eJournals unsere jugend 75/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art51d
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2023
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Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe

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2023
Sebastian Schonhoff
Die Kinder- und Jugendhilfe als pädagogischer Raum zur Mitwirkung und Mitbestimmung von AdressatInnen? Wo befindet sich die stationäre Kinder- und Jugendhilfe in der anhaltenden Debatte, die mit der Forderung nach mehr Beteiligungsmöglichkeiten einhergeht? In diesem Beitrag soll zum einen der Blick auf die rechtliche und pädagogische Forderung nach Beteiligung im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe gerichtet und zum anderen die Begriffe von Partizipation und Beteiligung differenzierter betrachtet werden. Durch die Darstellung von ausgewählten empirischen Ergebnissen soll der Bezug zur praxisorientierten Sozialen Arbeit hergestellt werden.
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354 unsere jugend, 75. Jg., S. 354 - 366 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art51d © Ernst Reinhardt Verlag von Sebastian Schonhoff Staatlich anerkannter Erzieher, B. A. Soziale Arbeit, M. A. Soziale Arbeit, Promovend an der Freien Universität Berlin, tätig als Sozialarbeiter bei einem freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Münster, Lehrbeauftragter an der Kath. Hochschule NRW Abt. Münster Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe Ein kritischer Blick auf die Forderung nach und den Anspruch auf Beteiligung von AdressatInnen in den stationären Hilfesettings der Kinder- und Jugendhilfe Die Kinder- und Jugendhilfe als pädagogischer Raum zur Mitwirkung und Mitbestimmung von AdressatInnen? Wo befindet sich die stationäre Kinder- und Jugendhilfe in der anhaltenden Debatte, die mit der Forderung nach mehr Beteiligungsmöglichkeiten einhergeht? In diesem Beitrag soll zum einen der Blick auf die rechtliche und pädagogische Forderung nach Beteiligung im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe gerichtet und zum anderen die Begriffe von Partizipation und Beteiligung differenzierter betrachtet werden. Durch die Darstellung von ausgewählten empirischen Ergebnissen soll der Bezug zur praxisorientierten Sozialen Arbeit hergestellt werden. Die rechtlichen Grundlagen zur Beteiligung von AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe Um im Weiteren den Fokus auf die Relevanz und Wahrnehmung von Beteiligung im Alltag der stationären Hilfen der Kinder- und Jugendhilfe legen zu können, benötigt es einen Blick auf die aktuell gültigen rechtlichen Rahmenbedingungen. Zunächst wird sich auf die rechtlichen Vorgaben, anschließend auf die pädagogische Forderung und schließlich auf empirische Erkenntnisse zur Beteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe bezogen. Beteiligung im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe Die Beteiligung von jungen Menschen und Personensorgeberechtigten hat in der Kinder- und Jugendhilfe eine hohe Bedeutung und wird im SGB VIII hervorgehoben. Dies ergibt sich aus dem § 8 SGB VIII, demnach sind Kinder und Jugendliche entsprechend ihres Entwicklungsstands an allen sie betreffenden Entscheidungen in der Kinder- und Jugendhilfe zu beteiligen. „Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen.“ (§ 8 Abs. 1 SGB VIII) 355 uj 9 | 2023 Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe Weiter wird im § 8 Abs. 4 SGB VIII darauf verwiesen, dass die Beteiligung und Beratung in für sie verständlicher, nachvollziehbarer und wahrnehmbarer Form zu erfolgen hat. Die Akzentuierung, dass AdressatInnen zu beteiligen sind, wird zusätzlich dadurch deutlich, dass auch im § 8 a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) die Beteiligung der Personensorgeberechtigten und der Kinder und Jugendlichen auch in Fällen von Kindeswohlgefährdung und bei der Gefährdungseinschätzung verankert wird. Der Fokus liegt hier jedoch auf dem Schutzauftrag zur Abwendung der Gefahr (vgl. Jordan et al. 2015, 307f ). Hervorgehoben wird der Auftrag der Beteiligung außerdem dadurch, dass Träger von Jugendhilfeeinrichtungen dafür sorgen müssen, dass geeignete Verfahren der Selbstvertretung, Beteiligung und Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten gewährleistet werden (§ 45 Abs. 2 S. 4 SGB VIII). Durch die Setzung der rechtlichen Vorgaben ist zu konstatieren, dass die Träger der Kinder- und Jugendhilfe ihre AdressatInnen in geeigneter Form an sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen haben. In diesem Beitrag werden mit dem Begriff der AdressatInnen die Kinder und Jugendlichen, die in einem stationären Kontext untergebracht sind, bezeichnet. Der Versuch einer Verortung des Begriffes Beteiligung in der Fachdebatte zur Partizipation Im SGB VIII wird gefordert, die AdressatInnen zu beteiligen, aber wie ist die Forderung nach Beteiligung in den Fachdebatten zur Partizipation einzuordnen? Ist Beteiligung ein Begriff, der synonym zu Partizipation verwendet werden kann und sollte? Für die weitere Erörterung ergibt sich die Notwendigkeit, einen Blick auf die Diskurse zur Partizipation zu werfen und einen Versuch der Verortung des Begriffes der Beteiligung vorzunehmen. Was wird unter Partizipation verstanden? Stefan Schnurr erläutert in seiner Begriffsbestimmung, dass Partizipation ein Merkmal von demokratischen Gesellschaften sei und damit eng verbunden mit den Grundrechten auf persönliche Freiheit, Selbstbestimmung und freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ist. Schnurr versteht Partizipation als Ausdruck und Ausübung dieser Grundrechte (vgl. Schnurr 2018 a, 1126; Schnurr 2018 b, 633). Bei einer differenzierteren Betrachtung von Partizipation nimmt er eine Unterteilung in zwei übergeordnete Aspekte vor (ebd.). Als ersten Aspekt führt er die Teilnahme von AdressatInnen auf. Unter Teilnahme umfasst Partizipation die Positionierung in der Öffentlichkeit, das Artikulieren von Anliegen, Bedürfnissen und Interessen, das Austragen von Konflikten sowie das Beeinflussen von Prozessen der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung (vgl. Schnurr 2018 a, 1126f ). Als zweiten Aspekt führt Schnurr die Teilhabe an. Dabei meint Partizipation die Teilhabe an Reproduktionsprozessen, an ideellen und materiellen Gütern und am gesellschaftlichen Reichtum. Weiter führt Schnurr unter diesem Aspekt den Zugang zum öffentlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben einer Gesellschaft an (vgl. Schnurr 2018 a, 1127). In der Begriffsbestimmung von Schnurr wird die politische Ebene von Partizipation insbesondere unter dem Aspekt der Teilhabe hervorgehoben. Für die Soziale Arbeit definiert Schnurr den Begriff der Partizipation so, dass AdressatInnen bei Entscheidungen über Angebots- und Leistungsstrukturen, über Bedarfe und Probleme, Art, Umfang und Leistungen sowie über die konkrete Gestaltung der Kontexte der LeistungserbringerInnen mitwirken können (vgl. Schnurr 2018 b, 636). Wird Partizipation auf dieser Ebene erfasst, so wäre eine mögliche Schlussfolgerung, dass Kinder und Jugendliche gleichwertig dazu berechtigt sind, in Institutionen demokratisch an Entscheidungen beteiligt zu werden (vgl. Stork 2007, 77). Die Debatte zur Partizipation ist demnach eng verknüpft mit der Forderung, Institutionen wie Kinder- und Jugendhilfeträger 356 uj 9 | 2023 Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe zu demokratisieren. Nur so können Kinder und Jugendliche Kompetenzen und Fähigkeiten erwerben, um aktiv am öffentlichen Leben teilnehmen zu können. Kinder und Jugendliche benötigen Möglichkeiten, um die eigene Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit erlangen zu können (vgl. Schierer 2017, 14f ). In diesem Sinne ist Partizipation als Erziehung zur Demokratiefähigkeit zu begreifen. In anderen Begriffsdefinitionen wird der Schwerpunkt auf die Partizipationsmöglichkeiten des Subjekts gesetzt und auf dieser handlungsorientierten Ebene mit Beteiligung am Entscheidungsprozess gleichgesetzt (vgl. Moos 2012, 3; Stange 2007, 16). Auf dieser Ebene wird Partizipation vorrangig mit Begriffen wie Mitwirkung, Mitbestimmung und Selbstbestimmung in Verbindung gebracht (vgl. Stange 2007, 17). Nach diesem Verständnis von Partizipation wurden bereits einige Modelle entwickelt, die Partizipation in verschiedene Stufen zergliedern. Diese Modelle dienen zur Messung und Beurteilung der praktizierten Partizipation (vgl. Stork 2007, 35). Bei dem zugegebenermaßen verkürzten Blick auf die Diskurse zur Partizipation wird dennoch deutlich, dass keine einheitliche Definition existiert. Die Beteiligung von AdressatInnen an den sie betreffenden Entscheidungen ist nach dem Verständnis von Schnurr voranging dem Aspekt der Teilnahme zuzuordnen und sicherlich als entscheidender Teil von Partizipation zu begreifen. Zur Relevanz von Beteiligung im Alltag von Kindern und Jugendlichen in stationären Hilfesettings Wenn es gelingt, AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe zu beteiligen, können diese Kinder und Jugendlichen diverse wertvolle Erfahrungen sammeln, die sich förderlich auf die individuelle Persönlichkeitsentwicklung auswirken können. In diesem beschränkten Rahmen ist es nicht möglich, alle positiven Aspekte von Beteiligung aufzuführen, und dennoch sollen Impulse gesetzt werden, um für die Bedeutung von Beteiligung in den stationären Hilfen zu sensibilisieren. Relevanz von Beteiligung im Fachdiskurs Aus welchen Gründen ist es aus einer pädagogischen Sichtweise von Bedeutung, AdressatInnen an der Ausrichtung ihrer Hilfe sowie im Alltagsgeschehen des Hilfesettings zu beteiligen? Im folgenden Exkurs sollen Argumente zur Beantwortung der aufgeführten Frage gefunden und dargelegt werden. Gesellschaftliche Teilhabe Eine wesentliche Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe ist es, den AdressatInnen eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Diese Aufgabe ist insofern von besonderer Relevanz, da die Familien der AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe sich meistens in prekären Lebenssituationen befinden, welche dieTeilhabemöglichkeiten beschränken können (vgl. Ehlke et al. 2022, 107). Die Kinder- und Jugendhilfe hat jedoch auch den Auftrag, zu reflektieren, ob die Unterbringung in einem Hilfesetting der Hilfen zur Erziehung nicht ebenfalls Lebenslagen produziert, die zum gesellschaftlichen Ausschluss führen könnten. Somit ergibt sich für die Kinder- und Jugendhilfe die komplexe Aufgabe, Faktoren, die AdressatInnen in der sozialen Teilhabe benachteiligen, entgegenzuwirken und Stigmata abzubauen (vgl. Ehlke et al. 2022, 107; Schrödter 2020, 11f ). Beteiligung als Wirkfaktor zur Persönlichkeitsentwicklung Dass AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe an Prozessen beteiligt werden, ist erforderlich, um ein selbstbestimmtes Handeln von Kindern und Jugendlichen zu fördern und 357 uj 9 | 2023 Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe zu bestärken. Durch Beteiligungsverfahren, multioptionale Gestaltungsräume und Möglichkeiten zur Mitwirkung können Lebensbedingungen geschaffen werden, in denen es Kindern und Jugendlichen möglich ist, eine eigenverantwortliche und selbstbestimmte Persönlichkeit zu entwickeln (vgl. Ehlke et al. 2022, 43f ). Wenn Beteiligung gelingt, können die AdressatInnen befähigt werden, auch eigenständig Verantwortung für andere und für sich selbst zu übernehmen, da sie sich selbst als handlungsfähig wahrnehmen (vgl. Kraus / Schröder 2014, 266). Der Alltag von AdressatInnen aus der Kinder- und Jugendhilfe ist ein zentrales Übungsfeld, um Beteiligung zu erproben. Im täglichen sozialen Umfeld können Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen, aktiv ihr Leben zu gestalten und auf die vorherrschenden Bedingungen einzuwirken. Besonders Kinder und Jugendliche, die fremduntergebracht sind, haben häufig die Erfahrung gemacht, Bedingungen nicht beeinflussen zu können. Sie nehmen sich nicht selten als ohnmächtig und ausgeliefert wahr. Dadurch wird gerade in diesen Hilfesettings die Bedeutung von Beteiligung ersichtlich. Kinder und Jugendliche, die sich als wirksam empfinden und Einfluss nehmen können, erleben sich als selbstbewusstere Persönlichkeiten (vgl. Kraus 2019, 122f ). Beteiligung als Grundvoraussetzung für Aushandlungsprozesse Um an Entscheidungen beteiligt zu werden, bedarf es in der Regel kommunikativer Möglichkeiten, um sich in Aushandlungsprozessen mitzuteilen und seinen Standpunkt zu äußern. Dafür müssen zum einen Situationen geschaffen werden, in denen AdressatInnen an Auseinandersetzungen aktiv teilnehmen können. Zum anderen braucht es zusätzlich die Fähigkeit, Aushandlungsprozesse zu gestalten. Dafür ist es notwendig, dass Kinder und Jugendliche sich damit auseinandersetzen, welche Wünsche, Vorstellungen und Anliegen sie haben und in welchem Verhältnis diese zu den Interessen der anderen Teilnehmenden stehen (vgl. Kraus 2019, 123). In diesem kommunikativen Aushandlungsprozess müssen die verschiedenen Interessen erkannt werden, um überzeugende Argumente zu finden, die eigene Position zu vertreten und somit die anderen von dem eigenen Anliegen zu überzeugen, einen Kompromiss einzugehen oder von seinen eigenen Interessen abzusehen (ebd.). Beteiligung als Voraussetzung zur Beschwerde Da sich viele AdressatInnen in einer akuten persönlichen Belastungssituation befinden, sind ihnen die fachlichen, institutionellen und rechtlichen Regeln nicht vertraut (vgl. Urban- Stahl 2014, 253). Die Aufklärung über die Rechte und Regelungen sowie ein transparenter und offener Umgang mit Beschwerdeverfahren sind zwingend notwendig, damit sich Familien und AdressatInnen bei Konflikten beschweren und Beratung erhalten können (vgl. Urban-Stahl 2014, 255). Denn überhaupt die Option zu haben, sich im Konfliktfall beraten und beschweren zu können, ist eine wesentliche Voraussetzung, damit sich AdressatInnen beteiligen können. Jedoch ist die Implementierung einer formalen Beschwerdestruktur nicht ausreichend, denn es bedarf auch einer offenen einrichtungsinternen Grundhaltung, Beschwerden anzuerkennen und mit dem Konflikt- und Kränkungspotenzial umzugehen (vgl. Urban-Stahl 2014, 259). AdressatInnen sollten auch darüber informiert werden, dass ihnen neben einrichtungsinternen Beschwerdeverfahren unabhängige Ombudsstellen für Beschwerden und Beratung zur Verfügung stehen. Denn die internen Beschwerdeverfahren können für die AdressatInnen mit dem Problem einhergehen, dass diese in dem einrichtungsinternen Kontext agieren. Hingegen ist die Ombudsstelle als externes Beschwerdeverfahren dazu befähigt, strukturelle Machthierarchien auszugleichen, mit dem Ziel, eine gerechte Einigung zu erzielen (vgl. Urban-Stahl 2018, 480). 358 uj 9 | 2023 Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe Ein Ausschnitt von empirischen Ergebnissen zur Beteiligung im Alltag von AdressatInnen in stationären Hilfesettings Es ist ein Anliegen dieses Beitrages, einen Blick auf einen Teilausschnitt von empirischen Erkenntnissen zu Beteiligungsmöglichkeiten im Alltag der Kinder und Jugendlichen zu wagen. Dabei sollen Ergebnisse aus einer qualitativen wie auch aus zwei quantitativen Studien betrachtet werden. Da die erste aufgeführte Studie 2012 und die zweite dargestellte Studie 2007 veröffentlicht wurden und somit schon einige Jahre zurückliegen, wird als dritte Studie eine vergleichende quantitative Studie, die auch aktuellere Daten aus dem Jahr 2019 miteinbezieht, hinzugezogen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Ergebnisse aus den Jahren 2007 und 2012 weiterhin in ähnlicher Form in der aktuellen praktischen Arbeit vorzufinden und dadurch weiterhin von Relevanz sind. Ergebnisse einer quantitativen Studie zur Beteiligung von AdressatInnen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe In einer Studie von Moos befasst sich die Autorin mit der praktischen Relevanz und den erlebten Beteiligungserfahrungen im stationären Alltag der Kinder- und Jugendhilfe. Die quantitative Erhebung wurde in Rheinland-Pfalz durchgeführt und es haben sich insgesamt 31 Träger beteiligt. Die schriftliche Befragung richtete sich an Kinder und Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr, die mindestens drei Monate stationär in Wohngruppen untergebracht waren. Insgesamt wurden 621 Fragebögen von AdressatInnen ausgefüllt und zurückgesendet. Zusätzlich wurden in der Studie auch Einrichtungsleitungen schriftlich befragt. Von den Leitungskräften haben 31 Personen und somit alle kontaktierten Einrichtungen teilgenommen (vgl. Moos 2012, 4f ). Aus dieser Studie sollen ausgewählte Ergebnisse vorgestellt und ein Bezug hergestellt werden. Sind AdressatInnen ihre Rechte bekannt? In dem Themenblock „Umgang mit Rechten der jungen Menschen und Beschwerdeoptionen“ wurde die Frage gestellt, ob sich die AdressatInnen über ihre Rechte informiert fühlen. Dabei gaben 30 % an, über ihre Rechte sehr gut informiert zu sein und 54 %, dass sie sich eher gut informiert fühlen. Insgesamt fühlen sich 17 % eher schlecht oder gar nicht über ihre Rechte in den Einrichtungen informiert. Das Ergebnis zeigt, dass der überwiegende Anteil über Informationen zu ihren Rechten verfügt und dennoch ist festzuhalten, dass 17 % der AdressatInnen unzureichend oder gar nicht über ihre Rechte aufgeklärt sind. Bei einer spezifischeren Frage, ob die AdressatInnen AnsprechpartnerInnen hätten, die ihnen bei Verletzungen der Rechte helfen würden, gaben 14 % an, dass sie die Rechtsverletzungen eher nicht ansprechen würden (vgl. Moos 2012, 14). Den meisten AdressatInnen stehen zwar AnsprechpartnerInnen zur Seite und dennoch ist festzuhalten, dass nicht allen AdressatInnen, die in der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht sind, Kontaktpersonen zur Verfügung stehen. Ich fühle mich über meine Rechte in der Einrichtung informiert Angaben in % aller gültigen Fälle 60 50 40 30 20 10 0 Sehr gut Eher gut Eher schlecht Gar nicht 30 54 14 3 n RLP (n = 602) Abb. 1: Ergebnis der Befragung - AdressatInnen - zum Kenntnisstand der eigenen Rechte (Moos 2012) 359 uj 9 | 2023 Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe Welche Beschwerdemöglichkeiten haben AdressatInnen in den Einrichtungen? Eine weitere Frage in dem Themenblock befasst sich mit den Möglichkeiten, die den AdressatInnen für Beschwerden oder Anregungen in den Einrichtungen gegeben sind. Diese Frage wurde sowohl den Einrichtungsleitungen als auch den Kindern und Jugendlichen gestellt. Bei der Abfrage von Möglichkeiten, um Anregungen und Beschwerden anzubringen, konnten mehrere aufgelistete Optionen ausgewählt werden. Interessant bei dem Ergebnis ist, dass die Leitungsfachkräfte die verschiedenen Möglichkeiten für Beschwerden und Anregung als deutlich höher angegeben haben. Die Leitungskräfte gaben am häufigsten an, dass für AdressatInnen bei Gruppenbesprechungen (97 %), bei den jeweiligen BezugsbetreuerInnen (82 %), bei der Heimleitung (82 %) und direkt beim Jugendamt (82 %) die Möglichkeit besteht, Beschwerden und Anregungen zu äußern. Die AdressatInnen schätzten ihre Möglichkeiten, sich bei Gruppenbesprechungen (64 %), bei den BezugsbetreuerInnen (40 %), direkt beim Jugendamt (28 %) und bei der Heimleitung (19 %) mit Beschwerden und Anregungen einzubringen, als deutlich niedriger ein (vgl. Moos 2012, 21/ 38f ). Das Ergebnis weist darauf hin, dass die verschiedenen Möglichkeiten, um Anregungen und Beschwerden zu äußern, aus der Sichtweise von AdressatInnen als weniger geeignete Form angesehen werden oder nicht transparent vermittelt wird, dass dies gewünschte Orte sind, in denen Beschwerden und Anregungen kommuniziert werden können. In welchen Bereichen können AdressatInnen im Alltag mitbestimmen? In einer Frage zum Themenblock „Mitbestimmungsmöglichkeiten bei Alltagsfragen der Gruppen“ wurden die verschiedenen Möglichkeiten im Alltag, bei denen AdressatInnen mitbestimmen können, ermittelt. Bei der Frage „Inwiefern kannst du in deiner Gruppe mitbestimmen/ deine Meinung sagen? “ wurden Welche Möglichkeiten haben die Jugendlichen, aus ihrer Einrichtung Beschwerden oder Anregungen anzubringen? Angaben in % aller gültigen Fälle Bei Gruppenbesprechungen Bei dem jeweiligen Bezugsbetreuer/ Sprechstunde Bei der Heimleitung/ Sprechstunde der Leitung Sich direkt an das Jugendamt wenden Bei allen Erziehern in der Einrichtung Vertretung der Jugendlichen (z. B. Heimrat) Kummerkasten/ Briefkasten Andere Fürsprecher Beschwerde- und Verbesserungsmanagement Schriftliche Befragung zur Zufriedenheit 0 20 40 60 80 100 120 97 82 82 82 79 43 29 20 16 4 n RLP (n = 28) Abb. 2: Ergebnis der Befragung - Leitungskräfte - zu Möglichkeiten für Beschwerden und Anregungen (Moos 2012) 360 uj 9 | 2023 Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe unterschiedliche Bereiche aus dem Gruppenalltag aufgeführt. Die AdressatInnen konnten mehrere Items benennen. Aus den Antworten der AdressatInnen ist ersichtlich, dass sie an Entscheidungsprozessen zu Einzügen von neuen BewohnerInnen (22 %), über den Wechsel von BewohnerInnen (21 %) und über die Entlassung von BewohnerInnen (20 %) seltener mitbestimmen oder ihre Meinung dazu äußern können. Interessant ist zudem, dass sie auch beim Erstellen von Gruppenregeln mit einem relativ niedrigen Wert von 33 % angaben, beteiligt beziehungsweise angehört zu werden. Das ist insoweit auffällig, weil die Einrichtungsleitungen mit 100 % angaben, dass AdressatInnen an der Erstellung von Gruppenregeln beteiligt werden (vgl. Moos 2012, 15f/ 36). Die beiden Sichtweisen (AdressatInnen und Einrichtungsleitungen) weisen erneut eine hohe Divergenz bei der Einschätzung auf. Beteiligung von AdressatInnen bei ihrer Hilfeplanung? Ein Themenblock befasste sich mit der „Beteiligung im Rahmen der Hilfeplanung“, dabei wurden die AdressatInnen befragt, wie sie bei der Planung ihrer Hilfe beteiligt würden. 5 % der AdressatInnen gaben dabei an, dass sie allein in der sie betreffenden Hilfeplanung entscheiden könnten. Der größte Anteil mit 45 % kam zu der Einschätzung, dass sie mitentscheiden und 31 %, dass sie ihre Meinung äußern könnten. Es gaben aber auch 6 % an, dass sie lediglich informiert würden, 9 % fühlten sich überhaupt nicht beteiligt und 4 % kannten die Möglichkeit nicht oder es war für sie nicht zutreffend (vgl. Moos 2012, 22f ). So positiv zunächst das Ergebnis scheint, dass 81 % der AdressatInnen allein entscheiden, mitentscheiden oder die Möglichkeit haben, ihre Meinung zu äußern, eröffnet es auch die Frage, inwiefern seine Meinung äußern, ohne tat- Inwiefern kannst du in deiner Gruppe mitbestimmen/ deine Meinung sagen bzgl.: Angaben in % aller gültigen Fälle Essensfragen Dauer und Programmwahl des Fernsehens Auszahlung des Taschengelds Wahl von Gruppensprecher/ innen Nutzung von PCs und Spielekonsolen Nutzung von Handys Wahl und Gestaltung von Ferienreisen Belohnungen oder Strafen Regelung des Internet- und E-Mail-Zugangs Erstellung von Gruppenregeln Einzug von neuen Bewohner/ innen Wechsel von Bewohner/ innen Rausschmiss von Bewohner/ innen 0 20 40 60 80 100 79 79 76 70 68 67 63 57 47 33 22 21 20 Abb. 3: Ergebnis der Befragung - AdressatInnen - zur Mitbestimmung (Moos 2012) 361 uj 9 | 2023 Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe sächlich mitbestimmen zu können, unter dem Aspekt der geforderten Beteiligung von AdressatInnen zu verstehen ist. Kann und sollte unter Beteiligung lediglich verstanden werden, seine Meinung äußern zu dürfen? Wenn Beteiligung impliziert, dass AdressatInnen mitbestimmen und aktiv Einfluss nehmen können, dann macht die deskriptive Statistik deutlich, dass nur 50 % der AdressatInnen bei der Planung der eigenen Hilfe selbst entscheiden oder mitbestimmen können. Die andere Hälfte kann bei der Planung der sie betreffenden Hilfe nicht aktiv am Entscheidungsprozess mitentscheiden. Ergebnisse einer qualitativen Studie zur Beteiligung von AdressatInnen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe In einer Studie von Stork befasst sich der Verfasser mit der Umsetzung von Partizipationskonzepten und mit den vorzufindenden Partizipationsmöglichkeiten in den jeweiligen Hilfesettings. In der qualitativ ausgerichteten Studie von Stork wurden in einer Tagesgruppe, einer Regelgruppe und zwei Intensivwohngruppen Interviews und Gruppendiskussionen durchgeführt. Insgesamt haben sich 14 Fachkräfte und 19 Jugendliche an den Interviews und Gruppendiskussionen beteiligt (vgl. Stork 2007, 104/ 110f ). Im folgenden Abschnitt werden Teile der Ergebnisse aus der qualitativen Studie vorgestellt. Fachkräfte zwischen Alltagspädagogik und Fachdiskursen? In den geführten Interviews mit den pädagogischen Fachkräften kam die Studie zu dem Ergebnis, dass nur wenige Fachkräfte Partizipation und Beteiligung in Bezug zu allgemeinen Fachdiskursen setzten. Es konnte festgestellt werden, dass viele Fachkräfte dem Thema Partizipation und Beteiligung eine skeptische Grundhaltung entgegenbrachten. Es wurde von vielen Fachkräften als Zumutung empfunden, sich ständig mit neuen Theorien und Konstrukten aus der Wissenschaft zu beschäftigen und diese auf praktischer Ebene umsetzen zu müssen. Die Bedenken gegenüber wissenschaftlichen Theorien äußerten sich auch durch Bei der Planung meiner Hilfe werde ich wie folgt beteiligt Angaben in % aller gültigen Fälle 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Ich kann alleine entscheiden Ich kann mitbestimmen Ich kann meine Meinung sagen Ich werde informiert, aber nicht beteiligt Ich werde gar nicht miteinbezogen Diese Möglichkeit kenne ich nicht bzw. trifft für mich nicht zu 5 45 31 6 9 4 n RLP (n = 601) Abb. 4: Ergebnis der Befragung - AdressatInnen - zur Beteiligung der Hilfeplanung (Moos 2012) 362 uj 9 | 2023 Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe das Fehlen von schriftlichen Konzeptionen, Leitlinien oder methodischen Grundlagen (vgl. Stork 2007, 172f ). Obwohl eine ausgeprägte Distanzierung bezüglich neuer Theorien festgestellt werden konnte, wurden doch einige Methoden und Formen zur Umsetzung von Partizipation beziehungsweise Beteiligung auf praktischer Ebene erprobt und umgesetzt. Ist Beteiligung von der persönlichen Beziehungsebene abhängig? In den Interviews berichteten die Fachkräfte davon, dass die Mitbestimmungsrechte der Kinder und Jugendlichen zum einen an das Alter gekoppelt sind und zum anderen an das Verhalten der Kinder und Jugendlichen. Es wird deutlich, dass Kindern und Jugendlichen, bei denen im Alltag Konflikte und Probleme auftreten, weniger Möglichkeiten eröffnet werden, um mitbestimmen zu können. Schwierigkeiten, Probleme und Enttäuschungen in zwischenmenschlichen Beziehungen werden zum Anlass genommen, dass Mitbestimmungsrechte durch die Fachkräfte eingeschränkt werden (vgl. Stork 2007, 182f ). Sollten Möglichkeiten der Mitbestimmung und Beteiligung an Bedingungen in zwischenmenschlichen Beziehungen zu den PädagogInnen geknüpft werden? Insbesondere unter dem Aspekt, dass Konflikte und Abgrenzung in der Jugendphase von existenzieller Bedeutung sind? Wenn wir dieser Logik folgen, dann reduziert dies Beteiligung und Mitbestimmung zum Instrument für Belohnung und Strafe. Gruppenrunden als Ort für Beteiligung von AdressatInnen? In allen Hilfesettings, aus denen Fachkräfte oder Kinder und Jugendliche an der Studie teilgenommen haben, sind Verfahren zur Beteiligung der Gruppe im Sinne von Vollversammlungen der AdressatInnen implementiert. Der Erfolg von diesen Versammlungen wird von den Fachkräften allerdings eher skeptisch eingeschätzt. Als einen hemmenden Faktor beschreiben die Fachkräfte, dass die Versammlungen als künstlich initiierte Situation wahrgenommen würden. Zudem wird kritisch angemerkt, dass alltägliche Konflikte, Anregungen oder Äußerungen nicht direkt besprochen, sondern bis zur nächsten Versammlung aufgeschoben werden müssten. An den Versammlungen dürften zudem auch die jüngeren AdressatInnen nicht teilnehmen und würden somit ausgeschlossen. Außerdem empfinden einige Jugendliche diese Versammlungen als überflüssig und haben wenig Interesse, daran teilzunehmen (vgl. Stork 2007, 185f ). Zumindest bringt die Implementierung dieser Versammlung zum Ausdruck, dass den Fachkräften durchaus an demokratischen Beteiligungsinstrumenten gelegen ist und sie auch bereit sind, zeitliche und personelle Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Bedeutet die Beteiligung von AdressatInnen einen Machtverlust für die Fachkräfte? In der Studie äußerte eine Pädagogin die Sorge, dass AdressatInnen Macht für illegale Aktivitäten missbrauchen könnten. Damit begründet die Fachkraft die asymmetrische Verteilung der Machtverhältnisse. Die Fachkräfte äußerten aber auch, dass sie selbst sich als weniger mächtig wahrnehmen. Zudem besteht die Sorge, dass Partizipation und Aspekte der Beteiligung dazu führen, dass sie weniger auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen Einfluss nehmen können (vgl. Stork 2007, 209f ). Bei der Beobachtung eines Gruppenabends ist zu erkennen, dass allein durch die Moderation des Ablaufes Gesprächsanteile beeinflusst werden und Normen gesetzt würden. Trotzdem verweisen die Fachkräfte bei Nachfragen zur Verteilung der Machtverhältnisse darauf, dass sie selbst in die Organisationshierarchie eingebunden sind und Strukturen und Anweisungen von Leitungskräften vorgegeben bekommen (ebd.). Wird Beteiligung im Kontext von Machtverhältnissen betrachtet, so zeigt die Studie, dass Fachkräfte bedenken und Sorge haben, entmachtet 363 uj 9 | 2023 Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe zu werden und dass dies damit einhergeht, dass Kinder und Jugendliche sich selbst gefährden. Diese Befürchtung könnte damit korrelieren, dass das Thema zu wenig fachlich und methodisch betrachtet wurde und nur wenige Ideen vorhanden sind, um förderliche Strukturen für mehr Beteiligung zu schaffen. Womöglich ist diese Sichtweise auf die Theorie- und Wissenschaftsskepsis der interviewten Fachkräfte zurückzuführen. Ergebnisse einer vergleichenden quantitativen Studie zu institutionellen Beteiligungsgelegenheiten für junge Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe Ein umfangreiches bundesweites Forschungsprojekt des Deutschen Jugendinstitut e.V. hatte die Aufgabe, Leistungen, Strukturen und Entwicklungen der Kinder- und Jugendhilfe zu erfassen. Die Daten der quantitativen Studie umfassen fünf Erhebungen, die zwischen 2001 und 2019 durchgeführt wurden. Dabei wurden die Daten mit standardisierten Fragebögen erhoben. Die Auswahl der befragten Einrichtungen erfolgte durch das Zufallsprinzip und umfasst Einrichtungen aus 220 Jugendamtsbezirken. Die Fragebögen wurden von Einrichtungsleitungen, Teilleitungen oder gemeinsam in Teamsitzungen von pädagogischen Fachkräften ausgefüllt. Die Rücklaufquote umfasste in den fünf (2001 - 2019) Erhebungen zwischen 329 und 470 ausgefüllte Fragebögen (vgl. Pluto 2021, 165). Bei der Vorstellung der Studie wird sich auf zwei Ergebnisse beschränkt. Welche Möglichkeiten stehen Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen zur Verfügung, um Kritik zu äußern und Veränderungen zu bewirken? Bei der letzten Befragung im Jahr 2019 gaben auch weiterhin die Leitungs- und Fachkräfte am häufigsten an, dass die Kinder und Jugendlichen über Gespräche mit den BetreuerInnen (96%), Einzelgespräche mit der Leitung (93 %), Gespräche mit Externen wie zum Beispiel mit 2001 2004 2009 2014 2019 Gespräche mit BetreuerInnen 99 % 98 % 97 % 96 % 96 % Einzelgespräche mit Leitung 82 % 85 % 88 % 91 % 93 % Gespräche mit Externen, z. B. Jugendamt, TherapeutInnen / / 90 % 89 % Gruppenversammlungen, Gruppenabende / / 89 % 84 % Einrichtungsversammlungen, Gruppenversammlungen 76 % 75 % 74 % / / Beschwerdeverfahren / / 68 % 75 % „Kummerkasten“ 17 % 22 % 32 % 49 % 55 % Gewählte Vertretung (z. B. Heimrat, Einrichtungsrat, GruppensprecherInnen) 19 % 20 % 31 % 44 % 40 % Einrichtungsversammlungen, Vollversammlungen / / 38 % 33 % Ombudsfrau/ -mann / / 14 % 28 % Sonstige Angaben 20 % 11 % 17 % 5 % 5 % Anteil der stationären Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche folgende Möglichkeiten haben, Kritik und Veränderungsvorschläge zu äußern (Mehrfachnennungen) Anmerkungen: Die meisten sonstigen Angaben in 2001, 2004 und 2009 bezogen sich auf Gespräche mit dem Jugendamt und TherapeutInnen. n = 363 (2001), n = 395 (2004), n = 329 (2009), n = 409 (2014), n = 470 (2019) Abb. 5: Ergebnis der Befragung - Leitungs- und Fachkräfte - zu Möglichkeiten, Kritik und Verbesserungsvorschläge zu äußern (Eigene Darstellung basierend auf Pluto 2021, 167) 364 uj 9 | 2023 Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe Fachkräften aus dem Jugendamt (89 %) oder bei Gruppenabenden/ Einrichtungsversammlungen (84 %) die Möglichkeit haben, Kritik zu äußern oder Veränderungsvorschläge vorzubringen. Allerdings ist bei den Erhebungen über die Jahre betrachtet festzustellen, dass die Option, über Einzelgespräche mit der Leitung Kritik zu äußern, um 11 % angestiegen ist. Die Möglichkeit, sich bei Kritik an ein Beschwerdeverfahren zu wenden, hat sich auch von 68% (2014) auf 75 % (2019) erhöht. Ein Anstieg bei der Beschwerdeoption über einen „Kummerkasten“ ist auch von 17 % (2001) auf 55 % (2019) über die Jahre festzustellen. Ein/ e Ombudsfrau/ mann steht 28 % (2019) zur Verfügung. Dieser Wert hat sich von 2014 (14 %) bis 2019 verdoppelt (vgl. Pluto 2021, 167). Aus der Studie kann abgeleitet werden, dass das Bewusstsein bei den Leitungs- und Fachkräften zugenommen hat, Möglichkeiten und Räume zu schaffen, damit Kinder und Jugendliche Kritik äußern können. Dennoch ist auch festzustellen, dass 25 % der Einrichtung kein Beschwerdeverfahren implementiert, 45 % keinen „Kummerkasten“ als Beschwerdemöglichkeit etabliert und 72 % keinen Ombudsfrau/ mann als AnsprechpartnerIn bereitgestellt haben. Da die Studie über die Befragung von Fach- und Leitungskräften die Daten erhoben hat, bleibt zudem unbekannt, ob die AdressatInnen ihre Möglichkeiten ähnlich einschätzen würden. Welche AkteurInnen werden beim Erstellen von Regeln beteiligt? Bei der Frage, welche AkteurInnen beim Erstellen von Regeln beteiligt sind, gaben die Leitungs- und Fachkräfte bei der letzten Erhebung mit dem höchsten Wert von 93 % an, dass die Leitungskräfte an dem Prozess beteiligt werden. Dass in der Befragung aus dem Jahr 2019 die MitarbeiterInnen aus der Einrichtung (73 %) und die MitarbeiterInnen aus den Gruppen (66 %) einen geringeren Wert zur Beteiligung am Erstellen von Regeln aufweisen als die Kinder und Jugendlichen mit 79 %, könnte darauf zurückzuführen sein, dass einige Einrichtungen keine eindeutige Zuteilung der MitarbeiterInnen zu Gruppenformen vornehmen. Bei den Werten aus dem Jahr 2019 ergibt sich, dass der Träger (34 %) und die Eltern (13 %) seltener beim Erstellen von Regeln miteinbezogen werden. Die Beteiligung der Leitung am Erstellen von Regeln ist von 2001 bis 2019 um 9 % angestiegen. Bei der Betrachtung der anderen Antwortmöglichkeiten sind über die Jahre gesehen keine signifikanten Abweichungen bei den Werten zu erkennen (vgl. Pluto 2021, 169). 2001 2004 2009 2014 2019 Leitung beteiligt 84 % 87 % 90 % 91 % 93 % MitarbeiterInnen aus Einrichtungen beteiligt 75 % 79 % 81 % 78 % 73 % Kinder/ Jugendliche beteiligt 79 % 76 % 75 % 79 % 79 % MitarbeiterInnen aus Gruppe beteiligt 61 % 62 % 57 % 60 % 66 % Träger beteiligt 26 % 29 % 32 % 23 % 34 % Eltern beteiligt 13 % 14 % 14 % 13 % 13 % Sonstige Personen beteiligt k. A. k. A. 5 % 4 % 4 % Anteil der stationären Einrichtungen, in denen die befragten Gruppen an der Erstellung von Regeln in der Einrichtung beteiligt sind (Mehrfachnennungen) Anmerkungen: n = 363 (2001), n = 395 (2004), n = 329 (2009), n = 409 (2014), n = 470 (2019) Abb. 6: Ergebnis der Befragung - Leitungs- und Fachkräfte - Beteiligung der AkteurInnen beim Erstellen von Regeln (Eigene Darstellung basierend auf Pluto 2021, 169) 365 uj 9 | 2023 Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe Literatur Ehlke, C., Sievers, B., Thomas, S. (2022): Werkbuch Leaving Care. Verlässliche Infrastrukturen im Übergang aus stationären Erziehungshilfen ins Erwachsenenleben. IGfH, Frankfurt am Main Jordan, E., Maykus, S., Stuckstätte, E. C. (2015): Kinder- und Jugendhilfe. Eine Einführung in Geschichte und Handlungsfelder, Organisationsformen und gesellschaftliche Problemlagen. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel Kraus, H.-U. (2019): Beteiligung als umfassende Kultur in den Hilfen zur Erziehung. Haltung - Methode - Strukturen. IGfH, Frankfurt am Main Kraus, H.-U., Schröder, M. (2014): Partizipation. In: Düring, D., Kraus, H.-U., Peters, F., Rätz, R., Rosenbauer, N., Vollhase, M. (Hrsg.): Kritisches Glossar. Hilfen zur Erziehung. IGfH, Frankfurt am Main, 262 - 267 Loh, R., Vo, T.-Q. (2021): Nachhaltige Jugendhilfe aus Sicht der Care Leaver: innen. In: Klein, J., Macsenaere, Die Beteiligung von AdressatInnen beim Erstellen von Regeln wird mit 79 % (2019) angegeben. Dies stellt einen hohen Wert dar und somit müssten die meisten AdressatInnen die Möglichkeiten haben, das geltende Regelwerk zu gestalten. Offen bleibt die Frage, aus welchen Gründen 21 % der Einrichtungen ihre AdressatInnen nicht am Prozess beteiligen. Dieser hohe Wert der Mitbestimmung ist auch insofern interessant, da bei der quantitativen Erhebung von Moos die Einrichtungsleitungen mit 100 % angaben, Kinder und Jugendliche beim Erstellen von Regeln zu beteiligen und die AdressatInnen mit 33 % diese Möglichkeit als deutlich geringer wahrgenommen haben (vgl. Moos 2012, 15f/ 36). Es bleibt leider offen, ob die AdressatInnen diesen hohen Wert bestätigen würden. Schlussbetrachtung Beim Blick auf die Diskurse zur Beteiligung und zur Partizipation wird ersichtlich, dass beide Begriffe unterschiedlich interpretiert und verwendet werden. Die Debatten darüber sind für die Soziale Arbeit relevant und notwendig, damit beide Begriffe an Konturen gewinnen und einheitlicher gebraucht werden. Für den wissenschaftlichen und praxisorientierten Kontext würde ein gemeinsames und ein fundiertes Verständnis beider Begriffe zu einer transparenteren und spezifischeren Kommunikation führen. Von Interesse für die praktische Soziale Arbeit sollte auch sein, an welchen Themen AdressatInnen ein hohes Interesse haben, sich zu beteiligen. So schreibt der Careleaver e. V. in einem Beitrag über Beteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe: „Im Gegensatz zu den vielen kleinen Entscheidungs- und Beteiligungsmöglichkeiten im Gruppenalltag gab es bei den sehr wichtigen und lebensweisenden Entscheidungen, die beispielsweise in der Hilfeplanung oder im familiengerichtlichen Verfahren […] getroffen wurden, eher weniger Mitsprachegelegenheiten.“ (Loh/ Vo 2021, 25) Beim Blick auf die qualitative Erhebung von Stork sowie auf die quantitativen Studien von Moos und Pluto ist zu konstatieren, dass die Forderung nach mehr Beteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe weiterhin Bestand haben sollte. Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in den Hilfen zur Erziehung kann kein abgeschlossener Prozess sein. Es gilt, wiederkehrend Fachkräfte für das Thema zu sensibilisieren, geeignete Konzepte und Methoden zu implementieren und diese mit Kindern und Jugendlichen zu evaluieren und anzupassen. Sebastian Schonhoff E-Mail: sebastian.schonhoff@fu-berlin.de 366 uj 9 | 2023 Beteiligung - eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe M., Hiller, S. (Hrsg.): Care Leaver. Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit. Lambertus, Freiburg im Breisgau, 23 - 37 Moos, M. (2012): Beteiligung in der Heimerziehung. Einschätzungen aus Perspektive junger Menschen und Einrichtungsleitungen. Institut für Sozialpädagogische Forschung, Mainz Pluto, L. (2021): Institutionelle Beteiligungsgelegenheiten für junge Menschen in der Heimerziehung in Deutschland: Ein quantitativer Blick auf die vergangenen 20 Jahre aus der Sicht von Einrichtungen, Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 2, 161 - 175 Schierer, E. (2017): Fragmentierte Teilhabe. Partizipationsgestaltung in stationären erzieherischen Hilfen. Bedeutung, Möglichkeiten und Grenzen professionellen und organisationalen Handels. Springer VS, Wiesbaden Schnurr, S. (2018 a): Partizipation. In: Otto, H. W., Thiersch, H., Treptow, R., Ziegler, H. (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. Ernst Reinhardt, München, 1126 - 1137 Schnurr, S. (2018 b): Partizipation. In: Graßhoff, G., Renker, A., Schröer, W. (Hrsg.): Soziale Arbeit. Eine elementare Einführung. Springer VS, Wiesbaden, 631 - 648 Schrödter, M. (2020): Bedingungslose Jugendhilfe. Von der selektiven Abhilfe defizitärer Elternschaft zur universalen Unterstützung von Erziehung. Springer VS, Wiesbaden Stange, W. (2007): Partizipation von Kindern und Jugendlichen im kommunalen Raum I. Grundlagen. Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat, Münster Stork, R. (2007): Kann Heimerziehung demokratisch sein? Eine qualitative Studie zum Partizipationskonzept im Spannungsfeld von Theorie und Praxis. Beltz Juventa, Weinheim/ München Urban-Stahl, U. (2014): Ombudschaft und Beschwerdeverfahren. In: Düring, D., Kraus, H.-U., Peters, F., Rätz, R., Rosenbauer, N., Vollhase, M. (Hrsg.): Kritisches Glossar. Hilfen zur Erziehung. IGfH, Frankfurt am Main, 253 - 261 Urban-Stahl, U. (2018): Advocacy (Anwaltschaft). In: Graßhoff, G., Renker, A., Schröer, W. (Hrsg.): Soziale Arbeit. Eine elementare Einführung. Springer VS, Wiesbaden, 473 - 484