen von Anfang an zu brechen […] und alle Verfehlungen konsequent mit Liebesentzug zu bestrafen“ (Westhoff 2008). ➤ Die antiautoritäre Erziehung, die in den frühen 1920er-Jahren vor allem von Vera Schmidt (1889 - 1937) und A. S. Neill (1883 - 1973) entwickelt wurde, bezieht schon sehr viel deutlicher Haltung, nicht nur gegen körperliche, sondern auch gegen psychische Gewalt gegen Kinder: „[W]ir machen bei einer Rauferei den Beleidiger auf den Schmerz aufmerksam, den er dem Gegner zugefügt hat, ohne ihn aber dafür zu tadeln usw.“ (Schmidt 2010, S. 10). ➤ Mit dem Buch und Film „Bambule“ (1971) reiht sich Ulrike Meinhof mit ihren journalistischen Arbeiten in die Reihen derer ein, die auf die eklatanten Missstände, besonders von struktureller und willkürlicher Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung aufmerksam machen. Die Heimkampagne, ausgehend von Revolten im Jugendheim Staffelberg (1969), gilt als Initial zur grundlegenden Umwälzung des Jugendhilfesystems in Deutschland. ➤ Die Frauenbewegung der 1980er-Jahre leistete einen zentralen Beitrag zur Enttabuisierung innerfamiliärer Gewalt, im Besonderen auch der sexualisierten Gewalt, und das nicht nur im gesellschaftlichen Kontext. Durch das Verfassen von zahlreichen Fachpublikationen und das Eröffnen von Beratungsstellen wurden wichtige Impulse für die (Weiter-)Entwicklung von Psychotraumatologie und Pädagogik aufgenommen und umgesetzt. ➤ Die Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik (heute Fachverband Traumapädagogik e.V.), die mit der Beschreibung der traumapädagogischen Haltung (vgl. BAG Traumapädagogik 2011) deutlich das Gegenteil von physischer und psychischer Gewalt gegen Kinder als Mittel zur Erziehung beschreibt, entwickelt seit ihrer Gründung inhaltlich sehr praxisorientierte Konzepte, mittels derer diese Haltung in den pädagogischen Alltag integriert werden kann. Die hier getroffene Auswahl ist subjektiv und persönlich, sie hat natürlich viele offene Stellen. Doch ich bin mir sicher, dass Sie, liebe LeserInnen, die PädagogInnen und ProtagonistInnen, die für Sie beim Entwickeln einer pädagogischen Haltung wichtig waren, hier gut einordnen können. Mittlerweile könnte man eigentlich denken, dass sich die Frage, ob Kinder zu erzieherischen Zwecken geschlagen werden sollten, erübrigt. Seit dem 8. November 2000 ist Gewalt gegen Kinder in Deutschland verboten (vgl. BGB § 1631 Abs. 2). Aber bedeutet das, dass diese hart erarbeitete, fachlich fundierte und rechtlich abgesicherte Haltung Bestand hat in der Pädagogik? ➤ „Eltern könnten ihre Kinder mit Schlägen bestrafen, hat Papst Franziskus erklärt, es dürfe nur nicht ihre Würde verletzen. Der Vatikan verteidigt die Aussage“ (Zeit Online, 6. 2. 2015). Mir ist ehrlich gesagt nicht ganz klar, wie man ein Kind schlägt, ohne seine Würde zu verletzen. Noch weniger klar ist mir, wie es möglich ist, dass - 15 Jahre nach dem Verbot von Gewalt gegen Kinder in Deutschland - der oberste Dienstherr von mehreren zehntausend PädagogInnen so eine Aussage treffen kann. 289 uj 7+8 | 2023 Traumapädagogische Haltung als Wurzel und Basis ➤ Eine Studie der UNICEF und der Universität Ulm aus dem Jahr 2020 ergibt, dass 7,2 % der Befragten einer Tracht Prügel als Mittel der Erziehung zustimmen. Eine Ohrfeige betrachten 23,1 % der Befragten als angemessene Methode in der Erziehung von Kindern und 52,4 % der Befragten stimmen einem Klaps auf den Hintern als angemessene Erziehungsmethode zu (Clemens et al. 2020). ➤ „Schulbezirk Cassville hat in den USA körperliche Züchtung als Disziplinarmaßnahme von Kindern wieder eingeführt. Körperliche Bestrafung wird nur angewendet, wenn andere Disziplinarmaßnahmen versagt haben und dann nur in angemessener Form“ (Schäfer in Frankfurter Rundschau, 29. 8. 2022). Offen bleibt die Frage, was genau mit „angemessener Form“ gemeint ist. Ich wage zu bezweifeln, dass es eine angemessene Form gibt, Kinder mit Gewalt zu erziehen. Außerdem stellt sich die Frage, welche Haltung die Idee rechtfertigt, dass Eltern anderen Menschen erlauben dürfen, ihre Kinder zu schlagen. Diese Haltung degradiert das Kind zu einem Besitz, bei dem die Verfügungsgewalt abgetreten werden könnte. ➤ Im Sommer 2022 war ich zum Einkaufen in einem Kaufhaus. Zur Dekoration war in der Schreibwarenabteilung eine antiquarische Schulbank aufgebaut, z. B. mit in den Tisch eingelassenen Tintenfässern. Ein etwa achtjähriges Mädchen sah diese alte Schulbank an und sagt zu seiner Mutter: „Da wurden die Kinder gehauen.“ Wahrscheinlich hat das achtjährige Mädchen nicht Geschichte studiert, sondern vielmehr ist es so, dass Gewalt gegen Kinder nach wie vor Teil des kollektiven Bewusstseins ist, also vorstellbar ist. Wenn man einen möglichst breiten Blick auf Pädagogik wirft, ist diese vermeintlich einfache Frage nach der Legitimität des Schlagens von Kindern doch gar nicht so einfach und allgemeingültig zu beantworten. Es entstehen vielmehr die Fragen, was Haltung eigentlich genau ist und worin die Aufgabe von Haltung besteht. Was ist Haltung? Haltung ist etwas Individuelles und Persönliches. Haltung entwickelt sich stetig in der Auseinandersetzung und Integration biografischer Erfahrungen und erlernter Werte sowie neuer Eindrücke und Erkenntnisse. Aktuelle Lebensumstände Ethische und spirituelle Werte Fachliches Selbstverständnis Berufliche Erfahrungen Biografische Erfahrungen Fachwissen Haltung Abb. 1: Was ist Haltung? 290 uj 7+8 | 2023 Traumapädagogische Haltung als Wurzel und Basis All diese Aspekte können sich ständig verändern und weiterentwickeln, aktiv oder passiv sein und sind in unterschiedlichen Konstellationen miteinander verbunden. Die eigene Haltung ist also veränderbar und braucht Pflege. Es ist beispielsweise gut möglich, dass meine Haltung eine andere ist, wenn ich morgens um 9.30 Uhr am ersten Arbeitstag nach zwei Wochen Urlaub eine Auseinandersetzung mit einem Jugendlichen habe oder der gleiche Jugendliche nachts um 3.30 Uhr betrunken in die Wohngruppe zurückkommt, randaliert und ich gleichzeitig im privaten Bereich mit familiären Problemen belastet bin. Haltung ist aber nicht nur etwas Persönliches. Die persönliche Haltung entwickelt sich auch immer im Abgleich mit anderen Menschen und deren Haltung. Für uns als PädagogInnen entwickelt sich unsere Haltung in beruflichen Kontexten dann vor allem in der Auseinandersetzung mit den unmittelbaren KollegInnen und der Leitung. Es entsteht eine kollektive Haltung. Diese kollektive Haltung ist kein Kompromiss, sondern vielmehr eine Schnittmenge der persönlichen Haltungen aller Beteiligten. In der Regel gibt es zu dieser Schnittmenge mehr oder weniger unterschiedliche persönliche Positionen an den Rändern. Bei der Pflege und Entwicklung einer gemeinsamen Haltung muss also nicht nur auf Gemeinsamkeiten geschaut werden, sondern auch auf Unterschiedlichkeiten. Erst wenn ich mit der Schnittmenge dieser unterschiedlichen, persönlichen Haltungen verbunden und bereit bin, die Unterschiedlichkeiten zu tolerieren, kann ich eine individuelle Entscheidung treffen, ob ich mich dieser kollektiven Haltung anschließe oder nicht. Wozu ist Haltung gut? Der Nutzen und die Funktion von Haltung sind vielfältig. Ich unterteile hier in drei Ebenen, an denen ich beispielhaft verdeutlichen möchte, wozu Haltung hilfreich ist. Diese drei Ebenen von Haltung sind immer miteinander verbunden. Persönlich dient Haltung als Basis und innere Struktur zur Orientierung und Beteiligung. Mit einer persönlichen Haltung kann ich mich jederzeit und zu jeder Interaktion orientieren, beteiligen oder abgrenzen. Außerdem kann eine persönliche Haltung in belastenden Kontakten und Situationen hilfreich sein, um Kraft zum Durchhalten zu generieren oder eine Lösung zu finden. Fachlich dienen die Haltung und ihre Beschreibung der Dokumentation des aktuellen Standes der Idee von Pädagogik sowie zur Orientierung für Rückblick und Reflexion. Außerdem ist der Nutzen beschriebener Haltung ein zentraler Baustein im Fundament für weitere Entwicklungen. Eine veröffentlichte fachliche Haltung ist unerlässlich für die Entwicklung von Pädagogik. In Communities, wie zum Beispiel Teams, Gruppen oder Einrichtungen, dient der Austausch und das Verbinden der persönlichen Haltungen aller Beteiligten etwa der Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und dem Etablieren eines gemeinsamen Verstehens (vgl. Gahleitner et al. 2015). Außerdem dient eine kollektiv formulierte und gelebte Haltung in Communities immer wieder als Diskussionsgrundlage für Richtungsentscheidungen, für die Auseinandersetzung mit Regeln und den Umgang mit herausfordernden Situationen im Alltag. Persönlich Fachlich Communities Abb. 2: Nutzen von Haltung 291 uj 7+8 | 2023 Traumapädagogische Haltung als Wurzel und Basis Der älteste und bekannteste Haltungskodex im fachlichen Kontext ist der Hippokratische Eid. In diesem ist unter anderem beschrieben, mit welcher Haltung ÄrztInnen ihre Arbeit verrichten sollen. Im Hippokratischen Eid ist beispielsweise verankert, dass ÄrztInnen Schwangeren kein Abtreibungsmittel verabreichen sollen. Diese beschriebene Haltung ist ein Argument in der aktuellen Diskussion um Schwangerschaftsabbrüche. Sollte das Gefühl entstehen, dass es schwierig ist, ein so altes und ehrwürdiges Dokument infrage zu stellen, ist es auch wichtig zu wissen, dass laut Hippokratischem Eid Ärzte keine Blasensteine entfernen sollen. Erstes Fazit ➤ Haltung ist nicht statisch, sondern immer in Reflexions- und Entwicklungsprozesse eingebettet. Die Entwicklung einer pädagogischen Haltung gelingt nicht alleine, sondern nur in der aktiven Auseinandersetzung mit anderen PädagogInnen und pädagogischen Systemen. ➤ Es geht bei der Entwicklung einer kollektiven Haltung um Gemeinsamkeiten, aber auch und vor allem um Unterschiedlichkeiten. ➤ Die Entwicklung von Haltung ist immer auch der Abgleich unterschiedlicher biografischer Erfahrungen und damit orientiert an der individuellen und gesellschaftlichen Moral und den jeweiligen Wertvorstellungen. Die besondere Bedeutung von Haltung in der Traumapädagogik Martin Kühn beschreibt Traumapädagogik als einen „Sammelbegriff für die pädagogischen Konzepte zur Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen“ (Kühn 2006). Traumapädagogik ist also keine Methode oder Konzept, sondern eine Sammlung vieler unterschiedlicher pädagogischer Konzepte und Ansätze, die miteinander verbunden sind. Wilma Weiß schreibt dazu passend, dass es „hervorragende pädagogische Traditionen [gibt], die in traumapädagogischen Konzepten zu erkennen sind“ (Weiß 2016, S. 22). Es sind also nicht ausschließlich neu entwickelte Konzepte und Ideen, die Bestandteil der Traumapädagogik sind. Viele bereits bestehende pädagogische Ansätze dienen als Wurzel und als Fundament für die Entwicklung von Traumapädagogik. Die traumapädagogische Haltung beschreibt die Klammer, die alte wie neue pädagogische Konzepte miteinander verbindet, die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie Kinder und Jugendliche mit belastenden biografischen Erfahrungen gut unterstützt und begleitet werden können. Alle Ideen, Ansätze, Methoden, Konzepte, pädagogische Interventionen und Schlüsselprozesse, die mit dieser traumapädagogischen Haltung entwickelt, umgesetzt oder verbunden werden können, lassen sich gut miteinander kombinieren und ergänzen. Das gilt für die Entwicklung von Konzeptionen für große Einrichtungen bis zu vermeintlich unscheinbaren, aber schwierigen Situationen, wenn etwa alle Kinder gleichzeitig im Flur Schuhe und Jacken anziehen sollen. Zweites Fazit ➤ Die traumapädagogische Haltung basiert auf unterschiedlichen Wurzeln, zum Beispiel einem humanistischen Menschenbild, einer Vielzahl von pädagogischen Konzepten, die wesentlich älter als die Traumapädagogik sind. ➤ Die traumapädagogische Haltung wird von allen Menschen und Organisationen entwickelt und beschrieben, die auf dem Feld der Traumapädagogik agieren: Einzelpersonen, Verbände, Einrichtungen, Hochschulen, NGOs und andere. Das war zu Beginn der Entwicklung von Trauma- 292 uj 7+8 | 2023 Traumapädagogische Haltung als Wurzel und Basis pädagogik noch überschaubar. Mittlerweile gibt es sehr viele AkteurInnen, was mit Blick auf die Verbreitung und das Etablieren von Traumapädagogik positiv ist. Im besten Fall bilden sich ein starker gemeinsamer Kern und interessante, neue und diskussionswürdige Unterschiedlichkeiten heraus. ➤ Altbekannte und neue AkteurInnen entwickeln die kollektive Idee einer traumapädagogischen Haltung. Das geschieht unabhängig davon, ob sie gemeinsam entwickeln oder parallel, ob sich die AkteurInnen kennen, ob sie sich „grün“ sind oder nicht. Der Fachverband Traumapädagogik Der Fachverband Traumapädagogik sieht es als eine seiner Aufgaben an, immer wieder Orte zu schaffen, an denen die traumapädagogische Haltung diskutiert und entwickelt werden kann. Des Weiteren macht es sich der Fachverband Traumpädagogik zur Aufgabe, den jeweils aktuellen Stand der Diskussion stets zu erfassen und einer breiten Öffentlichkeit unkompliziert zugänglich zu machen. Das geschieht beispielsweise durch Veröffentlichungen in Zeitschriften, Büchern oder auf digitalen Plattformen, aber auch durch Veranstaltungen wie Fachtagungen. Die Entwicklung und Beschreibung der traumapädagogischen Haltung findet an vielen unterschiedlichen Stellen statt (s. van Mil in diesem Heft): ➤ in der Arbeit, den Diskussionen und Entwicklungen der Arbeitsgruppen sowie der Präsentation ihrer Ergebnisse (s. Übersicht von Basedow/ van Mil in diesem Heft), ➤ in der Entwicklung und Herausgabe des Weiterbildungscurriculums Traumpädagogik/ Traumazentrierte Fachberatung in Kooperation mit der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT), ➤ in der Entwicklung und Durchführung eines traumapädagogischen Zertifizierungsverfahrens für stationäre Wohngruppen der Kinder- und Jugendhilfe, ➤ in der Entwicklung einer fachlich fundierten Methodensammlung zum traumapädagogischen Verstehen, ➤ in der Arbeit im Vorstand und der Veröffentlichung von Newslettern und Positionspapieren zu aktuellen Themen, ➤ in Kooperationen mit anderen Fachverbänden und Organisationen. Es gibt noch einige Orte und Gremien mehr, auf denen die traumapädagogische Haltung im Fachverband entwickelt und beschrieben wird und die in der Aufzählung noch nicht benannt wurden. Auf drei zentrale Punkte möchte ich im Folgenden etwas genauer eingehen. Die Arbeit des ExpertInnenrats des Fachverband Traumapädagogik, die Entwicklung von Ethikrichtlinien für den Fachverband sowie die Beschreibung der traumapädagogischen Haltung in den Standards von 2011 und 2022. Die Arbeit des ExpertInnenrates Der ExpertInnenrat im Fachverband Traumapädagogik ist ein Gremium, das sich aus Jugendlichen und jungen Erwachsen zusammensetzt, die in einer Jugendhilfeeinrichtung gelebt haben oder aktuell noch leben. Sie diskutieren aktuelle Themen und Entwicklungen des Fachverbands, aber geben auch durch die Bearbeitung selbst gewählter Themen immer wieder wichtige Impulse für alle Gremien des Fachverbands. So hat sich der ExpertInnenrat beispielsweise mit der Frage beschäftigt, woran junge Menschen bemerken, dass sie in einer traumapädagogischen Einrichtung sind. Das Ergebnis ihrer Arbeit ist beeindruckend. Es ist eine sehr aufschlussreiche Sammlung entstanden, die der ExpertInnenrat auf einer Klausurtagung des Fachverbands im Sommer 2022 vorgestellt hat, aus der ich einige Ergebnisse hier vorstellen möchte: 293 uj 7+8 | 2023 Traumapädagogische Haltung als Wurzel und Basis ➤ Ich darf mich zu Hause fühlen ➤ Angst, sich zu binden, wird geringer ➤ Es gibt heilige Momente ➤ Nicht mehr kämpfen müssen ➤ Ich kann anfangen, mich zu spüren ➤ Wut wird als Notwehr und Kraft verstanden ➤ Wissen über seelische Vorgänge ➤ Gehört und ernst genommen werden ➤ Dass ein Nein akzeptiert wird ➤ Ich habe das Recht, Irrwege zu gehen ➤ Eine Leitung, die für alle AnsprechpartnerIn ist Diese Sammlung gibt eine gute Orientierung dafür, wie PädagogInnen ihren Alltag gestalten können, wenn sie mit einer traumpädagogischen Haltung arbeiten wollen. Das Ergebnis des ExpertInnenrats gibt zudem auch eine gute Orientierung für das Konzeptionieren von Schlüsselprozessen in Jugendhilfesettings. Die Entwicklung von Ethikrichtlinien In den letzten Jahren hat im Fachverband Traumapädagogik eine ausführliche Diskussion um die Entwicklung von Ethikrichtlinien begonnen. Im Rahmen einer Vorstandssitzung im Jahr 2020 in Frankfurt, auf einer Klausurtagung in Siegburg im Jahr 2021 und einer weiteren Klausurtagung in Königswinter im Jahr 2022 wurde dieses Projekt inhaltlich auf vielen Ebenen diskutiert. Die Gründe für die Entwicklung von Ethikrichtlinien sind vor allem die Entwicklung und die Diskussion um eine gemeinsame Haltung im Sinne einer Standortbestimmung. Die Beschreibung einer Grundlage zum Einfordern von ethischen Standards, gegebenenfalls auch die Abgrenzung zu dem, wo ethische Ansprüche eklatant verletzt werden, wird den Fachverband auch noch 2023 beschäftigen. Ethikrichtlinien geben Sicherheit, gerade auch dann, wenn es unsicher wird und mögliche Konsequenzen abgewogen werden müssen. In der Diskussion hat sich der Fachverband von folgenden Fragen leiten lassen: Was ist eine traumapädagogische Ethik? Welche Prämissen sollen uns leiten? Wofür steht der Fachverband? Im Folgenden möchte ich, orientiert an vier Überschriften, einige Gedanken aus dem noch laufenden Prozess vorstellen. Selbst / Ich / Individuum ➤ Jede und jeder steht in gesellschaftlicher und sozialpolitischer Verantwortung ➤ Das Wissen darum, was mir Freude an der Beteiligung der Entwicklung von Traumapädagogik macht ➤ Bereitschaft zur Weitergabe neuer Entwicklungen und Erkenntnisse Beziehung / Du-Wir / Welt / Spiritualität ➤ Konsequente Anerkennung der ExpertInnenschaft ➤ Gruppendynamik als sichere Orte gestalten ➤ Wie lange müssen wir versuchen, den guten bzw. wichtigen Grund zu verstehen? Gesellschaft und Politik ➤ Traumapädagogik ist notwendigerweise auch politisch und fordert eine regelhafte aktuelle (sozial)politische Positionierung ➤ Menschenwürde, Menschenrechte und Vielfalt als zentrale Prinzipien ➤ Kritische Auseinandersetzung mit Ausbeutung, Kolonialismus und Neo-Kolonialismus, Vertreibung, Flucht, Ungleichheit und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Ökologie und Ressourcen ➤ Pädagogik ist immer Zukunftsarbeit, die nur gelingt, wenn es die (ökologischen) Voraussetzungen für eine menschliche Zukunft gibt ➤ Naturkatastrophen sind als traumatisch zu bewerten, nicht nur ökologisch-wirtschaftlich, sondern auch psychisch ➤ Die Nachhaltigkeit fängt beim Menschen an. Wie lebe ich? Welchen Beitrag leistet der Fachverband Traumapädagogik? 294 uj 7+8 | 2023 Traumapädagogische Haltung als Wurzel und Basis Die traumapädagogische Haltung in den Standards von 2011 und ihre Entwicklung bis 2022 Schon sehr bald nach dem Aufkommen der Traumapädagogik gab es ein großes Interesse an ihr. Die Traumapädagogik selbst, aber auch die Begrifflichkeit fand eine schnelle Verbreitung, allerdings auch verbunden mit einem gewissen „Wildwuchs“. Die Begriffe „Trauma“ und „Traumapädagogik“ waren pädagogische Modebegriffe geworden und vieles wurde „Traumapädagogik“ genannt. Der Fachverband Traumapädagogik (damals noch BAG-Traumapädagogik) sah es als notwendig an, traumapädagogische Standards zu beschreiben, um genau zu formulieren, was mit Traumapädagogik gemeint ist. Es war damals noch möglich, weitgehend alle AkteurInnen der Traumapädagogik an einen Tisch zu bekommen, um zusammenzutragen und zu entwickeln, was Inhalt einer traumapädagogischen Haltung sein soll. Das Ergebnis waren fünf Elemente, die die traumapädagogische Haltung von PädagogInnen gegenüber Kindern und Jugendlichen beschreiben (s. Abbildung 3). Nach der Veröffentlichung dieser Standards gab es ein noch größeres Interesse und spätestens mit der Buchveröffentlichung zu diesen Standards war das Papier die zentrale Diskussionsgrundlage zur Umsetzung und Entwicklung von Traumapädagogik. Die Traumapädagogischen Standards bilden so die Grundlage für viele pädagogische Konzepte, Weiterbildungen, Arbeitsgruppen, Wohngruppenkonzepte, Schlüsselprozesse und anderes mehr. Diese Weiterentwicklungen warfen neue Fragen auf, entwickelten neue Antworten und brachten wiederum neue traumapädagogische Konzepte hervor. Die 2011 beschriebene traumapädagogische Haltung war also nicht statisch. Im Rahmen der Klausurtagung des Fachverband Traumapädagogik im Jahr 2021 wurde eine Arbeitsgruppe damit beauftragt, die Trauma- Die Haltung in den traumapädagogischen Standards von 2011 Die Annahme des guten Grundes „Alles, was ein Mensch zeigt, macht einen Sinn in seiner Geschichte! “ Wertschätzung „Es ist gut so, wie du bist! “ Partizipation „Ich trau dir was zu und überfordere dich nicht! “ Transparenz „Jeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheit! “ Spaß und Freude „Viel Freude trägt viel Belastung! “ Kinder Jugendliche PädagogInnen Abb. 3: Haltung 2011 295 uj 7+8 | 2023 Traumapädagogische Haltung als Wurzel und Basis pädagogischen Standards aus dem Jahr 2011 zu aktualisieren. In der Beschreibung der Haltung wird in der neuen Auflage die ExpertInnenschaft als 6. Element der Grundhaltung zugefügt. Außerdem wurde die Perspektive, aus der diese Haltung eingenommen werden soll, im Sinne des sicheren Ortes um die Perspektive der Leitung ergänzt. Drittes Fazit ➤ Der Kern der Traumapädagogik ist die traumapädagogische Haltung. ➤ Die traumapädagogische Haltung soll kein kleinster gemeinsamer Nenner und kein Kompromiss sein, sondern unterschiedliche Meinungen, Ideen und Ansätze integrieren, die in eine gemeinsame Richtung gehen und einer Grundhaltung folgen. ➤ An der Entwicklung von Traumapädagogik und einer traumapädagogischen Haltung sind ExpertInnen und Profis einzeln oder organisiert miteinander und auf Augenhöhe beteiligt. ➤ Die traumapädagogische Haltung beschreibt einen verbindenden Diskurs, der im Sinne einer Pädagogik des Sicheren Ortes auf allen Ebenen gelebt wird und erfahrbar ist. In diesem Sinne: Fühlen Sie sich herzlich eingeladen, sich an der Entwicklung von Traumapädagogik zu beteiligen! Jacob Bausum j.bausum@fachverband-traumapaedagogik.org www.fachverband-traumapaedagogik.org, www.traumapaedagogik-ztp.de Die Aktualisierung der traumapädagogischen Standards Die Annahme des guten Grundes „Alles, was ein Mensch zeigt, macht einen Sinn in seiner Geschichte! “ Wertschätzung „Es ist gut so, wie du bist! “ Partizipation „Ich trau dir was zu und überfordere dich nicht! “ ExpertInnenschaft „Du hast eine besondere Lebenskompetenz! “ Spaß und Freude „Viel Freude trägt viel Belastung! “ Kinder Jugendliche Transparenz „JedeR hat jederzeit ein Recht auf größtmögliche Klarheit! “ PädagogInnen Leitung Abb. 4: Haltung 2022 296 uj 7+8 | 2023 Traumapädagogische Haltung als Wurzel und Basis Literatur Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik (2011): Standards für traumapädagogische Konzepte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe - Ein Positionspapier der BAG-Traumapädagogik Clemens, V., Sachser, C., Weilemann, M., Fegert, J. M. (2020): 20 Jahre gewaltfreie Erziehung im BGB: „Aktuelle Einstellungen zu Körperstrafen und elterliches Erziehungsverhalten in Deutschland“ - Ein Blick auf Veränderungen seit der parlamentarischen Entscheidung von 2000. Verfügbar unter https: / / www.unicef. de/ _cae/ resource/ blob/ 239474/ ee770482a72a5f51b d3ece14c519a78c/ aktuelle-einstellungen-zu-koer perstrafen-und-elterliches-erziehungsverhalten-indeutschland-pdf-data.pdf, 5. 4. 2023 Gahleitner, S. B., Frank, C., Gerlich, K., Hinterwallner, H., Koschier, A., Leitner, A. (2015): Tabaluga anders verstehen - Neues bewirken. Ergebnisse der Implementierung von Traumapädagogik bei der Tabaluga Kinderstiftung. Tabaluga Kinderstiftung, Tutzing Kühn, M. (2006): Bausteine einer „Pädagogik des Sicheren Ortes“ - Aspekte eines pädagogischen Umgangs mit (traumatisierten) Kindern in der Jugendhilfe aus der Praxis des SOS Kinderdorfes Worpswede. Fachtagung „(Akut) traumatisierte Kinder und Jugendliche in Pädagogik und Jugendhilfe“ Merseburg 17./ 18. 2. 2006. Verfügbar unter www.jugendsozialarbeit.de/ media/ raw/ martin_kuehn.pdf, 19. 3. 2023 Meinhof, U. (1971): Bambule. Fürsorge - Sorge für wen? Rotbuch Nr. 24, Wagenbach, Berlin Schäfer, K. (29. 8. 2022): Schläge mit Holzpaddel: Prügelstrafe an US-Schulbezirk wieder eingeführt. Frankfurter Rundschau. Verfügbar unter https: / / www.fr.de/ panorama/ usa-pruegelstrafe-schule-cassville-mis souri-kinder-eltern-koerperliche-zuechtigung-zr-917 49774.html, 6. 4. 2023 Schmidt, V. (2010): Sämtliche Werke. Ahriman-Verlag, Freiburg i. Breisgau Weiß, W. (2016): Traumapädagogik: Entstehung, Inspirationen, Konzepte. In: Weiß, W., Kessler, T., Gahleitner, S. B. (Hrsg.): Handbuch Traumapädagogik. Beltz, Weinheim/ Basel, 20 - 32 Westhoff, A. (2008): Kindererziehung und Pflanzenkultivierung. Verfügbar unter https: / / www.deutschlandfunkkultur.de/ kindererziehung-und-pflanzenkultivierung-102.html, 14. 4. 2023 Zeit Online (6. 2. 2015): Papst Franziskus hält das Schlagen von Kindern für in Ordnung. Verfügbar unter https: / / www.zeit.de/ gesellschaft/ familie/ 2015-02/ papst-kinder-schlagen? utm_referrer=https%3A%2F %2Fwww.google.de%2F, 6. 4. 2023
