eJournals unsere jugend 75/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art54d
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2023
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"Wie weit geht denn die Beteiligung?"

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2023
Andrea Scharinger
Andreas Trummer
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es: Partizipation stellt sich nicht aufgrund guter Absichten von selbst ein, sondern braucht impulsgebende Prozesse und Akteure. Drei Beispiele konkreter, teils organisationsübergreifender Umsetzungen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe in Österreich werden vorgestellt.
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389 unsere jugend, 75. Jg., S. 389 - 395 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art54d © Ernst Reinhardt Verlag „Wie weit geht denn die Beteiligung? “ Beteiligungsprozesse in der Praxis stationärer Kinder- und Jugendhilfe Es gibt nichts Gutes, außer man tut es: Partizipation stellt sich nicht aufgrund guter Absichten von selbst ein, sondern braucht impulsgebende Prozesse und Akteure. Drei Beispiele konkreter, teils organisationsübergreifender Umsetzungen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe in Österreich werden vorgestellt. von Mag. Andrea Scharinger Jg. 1965; Studium der Wirtschaftspädagogik, Dipl. Organisationsberatung, Personalentwicklung und Supervision, seit 1990 tätig in leitender Funktion im Bildungs- und Sozialbereich mit Schwerpunkt Personalwesen und Bildung, seit 2013 Geschäftsführerin der Pro Juventute Soziale Dienste GmbH Partizipation als Kinderrecht und zentraler Wirkfaktor in der Kinder- und Jugendhilfe ist ein in unserer Organisation, der Pro Juventute Österreich als freier Träger in der stationären Kinder- und Jugendhilfe, allgemein geteilter Wert - bisweilen als selbstverständlich angesehen. Mit Blick auf das Stufenmodell von Beteiligung zeigt sie sich in der sozialpädagogischen Praxis jedoch als Chamäleon, das je nach Haltung des Teams, Zusammensetzung der Kinder- und Jugendlichengruppe und öffentlichen/ organisationalen Vorgaben zwischen Scheinpartizipation und Selbstbestimmung changiert (Hart 1992). Sie erscheint einerseits landläufig als etwas, das für die Kinder und Jugendlichen hergestellt, bisweilen verordnet werden muss. Von öffentlichen und freien Trägern werden deshalb Projekte und Initiativen angestoßen, um Beteiligungsprozesse dauerhaft zu implementieren - einige solcher fruchtbarer Ansätze sollen in diesem Artikel thematisiert werden. Dort, wo sich Beteiligung aber quasi ohne Zutun entwickelt in der Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen, gerät sie oft in Konflikt mit der sozialpädagogischen Sorge: Der jugendliche Wunsch nach uneingeschränkter Mediennutzung beispielsweise hat noch jede beteiligungsorientierte Fachkraft vor Herausforderungen gestellt. Hier zeigt sich besonders, dass Partizipation zwar als Recht und Wert breit verankert, aber inhaltlich und praktisch individuell umgesetzt und diskursiv hergestellt werden muss. Mit der simplen Frage „Wie weit geht denn die Dipl.-Päd. Univ. Andreas Trummer, M. Sc., Bakk. Phil. Jg. 1978; Studium der Erziehungswissenschaft, Kunstgeschichte und Human Resources Management, seit 2012 in unterschiedlichen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe tätig, derzeit als Leitung der Pro Juventute Akademie für psychosoziale Berufsgruppen 390 uj 9 | 2023 „Wie weit geht denn die Beteiligung? “ Beteiligung? “ (Trummer 2021, 57) einer Fachkraft im Rahmen einer internen Befragung zu Partizipation und Kinderschutz lässt sich das Spektrum von Partizipation neben der graduellen Abstufung auch auf die möglichen Akteure ausweiten: Inwieweit haben Herkunftssystem und wichtige Bezugspersonen für die Kinder und Jugendlichen ein Mitsprache- und Gestaltungsrecht im Betreuungsprozess? Im gleichen Atemzug wurden bei genannter Fachkräftebefragung wichtige Faktoren für das Gelingen von Partizipationsprozessen benannt: Einer diesbezüglich offenen Haltung stehen Aspekte von Überforderung, Unsicherheit und Kontrollverlustängste bei Mitarbeitenden gegenüber, die es ernst zu nehmen und zu bearbeiten gilt (Trummer 2021, 46). Darüber hinaus ist Fach- und Methodenwissen gefragt, um einerseits eine entwicklungsadäquate Vermittlung von und Befähigung zur Artikulierung des eigenen Willens, zu Beschwerde und Selbstschutz für Kinder und Jugendliche in der stationären Betreuung anzustoßen und andererseits passende Settings für einen fruchtbaren Dialog von unterschiedlichen (Interessens-)Gruppen zu gestalten. Wie sich Pro Juventute als Organisation und Partner in der Kinder- und Jugendhilfe auf den Weg zu mehr Beteiligung macht und wie einige der oben genannten Aspekte dabei tatsächlich zum Tragen kommen, wollen wir anhand der folgenden Beispiele von Beteiligung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe beschreiben. Mit „Drei Häuser in einem“ und „Moverz - der Beteiligungsprozess der Kinder- und Jugendhilfe Oberösterreich“ sollen zwei bereits etablierte und mit „Wir heiraten“ ein derzeit anlaufendes Projekt vorgestellt werden. „Drei Häuser in einem“ Ein Versuch, zwei Gruppen unter dem Vorzeichen der Partizipation zusammenzuführen, die sonst kaum Berührungspunkte haben, sei im Folgenden beschrieben. Ausgangspunkt für das Projekt war der Wunsch des Präsidiums der Pro Juventute, einen direkten Dialog zwischen den Mitgliedern der Generalversammlung (Aufsichtsgremium) und den bei Pro Juventute begleiteten Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, was in dieser Form noch nie stattgefunden hat. Um diese Chance gewinnbringend für alle Beteiligten umzusetzen, war zunächst eine Schärfung der Zielsetzung notwendig. So sollten zum einen die Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit bekommen, ihre Lebenssituation, ihre Sorgen und Wünsche in einem wichtigen Entscheidungsgremium einzubringen und dabei Einblick bekommen, wie die Rahmenbedingungen und Entscheidungen für die Betreuung bei Pro Juventute zustande kommen. Zum anderen sollte den Mitgliedern der Generalversammlung ein Eindruck vermittelt werden, wie Partizipation in der pädagogischen Praxis unserer Wohngemeinschaften umgesetzt wird. Basis für die tatsächliche Umsetzung von Partizipation waren bis dato die Vorgaben und Anregungen unseres pQM (pädagogisches Qualitätsmanagement). Hier sind Gremien wie Gruppenforum und Hausparlament festgeschrieben und weitere Partizipationsmöglichkeiten vorgeschlagen. Da bislang neben diesen Möglichkeiten organisationsweite Beteiligungsstrukturen fehlten, musste auch die Partizipation in der Generalversammlung auf Ebene der Wohngemeinschaft ansetzen. Wichtig war uns dabei, das Projekt nicht als isolierte Aktion zu gestalten, sondern in einen für die Kinder und Jugendlichen nachvollziehbaren Zusammenhang zu stellen. Nach interner Suche wurden uns von den Jugendlichen und Fachkräften einer Wohngemeinschaft gute Erfahrungen mit Beteiligung und Engagement signalisiert, die im Rahmen des Projektes Moverz schon einiges ausprobiert hatten. In der gemeinsamen Vorbereitung mit Kindern, Jugendlichen und Fachkräften aus der Wohngemeinschaft zeigte sich bereits, wie wichtig ein langfristiges Engagement für Partizipation ist: Ein zentrales, wiederkehrendes Element im 391 uj 9 | 2023 „Wie weit geht denn die Beteiligung? “ Moverz-Projekt ist die Methode „Wo stehen wir? - Die drei Häuser“. Mit den drei Häusern kann einfach und anschaulich erfasst werden, was Kindern und Jugendlichen in ihrem Leben wichtig ist. Sie können sowohl als Momentaufnahme, als auch wiederkehrend genutzt werden, um Entwicklung abzubilden. Dazu werden vom Kind bzw. dem/ der Jugendlichen drei Häuser auf ein Blatt Papier gezeichnet und beschriftet: „Das Haus der guten Dinge“, „Das Haus der Sorgen“, „Das Haus der Wünsche und Träume“ (Weld 2015). Hier kann das Kind bzw. der/ die Jugendliche eintragen oder auch malen, was aus seiner/ ihrer Sicht gut gelingt, was Sorgen bereitet und welche Wünsche und Ziele er/ sie hat. Die Kinder und Jugendlichen sind mit der Methode inzwischen vertraut, da sie als regelmäßiges Element zur partizipativen Vorbereitung von Hilfeplangesprächen in der Wohngemeinschaft dient. Deshalb lag es nahe, die drei Häuser zur Vorbereitung für den Austausch in der Generalversammlung zu verwenden. Dazu wurden sie mit den freiwilligen Teilnehmenden aus der Wohngemeinschaft in Gruppenarbeit erarbeitet und auf einem Flipchart für die Generalversammlung festgehalten. Im gemeinsamen Brainstorming wurden ein „Haus der Freundlichkeit“, ein „Streithaus“ und ein „Wunschhaus“ gezeichnet und befüllt, die einen authentischen Einblick in das Leben der Wohngemeinschaft bieten. Abb. 1: Präsentation der drei Häuser (nach Weld 2015) Abb. 2: Auszug aus der Broschüre „Wie funktioniert Pro Juventute eigentlich? “ 392 uj 9 | 2023 „Wie weit geht denn die Beteiligung? “ In der gemeinsamen Diskussion stellte sich allerdings auch heraus, dass sich die Kinder und Jugendlichen nur schwer vorstellen konnten, was es mit der Generalversammlung und ihren Aufgaben auf sich hat und wie die Pro Juventute als zentrale Gestalterin ihrer Lebensbedingungen überhaupt organisiert ist. Daraus entstand die Idee, eine kindgerechte Broschüre zum Thema zu gestalten. „Wie funktioniert Pro Juventute eigentlich? “ ist das Ergebnis dieser Bemühungen. Von dieser Vorbereitung zur Umsetzung war es dann kein großer Schritt. „Für die Kids war das gar nicht so wild. Durch das Moverz-Projekt sind die Kids eigentlich schon ziemlich gebrieft und gewohnt, vor anderen Menschen zu sprechen oder auf fremde Menschen zu treffen“, berichtet Katja Lödl, die begleitende Fachkraft aus der Wohngemeinschaft. Bemerkenswert war für die Kinder und Jugendlichen eher der besondere Rahmen und die Erfahrung einer Video-Konferenz, denn Corona machte es kurzfristig nötig, den Austausch über Video-Konferenz zu gestalten. So konnten die Jugendlichen recht unbeschwert im Rahmen eines gemütlichen Gruppenabends von den Anliegen berichten, die sie vorbereitet hatten. Die Themen reichten von positiven Erfahrungen wie der Mitsprache bei Regelungen im Haus, über die Herausforderungen des Zusammenlebens in der Gruppe, bis hin zu ihren Wünschen für die Zukunft, die durchwegs realistisch waren. Während Wünsche wie beispielsweise „andere WGs mehr besuchen“ mittlerweile umgesetzt sind, bleiben Anliegen wie „mehr Medienzeit“ nach wie vor in der Diskussion. Für die Mitglieder der Generalversammlung waren auch Themen wie „mehr Betreuer im Dienst“ oder „weniger Kinder im Haus“ spannend, die Pro Juventute auf organisationaler Ebene beschäftigen. Rückblickend war der Austausch für alle Beteiligten eine Bereicherung und ein weiterer Baustein, um ein partizipatives Klima auf allen Ebenen unserer Organisation zu etablieren; an der Fortführung des Formats arbeiten wir weiterhin. „Moverz - der Beteiligungsprozess der Kinder- und Jugendhilfe Oberösterreich“ Die Sicherheit, mit der die Kinder und Jugendlichen im beschriebenen Projekt ihre Themen vortrugen, hatten sie sich schon vorher im Rahmen von Moverz selbst erarbeitet: Moverz ist ein breit angelegter Prozess, der organisationsübergreifend von der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe Oberösterreich angestoßen und begleitet wird. Er vereint die Perspektiven von ca. 500 Kindern, Jugendlichen, pädagogischen Fachkräften, SozialarbeiterInnen, VertreterInnen der Kinder- und Jugendhilfe und des Vereins Sozialpädagogik Oberösterreich sowie künftig auch Eltern, die sich aktiv und stellvertretend für ihre Institutionen und Wohngemeinschaften einbringen (Urban 2019). Hauptfokus des Prozesses ist die Unterstützung von Wohngemeinschaften durch ProzessbegleiterInnen und Buddies mit dem Ziel, die Beteiligung zu fördern und zu erhöhen. Die Prozessbegleitung wird von Fachkräften aus der stationären Kinder- und Jugendhilfe übernommen, die sich bereits praktisch und theoretisch mit Partizipation auseinandergesetzt haben. Mit Schwerpunkt auf der praktischen Arbeit in den Wohngemeinschaften begleiten, strukturieren, moderieren und dokumentieren sie die Schritte des Beteiligungsprozesses: „Die Prozessbegleitung regt durch Ideen und Impulse an, stellt (fachliche) Inputs und Arbeitsmaterialien bereit, führt mit Bewohner/ innen und/ oder Team sowie Buddies-Workshops, Projekte oder ähnliche Formate durch, und steht - das Thema Beteiligung betreffend - beratend zur Seite“ (Urban 2019). Diese Aufgaben gestalten sie gemeinsam mit den Buddies aus - Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, denen Partizipation aus ihren Erfahrungen in der Kinder- und Jugendhilfe heraus ein Anliegen ist und die sich mit ihren persönlichen Erfahrungen und Ideen einbringen möchten. Voraussetzung hierfür ist ein Mindestalter von 14 Jahren, sowie die Absolvierung der Ausbildung zum Peer Educator, die von der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe Oberösterreich angeboten wird. 393 uj 9 | 2023 „Wie weit geht denn die Beteiligung? “ Prozessbegleitung und Buddies werden aber nicht nur in „ihrer“ Wohngemeinschaft wirksam. Vielmehr ist Vernetzung zwischen den Gruppen ein zentraler Bestandteil im Projekt und wird von den Kindern, Jugendlichen und Fachkräften gleichermaßen geschätzt: Jeweils zwei Partner-WGs unterschiedlicher Träger besuchen sich in den Wohngemeinschaften, um sich auszutauschen und gemeinsame Aktivitäten zu gestalten. Katja Lödl beschreibt, wie herausfordernd die ersten Schritte bei diesen Begegnungen waren: „Teilhabe begann für manche Kinder ganz basal damit, sich zu trauen, beim gemeinsamen Spiel mit der fremden Kindergruppe mitzumachen. Mittlerweile sind die Treffen zum regelmäßigen Fixpunkt im Programm der Partner-WGs geworden und sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die Fachkräfte lernen von den Lösungen der anderen. Die Ideen reichen vom Dienstplan mit Fotos der BetreuerInnen bis zu beschrifteten Wäscheklammern für die Trinkgläser, um dem Dilemma zwischen permanent vollem Geschirrspüler und kollektivem Herpes zu entgehen …“ Neben der gemeinsamen Spielzeit werden nun auch regelmäßig neue Methoden ausprobiert und Workshops abgehalten. Dafür steht eine eigens herausgegebene Moverz-Methodenbox zur Verfügung. Die Inputs reichen von Arbeitsmethoden über beteiligungsorientierte Spiele und Workshops hin zu Fachwissen über „das etwas andere Hilfeplangespräch“ oder „beteiligende Organisationen“ (Amt der oberösterreichischen Landesregierung, Abteilung Kinder- und Jugendhilfe 2019). Die Themen der Workshops werden von den Prozessbegleitungen und Buddies vorbereitet und entwickeln sich aus aktuellen Diskussionen und Interessen der Kinder- und Jugendlichengruppen heraus. Altersgemäß aufbereitet, wird beispielsweise die Sorge um den Klimawandel aufgegriffen und mögliche Beiträge der WGs erarbeitet oder einfach in der Verkleidungskiste gewühlt: Wann fühle ich mich selbstwirksam und in welcher Rolle/ Verkleidung kann ich das am besten ausdrücken? Die gemeinsamen Workshops und Gruppenaktivitäten sind eingebettet in den größeren Zusammenhang der Projektstruktur: Erfahrungen und Outputs finden Eingang in die kleinere Steuergruppe, die mehrmals jährlich stattfindet, jeweils von einer anderen WG beherbergt wird und an der Kinder, Jugendliche und Fachkräfte teilnehmen. Auch in der großen Steuergruppe mit erweitertem TeilnehmerInnenkreis wird darauf geachtet, dass zumindest die Hälfte der Teilnehmenden aus Kindern und Jugendlichen besteht und somit maßgeblich an den Entscheidungsfindungen beteiligt ist: „In der großen Steuergruppe wird ein Überblick über die allgemeinen Entwicklungen gegeben. Es erfolgt die Gesamtkoordination des Prozesses, die Organisation gemeinsamer Aktivitäten, und es werden längerfristige bzw. nachhaltige Entscheidungen getroffen“ (Urban 2019). Bemerkbar werden die Erfolge des Projekts zum einen in konkreten Ergebnissen wie einem gemeinsam von den WGs organisierten Fußballturnier. Zum anderen macht sich mittlerweile bemerkbar, dass Partizipation von allen Beteiligten im Betreuungsprozess und den Hilfeplanverfahren mitgedacht wird: Kinderteams werden in den Wohngemeinschaften wiederbelebt und mit Spielen und anschaulicher Gestaltung aufgewertet. Weshalb die Kinder und Jugendlichen aber tatsächlich regelmäßig an den freiwilligen Treffen teilnehmen, wird an folgender Aussage einer Jugendlichen deutlich: „Es könnte ja was Wichtiges sein und ich verpasse was.“ Dahinter stecken also einerseits Inhalte, die wirklich relevant für die Kinder und Jugendlichen sind, andererseits das Wissen, dass die eigene Stimme zählt und individuell berücksichtigt wird. Das öffnet Diskussionen über Nachtruhe, Ausgeh- und Medienzeiten und setzt voraus, dass sich das Team als Ganzes auf den Weg macht. Vormals festgeschriebene Regeln bedürfen der Erklärung und der Aushandlung. Das geschieht nicht ohne Reibung und verursacht mitunter Spannungen in der Kindergruppe, wenn zunehmend Regeln nicht mehr rigoros für alle gelten. Die aufwendigeren Aushandlungsprozesse mit den Kindern 394 uj 9 | 2023 „Wie weit geht denn die Beteiligung? “ und Jugendlichen und die damit verbundenen Erfahrungen von Selbstwirksamkeit machen sich aber mittlerweile als wertvolle Basis für die aktive Beteiligung in den Hilfeplanprozessen bemerkbar. Die eingangs beschriebene Methode der drei Häuser liefert als Vorbereitung für das Hilfeplangespräch die Grundlage für die gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen verfassten Entwicklungsberichte. So können Fachkräfte bereits davon berichten, dass Jugendliche das Gespräch und ihre Anliegen mitunter ohne Zutun der begleitenden BetreuerInnen bestreiten können. Ein Erfolg, der vor allem der Vertrautheit aller Beteiligten mit der Methode und dem Beteiligungsprozess geschuldet ist. Wohin das Moverz-Projekt künftig noch führt, ist gemäß dem Grundgedanken noch offen: „Es wird nicht am grünen Tisch geplant und entschieden, sondern den tatsächlichen Bedürfnissen und Bedarfen entsprechend vorgegangen. Mit anderen Worten: Die wesentlichen Entscheidungen und Weiterentwicklungen folgen nicht vorgefertigten, von außen definierten Zielen, sondern der Dynamik des Prozesses“ (Moverz 2019). Diese Dynamik und Bedürfnisorientierung haben von Beginn an zur breiten Akzeptanz beigetragen - sie stellen sicher, dass Kinder und Jugendliche ebenso wie die Betreuenden anschlussfähig und offen bleiben, auch wenn der organisatorische Aufwand zugenommen hat. „Wir heiraten“ Der Fahrtwind aus dem MOVERZ-Prozess soll uns auch bei unserem internen Projekt „Wir heiraten“ begleiten: 2019 wurden von FICE Austria die „Qualitätsstandards“ in der stationären Kinder- und Jugendhilfe“ (FICE 2019) veröffentlicht, die unter breiter Beteiligung von Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtungen in Österreich erarbeitet wurden. Ziel war es, bei unterschiedlichen Qualitätsvorgaben der Länder einheitliche Richtlinien für die Betreuung und Qualitätssicherung zu schaffen. Ähnliche Ziele standen bei der Schaffung des internen pädagogischen Qualitätsmanagements (pQM) von Pro Juventute im Fokus: „Neben der Sicherstellung der Qualität von der Aufnahme bis zur Beendigung in all unseren stationären Angeboten trägt das pQM zudem dazu bei, Mitarbeiterinnen Orientierung in der pädagogischen Begleitung der Kinder und Jugendlichen zu geben“ berichten Nanda Brandauer-Doppler und Martina Voglreiter, die mit der „Heirat“ von pQM- und FICE-Standards einen organisationsweiten partizipativen Reflexionsprozess anstoßen möchten: „Durch die genauere Betrachtung der FICE-Standards konnten wir viele Gemeinsamkeiten, aber auch neue inspirierende Ansätze entdecken.“ Letztlich soll das mit den FICE-Standards verschränkte pQM-Handbuch zu einem Reflexionstool und Werkzeugkoffer für jedes einzelne Team sein, Lust auf Entwicklung und Reflexion machen und, um weiterführende Links bereichert, ein praxisorientiertes Nachschlagewerk bleiben. Der Erarbeitungsprozess setzt von Beginn bei den Kindern, Jugendlichen und den Fachkräften an und die Informationen dazu werden derzeit tagesaktuell im Padlet transparent gemacht sowie in eigens gestalteten Workshops gestreut. Den Einstieg in den Prozess schafften hier alle Teilnehmenden mit einem Austausch zu der Frage „Was brauche ich für ein gutes Leben bzw. ein gutes Arbeiten in der WG? “ Die Antworten von Kindern, Jugendlichen und Fachkräften wurden zuerst gesammelt und anschließend den Standardbereichen des pQM zugeordnet: Beteiligung beginnt beispielsweise beim ge- Abb. 3: Einladung zu den Informationsworkshops „Wer traut sich? “ 395 uj 9 | 2023 „Wie weit geht denn die Beteiligung? “ meinsamen Kochen von Gulasch oder Wohlwollen der anderen Kinder und sind bei der Aufnahme in die Wohngemeinschaft am wichtigsten. Insofern wird das die folgenden Gestaltungsgruppen sicherlich zu kreativen Ideen anregen. In diesen noch folgenden Gestaltungsgruppen werden die ersten zentralen Standardbereiche von den Kindern, Jugendlichen und Fachkräften „auf Herz und Nieren geprüft“. Dazu gehören zunächst die Bereiche Beteiligung, Zusammenarbeit mit dem Herkunftssystem, Kooperation und Vernetzung sowie Traumasensibilität. Wichtiges Learning aus den Informationsworkshops ist, dass die Arbeit in größeren altersinhomogenen Gruppen nicht für alle optimal ist. Deshalb soll bei den kommenden Angeboten der Austausch in Peergruppen oder auch die Beteiligung in Einzelinterviews möglich sein. Zusätzlich wurde über die interne Kinder-Zeitung zur Online-Umfrage „Meine Traum-WG“ aufgerufen, um eine Teilnahme ohne großen Zeitaufwand zu ermöglichen. Wir sind bereits gespannt, wie die weitere Verständigung zu den Themen bei Fachkräften, Kindern und Jugendlichen gelingen wird. „Da, glaub ich, braucht es viel Zeit, viel Austausch und Offenheit […]. Man muss sich nicht immer einig sein, aber man muss wissen, wovon die anderen sprechen und ob man wirklich an einem Strang ziehen kann, auch gemeinsam mit dem Kind“ (Trummer 2021, 49) konstatiert eine Fachkraft in der Befragung zu Partizipation und Kinderrechten und verweist damit auch auf eine beteiligungsfördernde Unternehmenskultur: Mitarbeitende wie Kinder und Jugendliche müssen Partizipation im (beruflichen) Alltag (er-)leben können auf Basis transparenter Handlungsbzw. Entscheidungsspielräume sowie etablierter Formen der Reflexion und Aufarbeitung von Fehlern (FICE 2019, 36). Diese Kultur wird als grundlegend dafür erachtet, dass MitarbeiterInnen das eigene Erleben von Beteiligung und Selbstwirksamkeit weitergeben und um Professionalität und Selbstfürsorge erhalten zu können. Nur so können unsere Angebote der Kinder- und Jugendhilfe auch zu Lernorten der Beteiligung werden, in denen für Kinder und Jugendliche erfahrbar wird, dass sie durch ihre Partizipation etwas erreichen können und aktiv an der Sicherung ihrer Rechte teilhaben können (Trummer 2021, 8). Mag. Andrea Scharinger Dipl.-Päd. Univ. Andreas Trummer, M. Sc., Bakk. Phil. Fischergasse 17 5020 Salzburg E-Mail: andrea.scharinger@projuventute.at andreas.trummer@projuventute.at Literatur Amt der Oberösterreichischen Landesregierung, Abteilung Kinder- und Jugendhilfe (2019): Moverz - Der Beteiligungsprozess der Kinder- und Jugendhilfe OÖ. In: https: / / www.moverz.at/ de/ moverz, 16. 5. 2023 Amt der Oberösterreichischen Landesregierung, Abteilung Kinder- und Jugendhilfe (2019): Methodenbox Moverz - Der Beteiligungsprozess der Kinder- und Jugendhilfe OÖ. In: https: / / www.moverz.at/ files/ con tent/ Moverz%20Methodenbox/ Moverz_Methoden box.pdf, 16. 5. 2023 FICE Austria (Hrsg.) (2019): Qualitätsstandards für die stationäre Kinder- und Jugendhilfe. Plöchl Druck, Freistadt Hart, R. (1992): Ladder of Participation, Children’s Participation: From Tokenism to Citizenship. UNICEF Innocenti Research Centre Trummer, A. (2021): Personalentwicklung zur Sicherung von Kinderrechten in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Masterthesis, Klagenfurt Urban, R. (2019): Moverz - Wer? Wie? Was? . In: https: / / www.moverz.at/ files/ content/ Moverz%20Methodenbox/ Moverz_Methodenbox.pdf, 16. 5. 2023 Weld, N., Parker, S. (2015): Using The “Three Houses” Tool: Involving Children and Young People in Child Protection Assessment and Planning. In: www.partnering forsafety.com/ resource-booklets.html, 16. 5. 2023