unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art41d
71
2023
757+8
Die Pädagogik des Sicheren Ortes
71
2023
Andrea Basedow
Lieber Martin, dein Konzept der „Pädagogik des Sicheren Ortes“ kann heute als eines der Kernkonzepte der Traumapädagogik gelten. Was hat dich persönlich dazu bewogen, dich mit dem Thema zu beschäftigen und wie kam es letztlich zur Ausarbeitung des Konzepts?
4_075_2023_7+8_0005
303 unsere jugend, 75. Jg., S. 303 - 306 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art41d © Ernst Reinhardt Verlag von Martin Kühn Dipl.-Behindertenpädagoge, Gründer des Fachverband Traumapädagogik, Gründer und Mitgesellschafter des tra: : i: : n (traumapädagogisches institut norddeutschland), Autor Die Pädagogik des Sicheren Ortes Martin Kühn im Interview Lieber Martin, dein Konzept der „Pädagogik des Sicheren Ortes“ kann heute als eines der Kernkonzepte der Traumapädagogik gelten. Was hat dich persönlich dazu bewogen, dich mit dem Thema zu beschäftigen und wie kam es letztlich zur Ausarbeitung des Konzepts? Als ich Anfang der 1990er-Jahre mein Studium der Behindertenpädagogik an der Universität Bremen beendet hatte, wusste ich überhaupt noch nichts zum Thema „Trauma“. Es war damals einfach in den Lehrangeboten noch überhaupt kein Thema gewesen, aber mich hatten schon damals immer die ganz „besonderen“ Kinder interessiert. Also diese Kinder, die nirgendwo ihren Platz zu finden schienen, weil sie einfach nicht in unsere sozialen oder gesellschaftlichen Systeme passen, seien es Bildungs- und Betreuungsangebote in Kitas, Schulen oder Jugend- und Behindertenhilfe. Meine späteren persönlichen Erfahrungen in der Praxis der stationären Jugendhilfe haben mir danach immer und immer wieder bestätigt: „Wer nicht spurt, fliegt! “, denn bis zum heutigen Tag reagieren pädagogische Institutionen auf sogenanntes „fehlerhaftes oder unerwünschtes“ Verhalten mit Ausschluss (Exklusion). Bildungs- und Betreuungsangebote sind somit bis heute per se keine „Sicheren Orte“ für Kinder. Ein zutiefst unerträglicher Zustand, denn allzu oft erzeugen Institutionen aus mangelhaftem Verständnis für die kindliche Wirklichkeit erst selber genau diese Resultate. Mir selber fehlte damals ebenfalls immer wieder noch ein Baustein zum Verständnis menschlicher Verhaltensweisen, obwohl ich Jahre zuvor aus der Uni mit dem Wissen entlassen wurde: „Jedes Verhalten eines Menschen hat für diesen ganz individuell eine hohe Sinnhaftigkeit! “ Es gab einfach Verhaltensweisen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die uns im pädagogischen Alltag überforderten, uns selber hilflos und ohnmächtig machten, weil wir sie damals nicht verstanden. Den fehlenden Baustein fand ich in den 90er Jahren im Rahmen eines Doktorandenkolloquiums an der Uni Bremen, in dem ich zum ersten Mal mit psychotraumatologischer Fachliteratur in Kontakt kam: Dieses neue Wissen stellte für uns einen umfassenden Paradigmenwechsel der eigenen psychosozialen Arbeit dar! In einem kleinen Kreis von KollegInnen begannen wir, diese für uns neue Literatur zu studieren, immer mit der grundlegenden Frage, was diese Erkenntnisse für unsere pädagogische Arbeit bedeuten könnten. Wir haben uns damals in Worpswede ganz naiv gefragt: „Wenn es eine Traumatherapie gibt, warum gibt es dann keine Traumapädagogik? “ Somit war ein Begriff in der Welt, der sich in der Folge schnell verselbstständigte - ich habe einige Jahre später auf einer Fachveranstaltung in meinem Vortrag da- 304 uj 7+8 | 2023 Die Pädagogik des Sicheren Ortes für plädiert, den Begriff der Traumapädagogik als Oberbegriff für alle weiteren traumasensiblen pädagogischen Konzepte von Bedeutung zu etablieren. In der anhaltenden Reflexion der eigenen Arbeit haben wir uns Anfang der 2000er-Jahre entschieden, unser traumasensibles Konzept als „Pädagogik des Sicheren Ortes“ zu benennen, da uns die Fokussierung alleine auf Trauma zu eng erschien, schließlich sollte es möglichst allen Kindern und Jugendlichen zugutekommen: Niemand sollte mehr durch die Netze psychosozialer Hilfen fallen müssen. Das war der Beginn einer faszinierenden pädagogischen Forschungs- und Entdeckungsreise, die für mich bis heute noch anhält… Die Traumapädagogik steht fachlich auf vielen breiten Schultern. So auch das Konzept der „Pädagogik des Sicheren Ortes“. Welche sind deines Erachtens die zentralen Wurzeln und worin liegt deren besondere Qualität für das aktuelle Konzept? Eine der zentralsten Wurzeln der „Pädagogik des Sicheren Ortes“ ist sicherlich die Materialistische Behindertenpädagogik nach Georg Feuser und Wolfgang Jantzen, die ich im Studium an der Uni Bremen kennengelernt habe: Die grundlegende Akzeptanz der Diversität menschlicher Existenz, die ausnahmslose Annahme der Sinnhaftigkeit menschlichen Verhaltens und der konsequente Einsatz gegen zwischenmenschliche und strukturelle Gewalt in Institutionen. Eine weitere wichtige Inspirationsquelle waren für uns die reformpädagogischen Arbeiten des polnischen Kinderarztes und Pädagogen Janusz Korczak, der sich Zeit seines Lebens für einen gleichberechtigten Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern engagiert hat und als Urvater der bis heute geltenden Kinderrechte gilt. Und als dritte historische Wurzel seien noch Lehre und Praxis des österreichischen Pädagogen und Psychoanalytikers August Aichhorn zu nennen. Dieser war Begründer der psychoanalytischen Pädagogik und lehrte bereits vor 100 Jahren an der Uni Wien, dass es einen engen erklärenden Zusammenhang zwischen frühkindlichen Traumata und der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten gibt. Maßgeblichen weiteren Einfluss auf die Entwicklung der „Pädagogik des Sicheren Ortes“ waren zudem Erkenntnisse der modernen Bindungsforschung sowie der systemischen Beratung und Therapie, neben vielem anderen, was in all den ganzen Jahren weiter unser fachliches Interesse geweckt hatte. Das Konzept der „Pädagogik des Sicheren Ortes“ gibt es nun schon einige Jahre, seither war und ist es stetig in Bewegung. Welches sind die zentralen Weiterentwicklungen des Konzepts? Die wohl wichtigste Entwicklung war die Emanzipation von traumatherapeutischen Phasenmodellen, wie sie uns zunächst ganz am Anfang einzig und alleine zur Verfügung standen. Nach mittlerweile über 50 abgeschlossenen Qualifizierungskursen, auf die das „traumapädagogische institut norddeutschland“ zurückblicken kann, wissen wir um die Effizienz und Wirksamkeit der „Pädagogik des Sicheren Ortes“, die inzwischen in jedem pädagogischen Arbeitsfeld, von der Frühförderung bis zur Altenarbeit, Anwendung findet. Der Begriff des „Sicheren Ortes“ erfuhr ebenfalls weitreichende Veränderungen: Waren es ursprünglich Aspekte räumlicher Sicherheit, um vor weiterer Selbst- und Fremdgefährdung zu schützen, richtete sich unser Blick mehr und mehr auf ein erweitertes Verständnis von „innerer“ und „äußerer“ Sicherheit des traumatisierten Menschen, d. h. über eine Orientierung am sogenannten Symptomverhalten hinaus, hin auf darunterliegende Bedürfnisse, die ein Mensch durch sein Verhalten zum Ausdruck bringt. Der Grundkonflikt, den ein traumatisierter Mensch permanent erlebt: „Ich kann mich nicht verständlich machen und werde auch nicht verstanden bzw. verstehe auch mich selber nicht! “, 305 uj 7+8 | 2023 Die Pädagogik des Sicheren Ortes hat uns deutlich gemacht, wie zentral die Begriffe Dialog und Kommunikation für die Entwicklung korrigierender Bindungserfahrungen sind. Denn es ging nicht um eine neue Form von Be-Handlung, sondern um die Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit und Teilhabe des betroffenen Individuums. Wir haben gelernt, dass eine der größten Hürden für die Dialogbereitschaft eines traumatisierten Menschen die persönliche Scham ist. „Scham ist die Wächterin der menschlichen Würde“, lautet eine These des Psychoanalytikers Léon Wurmser, d. h. je größer die Scham, desto größer die Verletzung der individuellen Würde: Ein wirklich „Sicherer Ort“ ist so also immer auch ein „würdevoller Ort“. Ein besonders wertschätzendes und würdevolles Konzept für eine traumasensible dialogische, beraterische Arbeit ist in der „Narrative Therapy“ (dt. = „Narrative Praxis“) nach White und Epston zu finden: Der Mensch definiert sich identitätsstiftend über die Geschichten, die er über sich erzählt. Indem wir einen traumatisierten Menschen darin begleiten, neue Geschichten über sich zu entdecken, helfen wir ihm auch gleichzeitig dabei, seine belastende Vergangenheit zu bewältigen. Die narrative Praxis mit ihrer zentralen Erkenntnis „Nicht der Mensch ist das Problem, das Problem ist das Problem! “, war dabei außerdem hilfreich, ein Kind, einen Jugendlichen oder Erwachsenen nicht als monolithische Persönlichkeit zu sehen und zu verstehen, sondern als wechselseitiges Interagieren seiner verschiedenen Persönlichkeitsanteile, wie es z. B. im Modell der strukturellen Dissoziation nach Nijenhuis und van der Hart beschrieben wurde. Einer der wichtigsten aktuellen Entwicklungsschritte für das Konzept der „Pädagogik des Sicheren Ortes“ aber waren die Erkenntnisse der psychotraumatologischen Forschung, die in der letzten Zeit mehr und mehr an Bedeutung gewonnen haben, dass eine Traumatisierung eben nicht nur psychische und neurologische Auswirkungen hat, sondern sich auch im Körper und im Nervensystem betroffener Personen manifestiert, wie es u. a. von Levine, Porges und van der Kolk nachgewiesen worden ist. Eine traumapädagogische Praxis muss sich immer wieder voller Neugier den aktuellen Stand psychotraumatologischer Forschung zu eigen machen, um die eigenen Angebote zu verfeinern und zu verbessern. Perspektivwechsel: Woran erkennt oder spürt ein sechsjähriges Kind in einer Wohngruppe, dass das Konzept der „Pädagogik des Sicheren Ortes“ von den Fachmenschen in der Gruppe konsequent umgesetzt wird? Ein sechsjähriges Kind erfährt die „Pädagogik des Sicheren Ortes“, wenn … ➤ … es sich individuell als Mensch in seinen situativen Bedürfnissen gesehen und gehört erlebt und entsprechende Resonanz darauf von den Erwachsenen bekommt. ➤ … es in Stresssituationen beruhigt und reorientiert wird und dabei eine beständige Co-Regulation durch pädagogische Fachkräfte erlebt, die bereit sind, sich als „sicherer Hafen“ zur Verfügung zu stellen, auch wenn das Wetter rau wird. ➤ … es sich mit seinen schwierigsten Seiten zeigen kann, ohne Angst haben zu müssen, dass sich die Fachkräfte die Frage stellen, ob es in der Einrichtung richtig ist. ➤ … es transparente und vorhersehbare Abläufe erlebt. ➤ … es eine partizipative Teilhabe, das Aushandeln individueller Lösungen anstelle eines starren, für alle geltenden Regelwerkes erfährt. ➤ … es sich selbst als handlungsfähig erleben und seine Handlungsfähigkeit stetig erweitern kann. Dabei wird das Anforderungsprofil an seine individuellen Kapazitäten angepasst, damit anstelle früher erlebter Ohnmachts- und Versagenserfahrungen nun Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit erfahren werden. Denn es erlebt Erwachsene, die sich nicht mitleidig zu ihm herabbeugen, sondern ihm auf Augenhöhe begegnen … um nicht weiter zu verletzen (nach Korczak). 306 uj 7+8 | 2023 Die Pädagogik des Sicheren Ortes Hast du Pläne für die Zukunft des Konzepts? Nein, denn es geht mir nicht um Konzepte, sondern um die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, denen ich in meiner täglichen Praxis begegne. Von ihnen lernen wir, und so lange wir neugierig und offen bleiben, werden wir durch sie auch hoffentlich weiterhin inspiriert, um nicht selber zum Stillstand zu kommen. Was wünschst du dir für die Weiterentwicklung der Traumapädagogik? Es mag etwas provokant klingen, aber ich würde mir wünschen, dass sie überflüssig wird! Nicht, weil sie nichts mehr taugt, sondern weil sie pädagogisches Allgemeingut werden sollte: Traumapädagogik, wie wir sie verstehen, ist eine allgemeine, nein, inklusive Pädagogik! Und das Gute daran ist: Sie schadet auch nicht-traumatisierten Menschen nicht, in keiner Weise. Im Gegenteil, dieses Wissen müsste in entsprechendem Umfang Bestandteil jeder grundständigen pädagogischen Ausbildung werden. Ich verneige mich vor all unseren aktuellen und ehemaligen TeilnehmerInnen unserer Ausbildungskurse, die beständig den Nachweis erbringen, wie wichtig die Bedeutung der „Pädagogik des Sicheren Ortes“ in der täglichen Praxis ist und wie die Traumapädagogik damit fortgeschrieben wird. Lieber Martin, wir danken dir herzlich für dieses Interview! Dipl. Beh.-Päd. Martin Kühn traumapädagogisches institut norddeutschland Bauernreihe 6 27726 Worpswede info@tra-i-n.de
