unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
757+8
Aus der Ohnmacht in die Macht: Gelebte traumasensible Partizipation als heilsames Korrektiv in der stationären Jugendhilfe
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2023
Anja Sauerer
Karin Strempel
Die zentrale Aufgabe der Partizipation in der Traumapädagogik ist die Korrektur von Ohnmachts- und Kontrollverlusterfahrungen. Partizipation fördert die Selbstbemächtigung der uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Sie erfahren Macht in der Überwindung von Ohnmacht. Partizipation kann nur gelebt werden, wenn der ganze Mensch gesehen und bestmöglich verstanden wird und darüber Ohnmachtserfahrungen heilsam korrigiert werden können.
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342 unsere jugend, 75. Jg., S. 342 - 345 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art48d © Ernst Reinhardt Verlag Aus der Ohnmacht in die Macht: Gelebte traumasensible Partizipation als heilsames Korrektiv in der stationären Jugendhilfe Einblicke in die traumapädagogische Arbeit der Antonia-Werr-Zentrum GmbH in St. Ludwig Die zentrale Aufgabe der Partizipation in der Traumapädagogik ist die Korrektur von Ohnmachts- und Kontrollverlusterfahrungen. Partizipation fördert die Selbstbemächtigung der uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Sie erfahren Macht in der Überwindung von Ohnmacht. Partizipation kann nur gelebt werden, wenn der ganze Mensch gesehen und bestmöglich verstanden wird und darüber Ohnmachtserfahrungen heilsam korrigiert werden können. von Anja Sauerer Jg. 1973; Dipl.-Sozialpädagogin, Erzieherin, Traumapädagogin, Institutsleiterin, Geschäftsführerin und Gesamtleiterin der Antonia- Werr-Zentrum GmbH (AWZ) und Vorstandsmitglied im Fachverband Traumapädagogik e. V. Heilsame Erfahrungsräume brauchen eine traumasensible Pädagogik. Diese beinhaltet die konsequente Anerkennung der ExpertInnenschaft der uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen und fördert ein gemeinsames, gegenseitiges Verstehen. Das bedeutet für die jungen Menschen, dass sie sich hier zeigen dürfen mit all ihren Anteilen. Sie müssen nicht befürchten, deswegen gemaßregelt oder verlassen zu werden und sie erfahren, dass sie Einfluss auf ihr Leben nehmen können. Wir betrachten das wohlwollende und wertschätzende gemeinsame und gegenseitige Verstehen als einen Teil der Haltequalität in unserer Einrichtung, der Antonia-Werr-Zentrum GmbH (AWZ) in St. Ludwig. Karin Strempel Jg. 1961; Dipl.-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Verhaltens-, Gesprächs- und systemische Therapeutin, Supervisorin (AVM, BDP), Traumapädagogin 343 uj 7+8 | 2023 Gelebte Partizipation als heilsames Korrektiv Partizipation unterstützt innerpsychische Prozesse Dieses heilsame Korrektiv kann nur im Zusammenspiel verschiedener Faktoren erfahrbar gemacht werden. Hierzu zählt natürlich zuallererst eine vertrauensvolle heilsame Beziehungsgestaltung, auf deren Basis Erfahrungsräume eröffnet werden, die die Anerkennung der ExpertInnenschaft und den Willen zum gemeinsamen Verstehen beinhalten und echte Teilhabe ermöglichen. „Es geht um das heilsame Aufbrechen von starren inneren Mythen, dass das Leben nur fremdbestimmt funktioniert. Selbstbestimmung lernen, üben und integrieren und daraus Selbstwirksamkeit positiv erfahren, ist eine grundlegende Basis zur Traumabewältigung. Grundlegend ist hier auch das Vertrauen als zentrales Element eines sicheren Ortes und ein Vertrauen in die Fähigkeiten und Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen“ (Weiß/ Sauerer 2018, 105). „Ich habe hier im LuiRat meine Stimme wieder bekommen und damit bin ich in mir stärker geworden“ (Xenia über ihre Erfahrung im Heimrat des AWZ). Somit ist Partizipation mehr als „nur“ die Beteiligung im Alltag, sie unterstützt positiv auch innerpsychische Prozesse, steigert die Selbstverantwortung für das eigene Leben und hat nicht zuletzt eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung einer mitfühlenden Gesellschaft. Partizipation geht alle an Partizipation braucht innerhalb einer Institution die Anerkennung, dass sie wichtig ist und gewollt wird, also ein „Ja“ auf allen Ebenen und die aktive Gestaltung auf diesen. Besonders die PädagogInnen stärken Formen der Partizipation, des Austausches, der kontroversen und konstruktiven Auseinandersetzung über Konzepte, Entwicklungspotenziale der Organisation, Räume der Psychohygiene, Selbstsorge, Transparenz, Wertschätzung und Vertrauen. Alle in der Institution Tätigen brauchen die gleiche Sprache und einen gemeinsamen Nenner in der Haltung. Wenn die Institution diese Haltungen, Sprachregelungen und Vorgehensweisen anerkennt, ja sich gerade dadurch auszeichnet, in allen Ebenen davon durchdrungen und bejaht ist, entsteht letztlich ein so weit als möglich sicherer Ort für alle darin Tätigen. „Nur wo es eine unwandelbare Mitte gibt, kann es Wandel geben“ (Klostermann 1997, 60) - ein Wandel, der stets partizipativ geprägt und ausgerichtet auf das Wohl aller in der Institution ist. Partizipation auf Augenhöhe J. Lewis Herman beschreibt ein grundlegendes Gefühl von Mädchen und Jungen aus herausfordernden Lebensumständen: „Wer ein chronisches Trauma erlitten hat, fühlt sich unwiderruflich anders oder verliert jegliches Gefühl für sich selbst“ (Herman 1993, 123). Die ersten kleinen Schritte zur Korrektur dieses Gefühls sind möglich und auch Aufgabe einer traumasensiblen Partizipation. Es beginnt mit der Sprache. Denn die Sprache hat großen Einfluss auf das Verstehen, Bewerten und Annehmen der Gefühle. Und wer sich unwiderruflich anders fühlt, fühlt sich erst einmal nicht zugehörig. Es braucht also eine Sensibilisierung der Sprache, um Teilhabe auf Augenhöhe zu ermöglichen. Denn Augenhöhe heißt zuerst Wertschätzung durch die Sprache: darum sprechen wir auch von ExpertInnen aus herausfordernden Lebensumständen und nicht von traumatisierten jungen Menschen. Wir möchten das erfahrene Leid würdigen und zugleich die Lebensleistung hervorheben. Deshalb begegnen wir unseren ExpertInnen mit einer Haltung, die ein Gefühl von Zugehörigkeit stiftet und echte Beteiligung ermöglicht. In diesem Sinne sehen wir Partizipation als eine fördernde und wohlwollende Begegnung auf Augenhöhe. 344 uj 7+8 | 2023 Gelebte Partizipation als heilsames Korrektiv Partizipation und die Bedeutung der Sprache „Ohne das Sprechen mit anderen als eine Form des Miteinanders können wir uns weder unserer Selbst noch der Welt wirklich gewiss sein. Erst im Dialog mit anderen wird das Erlebte eigentlich begriffen und zur Erfahrung ausformuliert […] und die Fäden der personalen Identität aufgenommen und geflochten“ (Emcke 2016, 52f ). Alle in der Institution Tätigen brauchen einen Gleichklang in der Sprache und den gemeinsamen Nenner in der Haltung. „Wenn wir nun davon ausgehen, dass der emotional sichere Dialog auch ein Teil des soweit als möglich sicheren Ortes ist, dann sind wir als Gegenüber in der Beziehungsgestaltung ebenfalls ein Teil des sicheren Ortes für unsere Kinder und Jugendlichen in der Art, wie wir mit ihren Fragen in Resonanz gehen“ (Weiß/ Sauerer 2018, 155) und ihr Verstehen begleiten. Der emotional sichere Dialog kann nur auf Augenhöhe erfolgen. Es geht um unsere äußere und innere Präsenz und um einen Begegnungsraum, einen so weit als möglich sicheren Ort. Die Sensibilisierung für Sprache ist eine Grundlage dafür, wie wir partizipative Erfahrungsräume als heilsames Korrektiv eröffnen. Partizipation innerhalb der Institution Unser Heimrat LuiRat, benannt nach der Ortschaft St. Ludwig, steht im Mittelpunkt unseres Partizipationskonzeptes. Er unterstützt die Öffentlichkeitsarbeit des AWZ, beteiligt sich an Fachtagungen externer wie interner Gremienarbeit, er unterrichtet an Fachakademien für Sozialpädagogik zum Thema Partizipation, war beteiligt am Schulentwicklungsprozess, der Leitbildarbeit und ist Teil der laufenden Konzeptarbeit und deren Überprüfung und Verbesserung. Die Heimrätinnen werden in die Traumapädagogik eingeführt und geschult und vermitteln das erworbene Wissen gemeinsam mit einer Fachkraft weiter in die Gruppen. In einem dreijährigen Prozess entwickelte der LuiRat das Buch „Hey, ich bin normal! “, das 2018 erschienen ist. Zentrales Anliegen der Autorinnen ist es, deutlich zu machen, dass Wissen Macht ist und durch Wissensvermittlung und Teilen von traumainformiertem Wissen Partizipation möglich wird. Partizipation in der Konzeptarbeit Eine unabdingbare Voraussetzung für die Beteiligung an der Konzeptarbeit ist zuallererst die Wissensvermittlung. Partizipation heißt hier: Wissen (mit)teilen, um mitwirken zu können und so entwicklungsgerechte Zugänge zu eröffnen. Traumainformiertes Wissen ist dann nicht mehr nur mit der eigenen Traumatisierung verbunden, sondern ein selbstwirksamer Teil von ExpertInnenschaft. Es stärkt die persönliche Autonomie und hilft dabei, immer mehr Subjekt des eigenen Lebens zu werden: Zum Beispiel werden im Umgang mit selbstverletzendem Verhalten die dabei entstandenen sichtbaren Wunden und Narben als Ausdruck eines früheren Schmerzes gesehen, anerkannt, versorgt und brauchen, wenn sie verheilt sind, nicht mehr verdeckt zu werden. Diese Anerkennung und Versorgung der eigenen Wunden macht Sinn und kann heilsame Energien freisetzen, sodass selbstverletzendes Verhalten nicht mehr „unbedingt gebraucht“ wird, um den inneren Schmerz zu lindern. Dieses Konzept wurde gemeinsam mit den Heimrätinnen weiterentwickelt und für dessen Einsatz bei allen Betreuten um Erlaubnis gebeten. Partizipation ohne BezugserzieherInnensystem Partizipation und Beziehung als große Wirkfaktoren gehören zusammen: wir sind Teil der Pädagogik und gestalten Beziehung, wir wirken enorm! Aber wir wollen kein erneutes fremdbestimmtes „Bezogen-sein-müssen“. Gerade deshalb pflegen wir in unserer Einrichtung kein BezugserzieherInnensystem. Denn schon durch die Unterbringung in den stationären 345 uj 7+8 | 2023 Gelebte Partizipation als heilsames Korrektiv Hilfen erfolgt auch eine fremdbestimmte Zuweisung zu neuen Bezügen, zu einer neuen Art (Zwangs-)gemeinschaft. Für uns heißt Partizipation in der Beziehung zwischen PädagogIn und Kind deswegen eben nicht, eine fremdbestimmte Bezugs- oder Vertrauensperson zu installieren. Wir wollen eine Freiheit im Bezogensein ermöglichen, keine unbewusste Erfüllung von Erwartungen auslösen, sondern die uns Anvertrauten selbstbemächtigte Beziehungen gestalten lassen und sie darin begleiten. Wir möchten ein geschütztes Beziehungsangebot in einem reflektierten Rahmen bereitstellen, in denen sie ihr Bezogensein spüren und erproben dürfen. Ja, PädagogInnen wollen auch gemocht werden - doch auszuhalten, ob man „gemocht“ wird, müssen wir als Fachkräfte lernen und nicht die Kinder, denen ungefragt jemand zur Seite gestellt wird! Es geht uns um eine Verbindlichkeit in der wertschätzenden und emotional sicheren Begleitung aller und nicht um Zuweisung. Die Mädchen und jungen Frauen dürfen sich „in Beziehung“ erproben, Nähe und Distanz neu spüren, um zu einem wahrhaften Empfinden anderen Menschen gegenüber zu finden. Beziehungen dürfen wachsen und entstehen, sodann auch als wichtiger Bezug betrachtet und gelebt werden, aber eben nicht von außen zugeschrieben und bestimmt. So wird Teilhabe am Leben gefördert durch eine achtsame Begleitung, durch vielfältige Beziehungsangebote und Freiheit im Bezogensein. Resümee - Partizipation ist so viel mehr ➤ Partizipation ist mehr als Teilhabe im Alltag, sie unterstützt innerpsychische Prozesse und steigert die Selbstverantwortung für das eigene Leben. Partizipation ist DIE Korrekturerfahrung und als Haltung gelebt eine Basis für traumasensible Beziehungsgestaltung. ➤ Partizipation ist sinnstiftend und vertieft die Verbundenheit mit sich selbst und anderen. ➤ Partizipation stärkt das Vertrauen in Gerechtigkeit und schützt vor Ohnmacht. ➤ Partizipation ist ein grundlegendes pädagogisches Gestaltungsprinzip und hat eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung einer mitfühlenden Gesellschaft. Einrichtungsbeschreibung: Das Antonia-Werr-Zentrum ist eine heilpädagogisch-therapeutische Einrichtung der Jugendhilfe für Mädchen und junge Frauen, die aus schwierigen, zum Teil traumatisierenden Lebenssituationen kommen. Die Einrichtung verfügt über therapeutische und heilpädagogisch-therapeutische Gruppen, eine intensiv-traumapädagogische Gruppe sowie eine Inobhutnahmestelle. Eine zusätzliche Intensivmaßnahme bei spezifischen Bedarfen stellt unser Betreuungsangebot im Rahmen einer Auszeit in unserer Außenstelle in der Toskana dar. Das AWZ bietet ambulante Hilfen an (SPFH, Pflegeelterncoaching etc.), ebenso Ausbildungsmöglichkeiten in den Bereichen Hauswirtschaft, Gärtnerei und Schneiderei. Zur GmbH gehört zudem in privater Trägerschaft die Von- Pelkhoven-Schule. Anja Sauerer & Karin Strempel Antonia-Werr-Zentrum GmbH Post Kolitzheim 97509 St. Ludwig info@antonia-werr-zentrum.de www.antonia-werr-zentrum.de Literatur Emcke, C. (2016): Weil es sagbar ist. Fischer, Frankfurt am Main Herman, J. L. (1993): Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. Kindler, München Klostermann, S. (1997): Management im kirchlichen Dienst. Bonifatius, Paderborn Weiß, W., Sauerer, A. (Hrsg.) (2018): „Hey, ich bin normal! “: Herausfordernde Lebensumstände im Jugendalter bewältigen. Perspektiven von Expertinnen und Profis. Beltz, Weinheim
