unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Das pädagogisch-therapeutische Milieu
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2023
Jacob Bausum
Liebe Silke, das „pädagogisch-therapeutische Milieu“ kann heute als eines der Kernkonzepte der Traumapädagogik gelten. Was hat dich persönlich dazu bewogen, dich mit dem Thema zu beschäftigen, und wie kam es letztlich zur Ausarbeitung des Konzepts?
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307 unsere jugend, 75. Jg., S. 307 - 312 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art42d © Ernst Reinhardt Verlag von Silke Gahleitner Prof. Dr. habil., Dipl.-Sozialarbeiterin/ Sozialpädagogin, Professur an der Alice- Salomon-Hochschule Berlin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit, Beratung und Therapie Das pädagogischtherapeutische Milieu Silke Gahleitner im Interview Liebe Silke, das „pädagogisch-therapeutische Milieu“ kann heute als eines der Kernkonzepte der Traumapädagogik gelten. Was hat dich persönlich dazu bewogen, dich mit dem Thema zu beschäftigen, und wie kam es letztlich zur Ausarbeitung des Konzepts? Das war tatsächlich eine langjährige Entwicklung. Ich komme ja aus der Praxis der stationären Jugendhilfe in Berlin. Eine größere Gruppe von Einrichtungen hatte sich dort bewusst zu einer Art Dachverband zusammengeschlossen, dem „Arbeitskreis Therapeutische Jugendwohngruppen“ (AK TWG). Wir haben dort schon früh die Begrifflichkeit „Therapeutisches Milieu“ genutzt, allerdings noch ohne uns präzise darüber verständigt oder theoretisch tiefer dazu gearbeitet zu haben. Als ich dann an die Hochschule gekommen bin und begonnen habe, in Kooperation mit dem Arbeitskreis Wirkungsforschung zu machen, tauchte als zentraler Wirkfaktor vonseiten der Interviews mit den Jugendlichen eben dieses Milieu auf. Wir landeten immer wieder bei professioneller Beziehungs- und Einbettungsarbeit im weitesten Sinne. Uns war klar, dass wir dem ominösen Milieu nun stärker nachgehen mussten, da es doch einen so großen Teil der Wirkung zu bestreiten schien. Wie man schon deutlich am „Wir“ hört, war ich da nicht alleine unterwegs, sondern die Forschung lief sehr nah an der Praxis entlang, heute würde man von partizipativem Vorgehen sprechen, damals hat man halt einfach „kooperiert“. Herauszuheben bei den vielen hilfreichen KollegInnen ist hier Claus-Peter Rosemeier, der sich während der ganzen Jahre, als er die Einrichtung ‚Koralle‘ geleitet hat, immer wieder mit mir gemeinsam und auch eigenständig diesem Thema gewidmet hat. Und natürlich die Jugendlichen selbst, die so bereitwillig Auskunft gegeben haben. Innerhalb dieses AK TWG haben wir dann eine Reihe von Fachtagungen zu dem Thema gemacht, viele Artikel geschrieben, und ich habe zunächst auch andere Forschungsfelder bearbeitet. Immer aber ging es um die Wirkung psychosozialer Diagnostik und Intervention, und immer stellte sich der Beziehungs- und Einbettungsbereich als der bedeutsamste heraus. In der Opferberatung, im Kliniksozialdienst, in der Arbeit mit gewaltbetroffenen Frauen und in noch weiteren Projekten, europaweit, in der Kinder- und Jugendhilfe. Das hat mich dazu bewogen, zu diesem spezifischen Beziehungs- und Einbettungsaspekt meine Habilitation zu planen. Dass ich dazu Frank Nestmann gewinnen konnte, der von jeher soziale 308 uj 7+8 | 2023 Das pädagogisch-therapeutische Milieu Unterstützungsphänomene als Schwerpunktthema hatte und zusammen mit Albert Lenz das „Handbuch Persönliche Beziehungen“ herausgegeben hat, hat einen echten Schub ausgelöst, was die Breite und Tiefe der Bearbeitung des Themas für mich angeht. Ich habe mich in Bruno Bettelheim und Fritz Redl eingelesen, in die Psychoanalytische Pädagogik, die Margret Dörr gut zusammengefasst hat, und ich habe die Verbindungslinien von der Milieutheorie zur Bindungstheorie und zu sozialen Netzwerk- und Unterstützungstheorien gezogen. Parallel dazu haben wir im AK TWG weitergearbeitet und ich habe Wilma Weiß, Martin Kühn und andere aus der Traumapädagogik kennengelernt, die die BAG Traumapädagogik gegründet hatten, der ihr ja - inzwischen als „Fachverband Traumapädagogik“ - vorsteht. Die gemeinsamen Anliegen haben uns eine schöne Dynamik vorwärts beschert. Dass die Praxis sich nah an den Entwicklungen von Forschung und Theoriebildung ebenfalls weiterbewegt, neue Publikationen und Ideen sofort auf Tagungen und Fortbildungen vermittelt werden konnten, von dort ein Echo fanden, Fragen zurückkamen, wieder in der Forschung aufgegriffen werden konnten - das hat die Entwicklungen schon sehr beflügelt. Dass verschiedene AkteurInnen dabei an unterschiedlichen Themensträngen gearbeitet haben, wir aber stets in einem engen Austausch durch die Fachtagungen und andere Begegnungen und Arbeitskreise - auch gemeinsame Publikationen - waren, hat das nicht nur inhaltlich vorangetrieben, sondern ist mir auch ein wertvoller Schatz an intensiven Begegnungen und Auseinandersetzungen sowie Entwicklungen im persönlichen Bereich gewesen und geblieben. Die Traumapädagogik steht fachlich auf vielen breiten Schultern. So auch das Konzept des pädagogisch-therapeutischen Milieus. Worin liegen deines Erachtens die zentralen Wurzeln und deren besondere Qualität für das aktuelle Konzept? Eine der Wurzeln ist zweifellos die - allerdings relationale - Psychoanalyse. Psychoanalyse gewann im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in pädagogischen Kreisen mehr Einfluss als in der Psychiatrie. Neben einer Reihe disziplinärer Grabenkämpfe zwischen Pädagogik, Sozialer Arbeit und ihren Nachbardisziplinen existier(t)en auch schöne Beispiele zur Integration und Konvergenz sozialarbeiterischen, (sozial)pädagogischen, psychologischen und psychiatrischen Denkens. Eine Reihe heilpädagogischer Heime fungierte als Vorläufer kinderpsychiatrischer Stationen. Auch Alice Salomons oder Mary Richmonds erste Ausführungen zeigen, dass die Geschichte sozialarbeiterischer und pädagogischer Konzepte mit Rückgriff auf psychoanalytische Überlegungen begann. Aus diesen psychoanalytisch fundierten Konzepten - allerdings muss man ausdrücklich sagen „beziehungsorientiert psychoanalytisch orientierten Konzepten“ - mit verhaltensauffälligen Kindern aus Elendsvierteln haben sich die auch für die Traumapädagogik äußerst bedeutsamen milieutherapeutischen Überlegungen entwickelt. Der zentralen Aussage zum „Therapeutischen Milieu“ von Fritz Redl zufolge haben alle Bedingungen in der Lebensumwelt des Kindes Auswirkungen, das Geschehen wird daher bewusst in den natürlichen interpersonalen und alltäglichen Lebenskontext zurückverlegt. Psychoanalytische Erkenntnisse wurden dadurch mit pädagogischen Erfahrungen zu einer Art „psychotherapeutischer Erziehung im Alltag“ verknüpft. Das Hauptinteresse galt schon damals jenen 23 Stunden, die neben der psychotherapeutischen Sitzung vom Tag noch verbleiben. Als Herzstück der Arbeit zählt dabei ein von Fachperson und Kind gemeinsam durchlebter, tiefenpsychologisch reflektierter und gestalteter Alltag, so Franz-Josef Krumenacker, der dem Beziehungs- und Interaktionsgeschehen und der Nachnährung die entscheidende Wirkung zuschreibt. Unter „Umwelt“ wurde im Zusammenhang milieutherapeutischer Überlegungen auch das Ambiente von Gebäuden, Räumen und Ausstattungen gefasst, das einen schützenden und Halt gebenden Rah- 309 uj 7+8 | 2023 Das pädagogisch-therapeutische Milieu men etablieren sollte. Damals sahen ja die Zimmer stationärer Einrichtungen noch etwas anders aus als heutzutage. Früh wurde auch schon gefordert, dass die Maßnahmen spezifisch auf die jeweiligen Kinder zugeschnitten sein und unter ihrer Beteiligung, also partizipativ, erfolgen müssten. Auch Bruno Bettelheims kritische Ausführungen zum Behandlungssystem seiner Zeit zeigen große Distanz zur Expertokratie. Aus einer anderen Richtung kann man den pädagogischen Milieubegriff weit zurückverfolgen - bis in philosophische Überlegungen über die Struktur der Alltagswelt und die Verfasstheit sozialer Milieus hinein, die sich im Alltag durch Konstruktions- und Interaktionsprozesse der daran Beteiligten immer wieder neu herstellen, wie Alfred Schütz das sagt. Ein Milieu entsteht demnach stets aktuell und muss auch immer wieder neu hergestellt werden. Lothar Böhnisch spricht von überschaubaren sozialräumlichen Gegenseitigkeits- und Bindungsstrukturen - als Rückhalte für soziale Orientierungen und soziales Handeln. Er formuliert das in mehreren Dimensionen, aus einer personal-verstehenden, einer aktivierenden, einer pädagogisch interaktiven und einer infrastrukturellen. Am wichtigsten aber finde ich, dass es auch bei ihm Menschen sind, die die Räume zu Sozialräumen werden lassen. Lothar Böhnisch beschreibt sehr schön, wie ein Milieu ein Klima bereitstellen kann, in dem Kinder und Jugendliche das Gefühl entwickeln können, dass das, was sie selbst an Impulsen setzen, von der sozialen Umwelt aufgenommen, anerkannt und als soziale Beziehung zurückgegeben wird. Diese Beschreibung liebe ich sehr. Entscheidend ist und bleibt also das Gefüge zwischenmenschlicher Beziehungen. Das Konzept des pädagogisch-therapeutischen Milieus gibt es nun schon einige Jahre, seither war und ist es stetig in Bewegung. Worin bestehen die zentralen Weiterentwicklungen des Konzepts? Ich denke, die Aussage eben, dass das Entscheidende das Gefüge zwischenmenschlicher Beziehungen ist und bleibt, ist zeitlos, das gilt einfach immer. Dennoch hat sich seit der Etablierung des Konzepts durch Bruno Bettelheim und Fritz Redl einiges verändert. So wurde uns bald deutlich, dass die Begrifflichkeit „Therapeutisches Milieu“ eine leicht zu missdeutende Falle darstellt. Auf Fachtagungen und in Diskussionen mit FachkollegInnen wird darunter immer wieder der hervorstechende Einfluss psychotherapeutischer Interventionen verstanden, nicht etwa, wie es Milieukonzepte eigentlich vertreten, dass das heilsame bzw. förderliche Geschehen im natürlichen Lebensalltag der AdressatInnen stattfindet und von dort aus seine Wirkung entfaltet. Letzteres jedoch haben aktuelle Jugendhilfestudien deutlich aufgezeigt. Kinder und Jugendliche aus stationären Einrichtungen weisen eindeutig den Fachkräften im Alltag die größte Veränderungsrelevanz für positive Verläufe zu. Das wird sehr leicht verwechselt. Es besteht also berechtigt die Sorge, sich mit dem Begriff „Therapeutisches Milieu“ therapeutischen und medizinisch-psychiatrischen Logiken zu unterwerfen, die letztlich gar nicht für das gesamte Wirkungsspektrum in der Kinder- und Jugendhilfe verantwortlich sind. Aus der Konzeption des „Therapeutischen Milieus“ die Logik abzuleiten - wie dies durchaus häufig geschieht -, in stationären Kinder- und Jugendhilfekontexten sei es damit getan, qualifizierte Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen anzustellen und die Fachkräfte, die den Alltag mit den Kindern und Jugendlichen bestreiten, mit schlecht bezahltem und gering qualifiziertem „Bodenpersonal“ auszustatten, ist folglich ein fataler Irrtum. „Therapeutisches Milieu“ - oder unmissverständlicher ausgedrückt, „pädagogisch-therapeutisches Milieu“ - bedeutet also offenbar ausdrücklich nicht eine Therapeutisierung des Alltags, sondern eine explizite Betonung auf pädagogisch und sozialarbeiterisch verwurzelte Betreuungskonzeptionen. Bedeutsam ist das auch, weil die klassischen Überlegungen der Psychoanalytischen Pädagogik - wie heute - für jene schwer verhaltensauffälligen Kinder mit früh erworbenen Problem- 310 uj 7+8 | 2023 Das pädagogisch-therapeutische Milieu lagen gelten, die im herkömmlichen Setting einer ambulanten oder stationären Psychotherapie nicht ausreichend behandelbar waren, also keineswegs Psychotherapieklientel, sondern Sozialarbeitsklientel. Das gilt übrigens auch für die frühen Arbeiten von Carl Rogers, der ebenfalls in einer Ambulanz für auffällige Kinder und Jugendliche arbeitete. In dem Praxisbändchen „Professionelle Beziehungsgestaltung für die psychosoziale Arbeit und Beratung“, das ich aus meiner Habilitation heraus entwickelt habe, zeigt sich, wie früh er sein Behandlungsverständnis aus der Gestaltung einer förderlichen Beziehung bezog. Die Beziehung wird in seiner Vorgehensweise aktiv ermöglicht, ist von Empathie, Wertschätzung und Kongruenz geprägt und wirkt als korrigierende Beziehungserfahrung. Darüber soll es KlientInnen möglich werden, ihr inneres Erleben zu aktualisieren, zu thematisieren und sich selbst besser zu verstehen - heute würden wir sagen, es soll zu einem gemeinsamen Verstehen kommen. Dort ist auch Martin Bubers existenzielle Beziehungsphilosophie eingeflossen, der davon ausgeht, dass Begegnung „geschieht“, also nicht produziert werden kann, es geht also um aufrichtige Begegnung, um Dialogizität und um Intersubjektivität, wie Rogers und Buber das in ihrem Dialog feststellen. Das ist mir ein wichtiges Element im Konzept des „pädagogisch-therapeutischen Milieus“ geworden und wird von jeher am eindeutigsten von humanistischem Gedankengut getragen. Wenn sichere Orte für die Kinder und Jugendlichen angeboten werden, in denen hoffnungsvolle Beziehungen wachsen können, dann entstehen Chancen für korrigierende Beziehungserfahrungen. Daran haben Martin Kühn und Marc Schmid auch gearbeitet. Relativ bald wurde mir und uns in der Entwicklung des Konzepts des „pädagogisch-therapeutischen Milieus“ deutlich, dass eine Verknüpfung zur Bindungstheorie einen sehr sinnvollen und weiterbringenden Weg eröffnen würde. Das war natürlich mit einem kurzen Ausflug nicht getan und hat mich viele Jahre gekostet. Aber ich habe davon keine Minute bereut. Die bindungstheoretische Fundierung der Milieuarbeit, Traumapädagogik und im weitesten Sinne Sozialen Arbeit als „Beziehungsprofession“ ist meines Erachtens essenziell für das Verständnis der Bedeutung nicht nur der Milieukonzepte. Ich kann mir diese - bis ins Evolutionäre zurückreichende - Fundierung absolut nicht mehr wegdenken und wir können auf Interventionsformen wie das Verbalisieren emotionaler Erlebnisinhalte bzw. Mentalisierungsbemühungen in der praktischen Arbeit nicht mehr verzichten. Perspektivwechsel: Woran erkennt oder spürt ein sechsjähriges Kind in einer Wohngruppe, dass das Konzept des pädagogisch-therapeutischen Milieus von den Fachmenschen in der Gruppe konsequent umgesetzt wird? Das hat viel mit der eben erwähnten bindungstheoretischen Fundierung zu tun. Aber zunächst beginnt es eben wieder bei den Wurzeln des Milieukonzepts. Entwickelt sich ein förderliches Milieu, dann spürt das Kind, dass es wie von selbst und sehr schonend im Rahmen des Alltags neue, alternative Lebenserfahrungen machen kann. Zunächst indem die Suche nach relevanten Bindungs- und Vertrauenspersonen aktiv von den Fachpersonen und auch anderen BewohnerInnen beantwortet wird bzw. - falls das Kind aufgrund von erworbenem Misstrauen nicht zur Suche in der Lage ist - proaktiv Vertrauen vorab geschenkt wird. Diese Vertrauensmomente und Vertrauenspersonen wirken als „Zugangspunkte“, „access points“, wie Anthony Giddens das sagt, durch die hindurch weiteres Vertrauen in andere Personen des Umfelds und auch in die ganze Institution gewonnen werden kann. Für das Kind bedeutet dies ein Gefühl von Halt und Geborgenheit. Das kann sehr lange dauern, aber wenn Vertrauen gewonnen ist, können sich für das Kind Chancen eröffnen, innerhalb der Gemeinschaft neue Erfahrungen zu machen. Ich nenne die ersten Gehversuche gerne „schützende Inselerfahrungen“, weil viele komplextraumatisierte Kinder Geborgenheit noch nicht wirklich erlebt haben. 311 uj 7+8 | 2023 Das pädagogisch-therapeutische Milieu Voraussetzung dafür sind jedoch auf Gegenseitigkeit - also dialogisch und partizipativ - angelegte bindungsrelevante Beziehungen. Daher braucht es hier auch Bindungstheorie, um zu verstehen, was das Kind selbst dabei spürt. Das Gefühl von Aufgehobensein und in dieser Aufgehobenheit einzelne vertrauenswürdige Bindungspersonen gewonnen zu haben, ermöglicht fortgesetzte korrigierende Erfahrungen für das Kind. Diese sind sehr breit angelegt: Erfahrungen, dass Widerspruch nicht Gewalt als Antwort hat, Erfahrungen, dass die Suche nach körperlicher Nähe nicht missbräuchlich ausartet, die Erfahrung, dass das Gegenüber meine Bindungsbesonderheiten alltagsdiagnostisch erkennt und sich konstruktiv darauf einstellt, damit sich die Kommunikation nicht verhakt. Besonders bedeutsame korrigierende Erfahrungen sind „Mentalisierungserfahrungen“. Wenn eine Vertrauensbasis gewonnen ist, beginnen sich häufig biografische Verletzungen zu aktualisieren. Das wird von den Kindern und Jugendlichen als verwirrend erlebt, denn jetzt geht es ihnen ja eigentlich besser, die Gewalt hat aufgehört, aber subjektiv geht es ihnen gar nicht besser, denn ständig kommen zerrüttende Gefühle hoch. Dem sechsjährigen Kind kann man das erklären, schon das entlastet. Aber vor allem können die aufkommenden, oft heftigen Gefühle in dieser für das Kind schwierigen Situation durch offene Kommunikation mit der Bindungsperson „ko-konstruiert“, wie die Grossmanns das sagen, also erläutert werden, um auf diese Weise Mentalisierungsprozesse anzuregen. Ein geglückter Dialog darüber erschließt die Bedeutung von Gefühlen und macht sie so den eigenen Reflexionen - dem „Nach-Denken“ - und möglichen Veränderungen zugänglich, wie Karin und Klaus E. Grossmann das schön beschrieben haben. Das fühlt sich im optimalen Fall befreiend an und hilft, Gefühle für sich klar zu benennen, zu beobachten - in weiterer Ferne dann auch zu gestalten und zu regulieren. Wenn sich zeigt, dass auf dieser Ebene viel Entwicklung stattfindet und das Kind dazu stabil genug ist, kann hier auch therapeutische Unterstützung erfolgen. Aber zunächst geht es um eine viel basalere Ebene von alternativen kleinen Erfahrungsbausteinen im jeweiligen Alltag mit Flooding-Gefühlen: „Das ist Wut, dagegen kann ich dies und dies machen; das ist Schmerz, da kann ich mir bei der oder dem Hilfe holen; das ist Angst, das zeigt mir das und das an, das triggert mich so und so.“ Wenn sich dieses „gesammelte Bewusstsein“ ausweitet, entsteht mehr Selbstbemächtigung, wie Wilma Weiß das beschreibt. Über den gesamten Zeitraum hinweg ist die Integration des sozialen Umfelds in die Betreuung sehr wichtig, als Unterstützung für den Bewältigungsprozess und als prophylaktischer Schutz gegen Reviktimisierungen und sekundäre Traumatisierungen. Ich muss mich als Fachperson tendenziell überflüssig machen! Diese engmaschige Zusammenarbeit und Vernetzung erfährt bei jedem Einzelfall eine individuelle Ausgestaltung. Hast du Pläne für die Zukunft des Konzepts und was wünschst du dir für die Weiterentwicklung der Traumapädagogik? Die Erschütterung über die schwerwiegenden Auswirkungen über frühe Verletzungen von Kindern führt ja häufig zu einer Zentrierung auf die Schäden und Verletzungen, die dadurch entstanden sind. Dabei wird häufig übersehen, dass traumatisierte Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ihrem Leben auch weiterhin zurechtkommen müssen und dass dies vielen unter großen Leistungen und Anstrengungen auch gelingt. Der alleinige Fokus auf die Symptomatik und Zerstörung reduziert die Betroffenen auf die negativen Erfahrungen und ignoriert ihre Überlebenskraft. Vor allem aber erschwert diese pathogenetische Sichtweise, psychosoziale Strategien aufzufinden, die eine positive Verarbeitung unterstützen. Meine langjährigen Erfahrungen mit Menschen, die traumatische Belastungen erlebt haben, zeigt, welch großes Bewältigungspotenzial Betroffene haben, wenn sie angemessen unterstützt werden. Ich wünsche mir im psychosozialen Bereich einen Turn 312 uj 7+8 | 2023 Das pädagogisch-therapeutische Milieu in diese Richtung, weg von der pathologiezentrierten Therapie und Beratung, hin zu einer Trauma-Versorgung, die die Potenziale der Betroffenen ernst nimmt und sich mit ihnen gemeinsam auf den Weg macht. Ich denke, die Traumapädagogik hat da - unter anderem mit dem Konzept des Expertentums, wie es Wilma Weiß und Anja Sauerer vertreten - viel geleistet, aber im gesamten Gesundheits- und Sozialsystem gibt es hier immer noch viel zu tun. Traumapädagogik kann und muss hier fortlaufend ein wichtiger Motor sein. „Pädagogisch-therapeutische Milieuarbeit“ hat hier - wie Traumapädagogik insgesamt - die Aufgabe, Kinder und Jugendliche inmitten ihres alltäglichen Lebensumfelds in ihren Bewältigungsversuchen zu unterstützen. Auf diese Weise für Kinder in jeder Altersstufe Möglichkeiten und Veränderungsräume zu schaffen, soziale Kompetenz sowie Emotions- und Sinneswahrnehmungsfähigkeiten bzw. -regulationsfähigkeiten zu unterstützen, stellt eine große Chance für die weitere Entwicklung dar. Veränderungsrelevanz allein den traumakonfrontierenden psychotherapeutischen Verfahren zuzuweisen, greift zu kurz. Entlang der Überlegungen pädagogischer und therapeutischer Milieukonzepte Gedanken und Gefühle traumatisierter Kinder und Jugendlicher auf die vorhin beschriebene Weise professionell diagnostisch zu erfassen, gemeinsam mit ihnen zu verstehen und anzunehmen, ist definitiv wirksam, wie wir in Forschungsprojekten festgestellt haben. Das förderliche soziale Klima als biografisch verfügbaren sozialräumlichen und sozialemotionalen Kontext, wie Lothar Böhnisch das sagt, bereitzustellen und damit Geborgenheit, Verlässlichkeit und gegenseitigen Respekt anzubieten und damit wiederum Bewältigungs- und Gestaltungskompetenz zu fördern, ist definitiv hilfreich. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir dies noch viel offensiver und an verschiedenen Stellen vertreten, erforschen, durchsetzen, in Curricula und Leitlinien für Diagnostik und Intervention einspeisen. Dazu war die Gelegenheit noch nie so groß wie jetzt! Und das alles hat viel mehr, als man auf den ersten Blick glaubt, mit der Frage zu tun, ob frühe Verletzungen und Traumata, insbesondere Gewalt, als individualisierbares gesundheitliches Problem oder als Ausdruck von „gesellschaftlich bestimmten Machtverhältnissen und Dominanz- und Ungleichheitsstrukturen“ betrachtet werden, wie Julia Gebrande das ausdrückt. Die Auswirkungen von Gewalt als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren, für deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind, fügt Betroffenen erneut Unrecht zu und wirkt sequenziell traumatisierend, das hat Hans Keilson schon gesagt. Auch Judith Lewis Herman spricht davon, dass Traumatisierte sich „disconnected“ und „disempowered“ erfahren. Sie hat ja das Traumakonzept als eine der ersten in die Fachwelt implementiert. Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt. Es geht also auch um eine politische Positionierung und Aufarbeitung von Unrecht. Ich freue mich, dass ich in der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs aktuell dazu arbeiten kann. Aber mit diesem Anliegen, habe ich das Gefühl, bin ich in der Traumapädagogik-Community ja ohnehin nicht alleine. Liebe Silke, wir danken dir herzlich für dieses Interview! Prof. Dr. Silke Brigitta Gahleitner Alice-Salomon-Hochschule - University of Applied Sciences Berlin Alice-Salomon-Platz 5 12627 Berlin sb@gahleitner.net
