eJournals unsere jugend 75/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art55d
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2023
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Menschenrechte in der freiheitsentziehenden Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe

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2023
Monika Deuerlein
Sarah Teweleit
Geschlossene Unterbringung in der Erziehungshilfe ist eine umstrittene, hoch professionelle Maßnahme, in der vulnerable junge Menschen nach einem richterlichen Beschluss betreut werden. Die Menschenrechte dieser Kinder und Jugendlichen stehen im Fokus der Besuche der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter in geschlossenen Einrichtungen. Ihre Arbeit, niedergelegt in Standards und Empfehlungen, soll die Lage der jungen Menschen ebenso wie die der Mitarbeitenden in den Einrichtungen verbessern.
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396 unsere jugend, 75. Jg., S. 396 - 402 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art55d © Ernst Reinhardt Verlag von Dr. Monika Deuerlein Dipl.-Psych., über 35-jährige Tätigkeit in verschiedenen Feldern der Psychiatrie und der Kinder- und Jugendhilfe in Bonn und München, von 2015 bis 2022 Mitglied der Länderkommission der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter Menschenrechte in der freiheitsentziehenden Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe Forderungen aus der Arbeit der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter 1 Geschlossene Unterbringung in der Erziehungshilfe ist eine umstrittene, hoch professionelle Maßnahme, in der vulnerable junge Menschen nach einem richterlichen Beschluss betreut werden. Die Menschenrechte dieser Kinder und Jugendlichen stehen im Fokus der Besuche der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter in geschlossenen Einrichtungen. Ihre Arbeit, niedergelegt in Standards und Empfehlungen, soll die Lage der jungen Menschen ebenso wie die der Mitarbeitenden in den Einrichtungen verbessern. Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter ist der Nationale Präventionsmechanismus (NPM) gemäß Artikel 3 OPCAT (Optional Protocol to the Convention against Torture and other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment), zu dem sich die Bundesrepublik Deutschland mit Unterzeichnung des OPCAT völkerrechtlich verpflichtet hat. Sie ist Deutschlands Einrichtung für die Wahrung menschenwürdiger Unterbringung und Behandlung im Freiheitsentzug. Die Nationale Stelle besteht aus der Bundesstelle und der Länderkommission. Die Mitglieder der Nationalen Stelle werden von der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister ernannt. Die ernannten Mitglieder unterstehen keiner Fach- und Rechtsaufsicht und sind in ihrer Amtsführung weisungsungebunden. Sie sind ehrenamtlich tätig. Die hauptamtliche Geschäftsstelle hat ihren Sitz in Wiesbaden. Dr. Sarah Teweleit LL. M., jahrelange Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Universität, Fachliche Leitung der Geschäftsstelle der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter 1 Das Papier stellt die Besuche, ihre Ergebnisse sowie die Standards der Nationalen Stelle dar. Diese können auf der Website der Nationalen Stelle eingesehen werden (www.nationale-stelle.de). Wörtliche Übernahmen sind um der Lesbarkeit willen nicht gekennzeichnet. 397 uj 9 | 2023 Menschenrechte in der freiheitsentziehenden Unterbringung Die Nationale Stelle nahm ihre Tätigkeit 2010 auf. Von Anfang an gehörten die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) mit geschlossener Unterbringung zu den Orten, die von den Mitgliedern und Mitarbeitenden der Nationalen Stelle besucht wurden. Im Jahresbericht 2022 wird festgestellt, dass nahezu alle Einrichtungen der geschlossenen Kinder- und Jugendhilfe besucht wurden. Orte des Freiheitsentzugs der KJH nach § 1631 b BGB wurden auf der Grundlage der Daten des Deutschen Jugendinstituts (DJI) erfasst. Zusätzlich wurden die Angaben des Arbeitskreises GU 14+ (Geschlossene Unterbringung 14 plus: www.gu14plus.de) verwendet. Diesem gehören aber nicht alle Einrichtungen mit geschlossener Unterbringung, wie Clearingwohngruppen, intensiv-therapeutische Wohngruppen und pädagogische Gruppen mit freiheitsentziehenden Bedingungen, an. Vom DJI wurde 2021 übermittelt, dass es 306 geschlossene Plätze in 28 Einrichtungen in Baden- Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen gibt. Zudem wurden seit 2010 eine Einrichtung in Rheinland-Pfalz, die keine geschlossenen Plätze mehr hat, und eine Einrichtung in Berlin, die aufgelöst wurde, besucht. Den Mitgliedern und Mitarbeitenden der Nationalen Stelle, die die geschlossenen Einrichtungen der KJH besuchen, in denen junge Menschen nach §§ 34 und 35 a SGB VIII sowie § 1631 b BGB untergebracht werden, ist die Diskussion um diese Einrichtungsform bewusst. Diese wurde und wird in der politischen und fachpolitischen Öffentlichkeit sehr intensiv geführt (vgl. Wiesner 2003). Die Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte betont, dass laut UN-Kinderrechtskonvention freiheitsentziehende Maßnahmen für Kinder (von 0 - 18 Jahre) nur im „Einklang mit dem Gesetz, als letztes Mittel und nur für die kürzeste angemessene Zeit vorgenommen werden“ (DIMR 2021, 1) dürfen. Monitoring durch die Nationale Stelle Hauptaufgabe der Nationalen Stelle ist es, Orte der Freiheitsentziehung aufzusuchen, auf Missstände aufmerksam zu machen und den Behörden Empfehlungen und Vorschläge zur Verbesserung der Situation der Untergebrachten zu unterbreiten. Nach Artikel 4 Abs. 1 OPCAT unterstehen Orte der Freiheitsentziehung der Hoheitsgewalt des Staates. Auf der Grundlage eines richterlichen Beschlusses über die Freiheitsentziehung werden die jungen Menschen in diesen Einrichtungen untergebracht. Die Besuche in den KJH-Einrichtungen werden durch ein oder mehrere Mitglieder und Mitarbeitende der Nationalen Stelle durchgeführt. Diese können ohne Vorankündigungen geschehen, werden aber meist vorher bei dem zuständigen Landesministerium angekündigt. Gemäß OPCAT können alle Mitarbeitenden und alle betreuten jungen Menschen in den Einrichtungen befragt werden. Die Mitglieder und Mitarbeitenden der Nationalen Stelle unterliegen der Schweigepflicht, anonymisiert gehen Beobachtungen in den Bericht ein. Die meisten befragten jungen Menschen sagen zu und sprechen über ihre positiven und negativen Erfahrungen in der Einrichtung. Das OPCAT-Mandat schließt auch die Einsicht in die Akten der betroffenen jungen Menschen sowie der relevanten Abläufe in den Einrichtungen ein. Gefragt wird nach dem Aufnahmevorgang, der Information über die Rechte und Pflichten der aufzunehmenden jungen Menschen, den Räumlichkeiten (Einbett- oder Mehrbettzimmer), der Tagesstruktur (Beschulung, Mahlzeiten, Freizeit), der Regelung des Ausgangs und der Kontaktaufnahme nach „draußen“. Gefragt wird auch nach Behandlungsplänen, nach Zwangsmaßnahmen (z. B. in Time-Out-Räumen), nach Regeln und Konsequenzen von Verstößen und nach der personellen Ausstattung. 398 uj 9 | 2023 Menschenrechte in der freiheitsentziehenden Unterbringung Der Besuch in der Einrichtung beginnt mit einem Gespräch mit der Leitung und den Mitarbeitenden und, soweit möglich, mit TherapeutInnen und Ansprechpersonen für Beschwerden. Einige der Gespräche finden einzeln mit Mitarbeitenden statt. Danach findet eine Besichtigung der Innenräume und der Außenanlagen statt. Sehr wichtig ist der Nationalen Stelle das Gespräch mit den Kindern und Jugendlichen ohne Mitarbeitende sowie die Beobachtung des Alltags der Einrichtung (z. B. Anrede der jungen Menschen, Anklopfen beim Betreten der Zimmer, Partizipation) und die Akteneinsicht (Dokumentation von Time- Out-Maßnahmen, anderen Absonderungsmaßnahmen, was wurde vorher und nachher versucht, Nachbesprechung mit den Jugendlichen sowie richterliche Beschlüsse). Nach einer Besprechung der Mitglieder und Mitarbeitenden der Besuchsdelegation untereinander findet eine Abschlussbesprechung mit Leitung und Mitarbeitenden der besuchten Einrichtung statt. Zu Coronazeiten konnten keine Besuche stattfinden, es wurde aber 2021 von der Nationalen Stelle eine Umfrage bei den bis dahin besuchten Einrichtungen durchgeführt, wie sich Corona und die Coronamaßnahmen auf die jungen Menschen und die Mitarbeitenden in den Einrichtungen ausgewirkt haben. Die Ergebnisse wurden im Jahresbericht 2021 (vgl. Nationale Stelle zur Verhütung von Folter 2021, 34 - 36) veröffentlicht und werden in diesem Aufsatz kurz wiedergegeben. Empfehlungen der Nationalen Stelle Über die Ergebnisse des Besuches wird von der Nationalen Stelle ein Bericht erstellt, der an das zuständige Landesministerium und an die Einrichtung geschickt wird. Die Ministerien antworten auf die Mängelanzeigen und Empfehlungen, zum Teil zustimmend, zum Teil ablehnend, indem sie eine andere Sichtweise betonen oder Empfehlungen für nicht umsetzbar halten. Bisweilen werden schon im Abschlussgespräch in der Einrichtung Vorschläge als sinnvoll empfunden und auch zeitnah umgesetzt. Bei den Besuchen der KJH-Einrichtungen haben sich einige einrichtungsüberschneidende Aspekte herauskristallisiert. Zum einen stellt die Nationale Stelle hinsichtlich der Ausstattung und Überwachung von Time-Out-Räumen diverse Mängel fest, die es zu beheben gilt. Aus Sicht der Nationalen Stelle ist die Entwicklung, dass weniger Einrichtungen Time-Out-Räume nutzen, positiv zu bewerten. Einige Einrichtungen wenden bereits alternative, mildere Methoden an. Als Minimum des Aufenthalts im Freien im Fall einer Absonderung wurde von der Nationalen Stelle mehr als eine Stunde täglich gefordert, da für junge Menschen Bewegung im Freien sehr wichtig ist. Unzureichend ist auch in einigen Fällen die Aufklärung der jungen Menschen in geschlossener Unterbringung über ihre Rechte und die Beschwerdemöglichkeiten. Die Durchführung der Beschulung der schulpflichtigen jungen Menschen stellte sich sehr unterschiedlich und bisweilen problematisch dar. Da die Beschulung durch die Schulträger gewährleistet werden muss, wurden in einigen Einrichtungen keine Lehrkräfte gestellt, in einer anderen Einrichtung gab es ein eigenes Schulgebäude, zu dem die jungen Menschen auf dem Gelände der Einrichtung einen „richtigen Schulweg“ hatten. Durch Corona sahen sich die Mitarbeitenden der Einrichtungen wie auch alle Menschen, die mit Schulpflichtigen zu tun hatten, vor neue Herausforderungen gestellt. 399 uj 9 | 2023 Menschenrechte in der freiheitsentziehenden Unterbringung Time-Out-Räume Die Nationale Stelle musste häufig die Ausstattung von Time-Out-Räumen beanstanden. Ein Raum war beispielsweise vollständig gekachelt, dies stellt nach der Überzeugung der Nationalen Stelle bei der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen im emotionalen Ausnahmezustand eine erhebliche Verletzungsgefahr dar. In einigen Time-Out-Räumen war keine Sitzmöglichkeit in Sitzhöhe für die betroffenen Kinder und Jugendlichen vorhanden. Bei einer nicht nur kurzzeitigen Unterbringung ist die Möglichkeit, nur zu stehen oder am Boden zu sitzen, menschenunwürdig. Die Nationale Stelle beobachtete bei ihren Besuchen in den verschiedenen Institutionen den Einsatz von Sitzgelegenheiten aus Schaumstoff oder von sogenannten herausfordernden Möbeln, die robust und ohne scharfe Kanten sind. Durch diese wird auch bei Eigen- und Fremdgefährdung eine Gelegenheit geschaffen, sich hinzusetzen. Die Anschaffung solcher Möbel geschah zumindest in einem Fall. Die genutzten Time-Out-Räume sind nach Kenntnis der Nationalen Stelle kameraüberwacht. Eine Unterbringung mit permanenter Kameraüberwachung stellt einen erheblichen Eingriff in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen dar. Kameraüberwachung von Kindern und Jugendlichen sollte grundsätzlich nicht erfolgen, sie darf nicht die Präsenz von Mitarbeitenden ersetzen und die Gründe dafür sollen dokumentiert werden. Die jungen Menschen müssen auf die Kameraüberwachung hingewiesen werden und wenn eine Kamera eingeschaltet ist, muss dies sichtbar sein. Besonders problematisch befand die Nationale Stelle, wenn eine Toilette ohne Sichtschutz im Raum stand und auf der Überwachungskamera ohne Verpixelung sichtbar war. Wenn dies in Einrichtungen, auch für Erwachsene, die die Nationale Stelle besuchte, der Fall war, wurde dies mit der Aufforderung zur Veränderung angemahnt. Eine Überwachungskamera soll so angebracht sein, dass der Toilettenbereich nicht oder nur verpixelt auf dem Monitor zu sehen ist. Aufklärung über Rechte und Regeln Kinder und Jugendliche werden bei der Aufnahme in den besuchten Einrichtungen über ihre Rechte sowie über allgemeine Abläufe informiert. Allerdings erfuhr man bei den Gesprächen, dass diese Informationen nicht verständlich genug waren oder nicht ausreichend besprochen wurden. Aus Sicht der Nationalen Stelle ist eine umfassende und verständliche Information über Rechte und Pflichten in einer geschlossenen Einrichtung unverzichtbar. Im Falle von Kindern und Jugendlichen ist die Aufklärung altersgerecht zu gestalten. Dies fördert die Eigenständigkeit und kann sicher auch zur Akzeptanz der Maßnahme beitragen. Sinnvoll wäre ein einheitlicher Text, der allen Trägern zur Verfügung gestellt wird. Eine interessante Broschüre ist: „Siggi berichtet - Aus dem Alltag einer geschützten Kinder- und Jugendeinrichtung“ (vgl. Ökumenisches Hainich Klinikum gGmbH 2019). Abb. 1: ein beanstandeter Time-Out-Raum 400 uj 9 | 2023 Menschenrechte in der freiheitsentziehenden Unterbringung Kontakte zur Außenwelt Die Kontakte zur Außenwelt werden in den Einrichtungen sehr unterschiedlich gehandhabt. So gibt es in einer Einrichtung wöchentlich lediglich zwei telefonische Kontakte zu den Eltern, keine weiteren Telefonate mit Freundinnen, Freunden oder Verwandten. In einer Einrichtung war während einer Eingewöhnungszeit der direkte Kontakt mit den Eltern nicht gestattet. Die Einschränkungen des Kontakts zur Außenwelt sind zu begründen. Eine Trennung der Kinder und Jugendlichen von ihren Eltern und weiteren Bezugspersonen über einen längeren Zeitraum ist nur in Ausnahmefällen zu vertreten. Die Handy-Nutzung ist meist bei Ausgängen möglich. Raumgestaltung Im Jahr 2022 wurde in zwei KJH-Einrichtungen festgestellt, dass sich die Fenster nicht öffnen ließen. Auf Nachfrage wurde erläutert, dass dies der eingebauten Klimaanlage geschuldet ist, die auch im Sommer für angemessene Temperaturen sorge. Die Nationale Stelle hält dies nicht für akzeptabel. Die Wahrnehmung der Außenwelt durch Luft, Gerüche und Geräusche ist für junge Menschen wichtig. In vergleichbaren Einrichtungen wird dies z. B. durch sehr schmale Fenster oder aufstellbare Oberlichte ermöglicht. Drogenkontrolle Drogen und somit Drogenkontrolle sind in KJH- Einrichtungen ein wichtiges Thema. Vielfach erfolgen Drogenkontrollen durch die Abgabe einer Urinprobe unter der Beobachtung von MitarbeiterInnen. Die Nationale Stelle findet dies sehr problematisch. Sie empfiehlt andere, weniger in die Intimsphäre eingreifende Methoden der Drogenkontrolle als weniger einschneidende Methoden vorzuhalten, z. B. einen Mundabstrich oder den Einsatz eines Markersystems. Beschwerde- und Ombudsstellen Die Kinder und Jugendlichen müssen in die Lage versetzt werden, Beschwerden an einer geeigneten Stelle vorzutragen. Neben AnsprechpartnerInnen innerhalb der Einrichtung und dem zuständigen Jugendamt/ Heimaufsichten sind auch Ombudsstellen gemäß § 9 a SGB VIII (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz vom 10. 6. 2021) wichtig. Dieser Sicherstellungsauftrag an die Bundesländer wurde bis jetzt unterschiedlich umgesetzt. Es gibt Modellprojekte, wurde der Nationalen Stelle mitgeteilt, nach deren Auswertung dann mit einer Umsetzung der Ombudsstellen zu rechnen ist. Es muss gewährleistet sein, dass Kinder und Jugendliche ungehindert und vertraulich Kontakt zu der für sie zuständigen Ombudsstelle aufnehmen können. Die Beschwerdewege mit Kontaktdaten sind in einem altersgerecht formulierten Merkblatt den jungen Menschen zu Beginn ihrer Aufnahme zu geben und zu erläutern. KJH-Einrichtungen während der Coronapandemie 2 Aufgrund der besonderen Vulnerabilität von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen mit individuell geschlossenen Plätzen wurden die Einrichtungen während der Coronapandemie vor eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe gestellt. Betont wird von der Nationalen Stelle, dass laut Artikel 3 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention bei allen Entscheidungen das Wohl der Kinder vorrangig zu berücksichtigen ist. Die notwendigen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz müssen daher im ver- 2 Vgl. BMFSFJ 2023; Deutscher Ethikrat 2022 401 uj 9 | 2023 Menschenrechte in der freiheitsentziehenden Unterbringung stärkten Maß durch Ausgleichsmaßnahmen und alternative, zusätzliche Betreuungsangebote begleitet werden. Anfang 2021 schickte die Nationale Stelle einen Fragebogen an die KJH-Einrichtungen, die sie seit ihrem Bestehen besucht hatte, um die Bedingungen vor Ort in Bezug auf die Menschenrechte der untergebrachten Kinder und Jugendlichen in Erfahrung zu bringen. Alle Einrichtungen antworteten auf die Abfrage. Die Ergebnisse der Umfrage zeigten, dass die Kontaktmöglichkeiten der Kinder nach außen wie auch Wochenendheimfahrten weitgehend nicht stattfinden konnten. Die Belegungssituation in den Einrichtungen blieb weitgehend gleich, viele Einrichtungen nahmen die jungen Menschen nur nach einem negativen Coronatest auf, verzichteten aber auf Quarantänemaßnahmen bei der Aufnahme. Getestet wurde außerdem regelmäßig nach Heimfahrten und erlaubten und unerlaubten Ausgängen. Lag eine vermutete oder akute Ansteckung vor, wurden die Kinder und Jugendlichen bis zum Vorliegen eines negativen Testergebnisses isoliert. Bei ihren Besuchen in Einrichtungen der KJH mit geschlossenen Plätzen stellte die Nationale Stelle fest, dass Freizeitaktivitäten außerhalb der Einrichtung einen hohen Stellenwert für die jungen Menschen haben. Diese entfielen während der Pandemie, ebenso wie die Freiheiten, die sich die Kinder in der mehrheitlich durch Stufenmodelle gestalteten Einrichtungspädagogik erarbeitet hatten. Erlebnispädagogische Aktivitäten wurden vorrangig ins Freie verlegt. Da eine Wohngruppe als ein Haushalt galt, waren Gruppenaktivitäten möglich. Einigen Einrichtungen gelang es auch, mit Spendengeldern Sportgeräte, Medien und Spiele als alternative Beschäftigungsmöglichkeiten anzuschaffen. Vielfach wurde, wie auch in anderen Einrichtungen, in denen Menschen geschlossen untergebracht sind, die Videotelefonie großzügiger als vor der Pandemie gehandhabt. Auch die Kontakte zu den Jugendämtern und die Hilfeplangespräche fanden meist elektronisch statt. Auch die therapeutische Betreuung und ärztliche Versorgung der jungen Menschen war häufig beeinträchtigt. Aufrechterhalten werden konnten die Angebote, sofern ein psychologischer/ psychotherapeutischer Dienst in der Einrichtung vorgehalten wird. Dies zeigt, wie bedeutend die gute Ausstattung in diesen besonderen Einrichtungen zum Wohl der jungen Menschen ist. Vorschläge der Nationalen Stelle zur Verbesserung der menschenrechtlichen Situation in geschlossener Unterbringung der Kinder- und Jugendhilfe Die Nationale Stelle ist als NPM mit der Lebenssituation von jungen Menschen in individuell geschlossenen Einrichtungen befasst. Sie überprüft Ausstattung (Time-Out-Räume, Fensteröffnungen), Beschulung, Freizeitaktivitäten und Partizipation in den Einrichtungen. Dies stellt keine Evaluierung der geschlossenen Unterbringung in der KJH dar. Die Aufgabe der Nationalen Stelle ist es, auf Mängel und konkrete Verbesserungen hinzuweisen. Sie hat dazu Standards entwickelt, die den Menschenrechten der jungen Menschen in den geschlossenen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe dienen. Sie betont in ihren Berichten auch die positiven Aspekte in den Einrichtungen, wie vielfach das große Engagement der Mitarbeitenden für die jungen Menschen, die den Mitgliedern und Mitarbeitenden der Nationalen Stelle aufgefallen sind. Sie bietet sich auch auf Landesebene mit ihrer Expertise an, z. B. für die Ausgestaltung der Ombudsstellen nach § 9 a SGB VIII, wie im OPCAT gemäß Artikel 19 vorgesehen. Dr. Monika Deuerlein Dr. Sarah Teweleit E-Mail: info@nationale-stelle.de 402 uj 9 | 2023 Menschenrechte in der freiheitsentziehenden Unterbringung Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2023): Interministerielle Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“. Abschlussbericht. In: https: / / www.bmfsfj.de/ resource/ blob/ 214866/ fb b00bcf0395b4450d1037616450cfb5/ ima-abschluss bericht-gesundheitliche-auswirkungen-auf-kinderund-jugendliche-durch-corona-data.pdf, 30. 5. 2023 Deutscher Ethikrat (Hrsg.) (2022): Pandemie und psychische Gesundheit. Aufmerksamkeit, Beistand und Unterstützung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in und nach gesellschaftlichen Krisen. Ad-Hoc-Empfehlung. In: https: / / www.ethikrat.org/ fileadmin/ Publikationen/ Ad-hoc-Empfehlungen/ deutsch/ ad-hoc-empfehlung-pandemie-und-psychi sche-gesundheit.pdf, 30. 5. 2023 Deutsches Institut für Menschenrechte (DIMR), Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention (Hrsg.) (2021): Zwangsmaßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe, eine kinderrechtliche Perspektive. In: https: / / www.in stitut-fuer-menschenrechte.de/ publikationen/ detail/ zwangsmassnahmen-in-der-kinder-und-jugendhilfe, 26. 5. 2023 Nationale Stelle zur Verhütung von Folter (Hrsg.) (2021): Jahresbericht 2021. In: https: / / www.nationale-stelle.de/ fileadmin/ dateiablage/ Dokumente/ Berichte/ Jahresbe richte/ NSzVvF_Jahresbericht_2021_110522_web.pdf, 30. 5. 2023 Nationale Stelle zur Verhütung von Folter (Hrsg.) (2023): Jahresbericht 2022. In: https: / / www.nationale-stelle.de/ fileadmin/ dateiablage/ Dokumente/ Berichte/ Jahresbe richte/ NSzVvF_Jahresbericht_2022_140623_web-1. pdf, 24. 7. 2023 Ökumenisches Hainich Klinikum gGmbH (Hrsg.) (2019): Siggi berichtet - Aus dem Alltag einer geschützten Kinder- und Jugendeinrichtung. Broschüre Wiesner, R. (2003): Freiheitsentziehung in pädagogischer Verantwortung? Das Jugendamt 76 (3), 109 - 116 www.gu14plus.de, 30. 5. 2023 www.nationale-stelle.de, 30. 5. 2023 a www.reinhardt-verlag.de Dieses Buch stellt verschiedene Beschwerdeverfahren vor und bietet Unterstützung für die erfolgreiche Einführung in unterschiedlichen Einrichtungen. Praxisbeispiele zeigen, wie durch ein gelungenes Beschwerdeverfahren die Rechte der Kinder und Jugendlichen gestärkt werden. Hinweise zu wichtigen Implementierungsschritten und Lösungsansätze für die typischen Stolpersteine helfen auf dem Weg zum individuellen und gelungenen Entwicklungsprozess. Mit Beispielen zu Beschwerdeformularen, Info-Flyern etc. als Online-Material. Die 2. Auflage wurde überarbeitet und um neue Praxisbeispiele erweitert. Beschweren erlaubt Mit Praxisbeispielen und Online- Materialien. 2., überarb. und erw. Auflage 2023. 121 Seiten. (978-3-497-03200-6) kt