eJournals unsere jugend 76/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2024
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Heimkarrieren - Schnee von gestern? Der Blick von Fachkräften auf Jugendliche in der stationären Jugendhilfe

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2024
Christian Mohr
Welche Jugendlichen geraten in den Fokus der stationären Jugendhilfe und warum? Stigmatisierende Begriffe und Kategorisierungen gelten auch in der Heimerziehung als ausgestorben. Doch wie blicken Fachkräfte der stationären Jugendhilfe heute auf Jugendliche, die als auffällig gelten oder in Konflikt mit dem Recht oder mit gesellschaftlichen Normen geraten? Der Beitrag lässt zu diesem Thema Fachkräfte zu Wort kommen, die aktuell in der Heimerziehung tätig sind.
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10 unsere jugend, 76. Jg., S. 10 - 20 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art03d © Ernst Reinhardt Verlag von Christian Mohr Jg. 1998; B. A. Soziale Arbeit, freiberuflicher Trainer und Moderator (Demokratiepädagogik, Politische Bildung, Schulentwicklung), Projektmitarbeiter im Bereich Ganztag in der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung Heimkarrieren - Schnee von gestern? Der Blick von Fachkräften auf Jugendliche in der stationären Jugendhilfe Normalitäts- und Abweichungsdiskurse in der Heimerziehung Welche Jugendlichen geraten in den Fokus der stationären Jugendhilfe und warum? Stigmatisierende Begriffe und Kategorisierungen gelten auch in der Heimerziehung als ausgestorben. Doch wie blicken Fachkräfte der stationären Jugendhilfe heute auf Jugendliche, die als auffällig gelten oder in Konflikt mit dem Recht oder mit gesellschaftlichen Normen geraten? Der Beitrag lässt zu diesem Thema Fachkräfte zu Wort kommen, die aktuell in der Heimerziehung tätig sind. „Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim“ - wem kommt dieser Satz heute noch bekannt vor? Wer dieser Tage neu in sozialpädagogische Berufe einsteigt, kennt solche Aussprüche vermutlich vor allem aus Erzählungen von Eltern und Großeltern. Und doch steckt bis heute mehr Wahrheit in diesem Satz, als man es mit Blick auf die allenthalben sichtbare Weiterentwicklung und Modernisierung der Jugendhilfe vielleicht annehmen würde. Was als „brav“ gilt und wie ein „Heim“ heutzutage aussieht, hat sich fundamental verändert, und vieles ist mit der Heimerziehung von „damals“ nicht mehr vergleichbar. Und doch leben Kategorien des „normalen“, wünschenswerten einerseits und des „erziehungsresistenten“, abweichenden Jugendlichen andererseits zum Teil bis heute weiter, spielen Normalitäts- und Abweichungsdiskurse weiterhin eine - manchmal versteckte - Rolle, wird mit einem abwertenden und defizitorientierten Blick auf bestimmte junge Menschen geblickt. Die im Beitrag von Esther Lehnert geschilderten aktuellen Entwicklungen rund um die Heimskandale etwa in den Heimen der Haasenburg GmbH in Brandenburg zeigen, dass gewaltvolle, autoritäre Gehorsamserziehung jenseits von grundlegenden Kinder- und Menschenrechten nichts ist, was mit der Jahrtausendwende oder der Einführung des modernen Kinder- und Jugendhilferechts zwangsläufig der Vergangenheit angehört. Dieser Beitrag rückt den Blick von Fachkräften in den Mittelpunkt, die auf dem Feld der stationären Jugendhilfe tätig sind, und möchte ihre 11 uj 1 | 2024 Normalitäts- und Abweichungsdiskurse Perspektiven auf Kinder und Jugendliche sichtbar machen, die als „abweichend“ und „verhaltensauffällig“ gelten und/ oder sich in einer stationären Jugendhilfemaßnahme befinden. Er basiert auf Interviews mit Fachkräften, wobei deren Blick auf junge Menschen im Zentrum steht. Ausgehend von einem Abriss zu Kontinuitäten in der Geschichte der Heimerziehung in der Bundesrepublik und einer Einführung in den Forschungsprozess und die Methodik legt der Artikel die Forschungsergebnisse zu der Frage dar, welchen Einfluss Normalitäts- und Abweichungsdiskurse auf den Blick der Fachkräfte und ihren Umgang mit den Jugendlichen haben. Der Artikel basiert auf meiner Bachelorarbeit mit dem Titel Einflüsse von Normalitäts- und Abweichungsdiskursen auf Heimunterbringung und Heimerziehung in Deutschland - Untersuchung historischer und aktueller Entwicklungen, die im Mai 2022 fertiggestellt worden ist. Heimerziehung in Westdeutschland nach 1945 - Fortsetzung statt Neuanfang Die Geschichte der Heimerziehung im Allgemeinen wie auch der geschlossenen Unterbringung im Besonderen ist von einigen grundsätzlichen historischen Kontinuitäten geprägt. Vor diesem Hintergrund ist auch die Entwicklung der Heimerziehung in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu betrachten: „[In] den meisten Einrichtungen der Jugendfürsorge und der Erziehungshilfe der Nachkriegsjahre änderte sich weder das Personal noch der vorherrschende Erziehungsstil“ (Kuhlmann/ Schrapper 2001, 298, zit. n. Mecheril/ Melter 2010, 121f ). Wie bereits im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1924 war der Begriff der Verwahrlosung bzw. der drohenden Verwahrlosung weiterhin von zentraler Bedeutung für die Heimerziehung in der neu gegründeten BRD. Denn deren (vorgebliches) Vorliegen war in aller Regel Grundlage für die Anordnung einer Fürsorgeerziehung (FE) durch das Landesjugendamt. Es handelte sich dabei um einen unbestimmten Rechtsbegriff, unter den die gesamte Bandbreite möglicher Normabweichungen von Kindern und Jugendlichen sowie ihrer Lebensverhältnisse gefasst wurde. Seine konkrete Auslegung hing vor allem von den jeweils beurteilenden ErzieherInnen, PädagogInnen, Geistlichen, RichterInnen und Verwaltungsmitarbeitenden ab. Stellvertretend sei hier aus einem Kommentar zum Jugendwohlfahrtsgesetz der BRD aus dem Jahr 1970 zitiert, in dem Verwahrlosung definiert wird als „Zustand von einiger Dauer mit erheblichem, d. h. eine Maßnahme der öffentlichen Jugendhilfe erforderlich machenden Sinken des geistigen, sittlichen oder körperlichen Zustandes des Kindes unter den Durchschnitt, der bei einem Minderjährigen unter den gleichen Verhältnissen als Ergebnis einer sonst ordnungsgemäßen Erziehung erreicht wird“ (Gehltomholt/ Hering 2006, 54). Diese Definition macht bereits deutlich, wie vielfältig die Anhaltspunkte bzw. vermeintlichen „Symptome“ einer Verwahrlosung waren. Beispielsweise konnte wegen „Arbeitsbummelei“, Schule schwänzen, dem Abbruch einer Lehre, kleineren Strafdelikten oder„sexuell freizügigem Verhalten“ (Schäfer-Walkmann et al. 2011, 58) eine (drohende) „Verwahrlosung“ festgestellt werden. Mädchen und junge Frauen standen hinsichtlich ihrer vermeintlichen Sexualität unter besonderer Beobachtung und ständig im Verdacht einer „sexuellen Verwahrlosung“ (Backes 2012, 18). Eine Heimeinweisung auf dieser Grundlage konnte beispielsweise bereits erfolgen, wenn „Mädchen sich ‚in schlechter Gesellschaft‘ befunden hatten […], wenn sie geschminkt und aufreizend gekleidet waren […], wenn sie einen Hang zu ‚Perversionen‘ zeigten“ (Gehltomholt/ Hering 2006, 124), aber auch, „wenn sie geschlechtskrank waren“, wenn sie schwanger wurden oder wenn sie „vergewaltigt oder zuhause einem Missbrauch ausgesetzt worden waren“ (ebd.). In letzterem 12 uj 1 | 2024 Normalitäts- und Abweichungsdiskurse Fall wurde ihre Rolle regelmäßig in die der Täterin verkehrt, indem ihre „Triebhaftigkeit“ als Ursache für einen sexuellen Übergriff angesehen wurde (vgl. Backes 2012, 18). Analysen von Jugendamtsakten aus den Jahren 1945 bis 1970 zeigen die kontinuierliche Verwendung von Zuschreibungen wie „triebhaft, debil, grenzdebil, kriminelle Veranlagung, verwahrlost, körperlich und sittlich verkommen, moralisch haltlos, schwachsinnig, zur Erziehung unfähig“ (Aich et al. 1973, 7f, zit. n. Mecheril/ Melter 2010, 122). Solche Begrifflichkeiten und Zuschreibungen verweisen deutlich auf ihre Herkunft aus der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Personale Kontinuitäten: das Beispiel Werner Villinger Beispielhaft für die in weiten Teilen lückenlose Kontinuität der westdeutschen Heimerziehung ist der Lebenslauf von Werner Villinger, der als überzeugter Nationalsozialist maßgeblich zu den Verbrechen der faschistischen Gewaltherrschaft auf dem Feld der Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie beigetragen hat und seine Tätigkeit und Karriere nach Kriegsende lückenlos und unbehelligt fortsetzen konnte (vgl. Struck 2019, 43). Villinger (1887-1961) war deutscher Kinder- und Jugendpsychiater und Neurologe - und überzeugter Verfechter der Eugenik. Bereits 1925 brachte er sich in die Debatte um den Umgang mit als abweichend betrachteten Kindern und Jugendlichen ein und forderte eine Verschärfung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, um „Kriminelle, Vagabunden, Prostituierte, Süchtige, Arbeitsscheue, Renten- und Kriegsneurotiker, Revolutionäre, Querulanten usw.“ in kolonieartigen „Bewahrungsanstalten“ unterzubringen (vgl. Villinger 1925, zit. n. Schmuhl 2002, 2). In der NS-Zeit war er als Gutachter für Zwangssterilisierungen von Fürsorgezöglingen verantwortlich und befürwortete deren Durchführung (vgl. Kuhlmann 2010, 14) wie auch grundsätzlich die Erziehungsziele jener Zeit (vgl. ebd., 18). Mit hoher Wahrscheinlichkeit war Villinger als Gutachter aktiv an der „Aktion T4“ beteiligt, bei der in den Jahren 1940/ 41 mehr als 70.000 Menschen vergast wurden, die in Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches untergebracht waren (vgl. Schmuhl 2002, 1061f ). Trotz dieser und zahlreicher weiterer Verstrickungen in die Massenmorde des NS wurde er 1946 zum Leiter der Psychiatrischen Klinik und Nervenklinik der Universität Marburg und 1955/ 56 sogar zu ihrem Rektor berufen (vgl. ebd., 1062). Auch auf dem Feld der Jugendhilfe blieb Villinger einflussreich. Gemeinsam mit Hermann Stutte veröffentlichte er im Jahr 1948 einen Aufsatz zu erbbiologischen Forschungen an Kindern und Jugendlichen in Erziehungsfürsorge, die im Text als „sozialbiologisch unterwertiges Menschenmaterial“ bezeichnet werden (vgl. Schölzel- Klamp/ Köhler-Saretzki 2010, 83). Noch im Jahr 1959 erschien in der Schriftenreihe des Deutschen Fürsorgetages sein Buch „Die Grenzen der Sozialpädagogik“, in dem Villinger seine Erkenntnisse über „unerziehbare Fürsorgezöglinge“ darlegt und dabei nahtlos an seine Forschungsergebnisse aus der NS-Zeit anknüpft (vgl. ebd.). Gemeinsam mit Stutte und weiteren prominenten Vertretern der NS-Ideologien trug Villinger maßgeblich dazu bei, dass die Jugendfürsorge und Heimerziehung in der Bundesrepublik weiterhin von Paradigmen der Ausgrenzung und Pathologisierung geprägt waren (vgl. Struck 2019, 44). Ein weiteres Beispiel für solche Kontinuitäten in der westdeutschen Heimerziehung ist der ehemalige Leiter des Münchner Waisenhauses Andreas Mehringer, der trotz seiner ausgewiesenen NS-Vergangenheit und ohne ernstzunehmende Distanzierung vom entsprechenden Gedankengut zu einem angesehenen Pädagogen und „Reformer“ der Heimerziehung in der BRD werden konnte und 1949 bis 1987 als Schriftleiter der Zeitschrift unsere jugend tätig war. Hierzu sei weiterführend verwiesen auf Mehringer 1987, Kuhlmann 1989, Kuhlmann/ Schrapper 2001, Kuhlmann 2010. 13 uj 1 | 2024 Normalitäts- und Abweichungsdiskurse Reformen und Modernisierung Grundlegend infrage gestellt wurde die vorherrschende autoritäre und gewaltvolle Erziehung in den meisten westdeutschen Heimen erstmals mit der Heimkampagne in den 60er- Jahren, auf die Esther Lehnert in ihrem Beitrag eingeht. Mit Inkrafttreten des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) in den Jahren 1990 bzw. 1991 wurde das Ende der „Fürsorgeerziehung“ besiegelt und stigmatisierende Zuschreibungen wie „Verwahrlosung“ oder „Schwererziehbarkeit“ verschwanden aus den Gesetzes- und Verordnungstexten (vgl. Kuhlmann 2008, 29). Interessanterweise bildet Artikel 6 des Grundgesetzes hier bis heute eine Ausnahme, in dem es in Absatz 3 heißt, dass Kinder gegen den Willen ihrer Eltern und aufgrund eines Gesetzes von ihrer Familie getrennt werden dürfen, „wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen“. Zunehmend wird an die Jugendhilfe und insbesondere die Heimerziehung die Erwartung gerichtet, mit ihrer Tätigkeit bestimmte Wirkungen zu erzielen und dabei insbesondere einen Beitrag zur Bekämpfung von Jugendkriminalität zu leisten: intervenieren, klare Grenzen setzen, „mehr erziehen“, Normen verdeutlichen und insbesondere der viel beschworenen Gruppe der „IntensivtäterInnen“, „Schwererziehbaren“, „besonders Schwierigen“ oder „SystemsprengerInnen“ mit einer „harten Hand“ und autoritärer Pädagogik begegnen (vgl. Peters 2016 a; Hansbauer 2016; Lindenberg 2015; Rosenkötter 2020 u. a.). Entsprechende Forderungen nach Kontrolle und Grenzsetzung finden sich etwa auch im Elften Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (vgl. Peters 2016 a, 71). Befunde wie ein Anwachsen der Platzzahlen in geschlossener Heimunterbringung um mehr als das Dreifache zwischen den Jahren 1996 und 2013 bis 2016 (vgl. Peters 2016 b, 171) oder Tendenzen zu geschlossenen Settings auch in eigentlich offenen Erziehungsheimen knüpfen an diese Beobachtungen an und können als Merkmale einer Jugendhilfe angesehen werden, die „zunehmend mehr mit Elementen von Zwang und Schließung agiert“ (von Wölfel et al. 2016, 117). Carola Kuhlmann fasst dazu zusammen: „Bis heute gab und gibt es jedoch immer wieder Tendenzen […], auffällige Kinder und Jugendliche zu pathologisieren, sie einzusperren oder sie strengen (therapeutischen) Regeln zu unterwerfen“ (Kuhlmann 2008, 29). Wolfgang Rosenkötter kommt zu einem noch eindeutigeren Schluss: „Doch jeder, der mit Heimerziehung […] zu tun hat, weiß, dass […] in diesem Bereich der Jugendhilfe sich im Prinzip nicht sehr viel geändert hat“ (Rosenkötter 2019, 83). Jüngere Heimskandale bestätigen, dass auch in der modernen Jugendhilfe autoritäre und „strikt verhaltensorientierte“ Settings weiterhin vorkommen (vgl. Peters 2016 a, 68). In geschlossenen und teilgeschlossenen Settings wie den häufig anzutreffenden „intensiv-pädagogischen Gruppen“ (Peters 2016 a, 71) stehen „disziplinarische Maßnahmen“,„klar gesetzte Strukturen“ und „ein deutliches Fördern und Fordern“ seitens der PädagogInnen (vgl. Surek 2009, 40, zit. n. Peters 2016 a, 71) im Vordergrund, wobei„die Absicht der Veränderung von Personen konstitutives Element und eine ganz spezifische Ausübung von Macht ist“ (Peters 2016 a, 72). Forschungsfrage und Methodik An diesem Punkt setzt das qualitative Forschungsvorhaben an, dessen Ergebnisse im Mittelpunkt des vorliegenden Artikels stehen sollen. Sein zentrales Erkenntnisinteresse ist die Frage, wie sich Konstruktionen von Normalität und Abweichung im Kindes- und Jugendalter und dementsprechende Zuschreibungen über das Verhalten junger Menschen auf die Unterbringung in Heimerziehung und deren Durchführung bis heute auswirken und welche ge- 14 uj 1 | 2024 Normalitäts- und Abweichungsdiskurse schichtlichen Kontinuitäten in diesem Zusammenhang sichtbar werden. Im Fokus stehen dabei der Blick von Fachkräften auf Kinder und Jugendliche im System der stationären Kinder- und Jugendhilfe sowie Normalitäts- und Abweichungsdiskurse, die diesen professionellen Blick beeinflusst haben oder noch immer beeinflussen. Was verstehen Fachkräfte der stationären Jugendhilfe unter „normalem“ und „abweichendem“ Verhalten, und wie nehmen sie die Kinder und Jugendlichen in ihrem Arbeitsfeld wahr? Als ExpertInnen wurden AkteurInnen aus drei unterschiedlichen Teilbereichen der stationären Erziehung befragt. Erstens eine Mitarbeiterin eines Jugendamtes, die dort seit mehreren Jahren als sozialpädagogische Fachkraft arbeitet und nun im Einrichtungsmanagement ihres Jugendamtes tätig ist. Zweitens eine Leitungskraft einer stationären Einrichtung nach § 35 a SGB VIII für Jugendliche, die missbräuchlich Drogen konsumieren bzw. drogenabhängig sind, wobei Aufbau und Arbeitsweise der Einrichtung als heimerziehungsähnlich beschrieben werden können. Das dritte Forschungsinterview wurde mit zwei Mitarbeitenden eines Landesjugendamtes geführt, die sich spezifisch um Kinder und Jugendliche kümmern, die bereits einen langen und komplexen Jugendhilfeverlauf hinter sich haben. Ihre Abteilung hat den Auftrag, für junge Menschen mit komplexen Hilfebedarfen dauerhaft tragfähige Lösungen im Bereich der stationären Jugendhilfe zu entwickeln und umzusetzen. Zur Auswertung der Forschungsinterviews wurde die Methodik der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz und Rädiker (2022, 129ff ) ausgewählt. Diese Methode bietet die Möglichkeit, Analysekategorien für die Untersuchung der fraglichen Prozesse einerseits anhand von theoriebasiertem Vorwissen zu bilden und diese andererseits in der Erstellung der Interviewleitfäden sowie in deren Auswertung und der Codierung des Materials zu verändern und anzupassen (vgl. ebd., 51f ). In einem mehrstufigen Codierprozess wurden Haupt- und Subkategorien gebildet und jeweils alle enthaltenen relevanten Textpassagen der Forschungsinterviews einer dieser Kategorien zugeordnet. Auf dieser Grundlage fand die Analyse des Materials statt, deren Ergebnisse im Folgenden dargestellt werden sollen. Vor dem Hintergrund des begrenzten Umfangs des Forschungsvorhabens, das Bestandteil einer nur von mir verfassten Bachelorarbeit war, können die präsentierten Ergebnisse keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. In Verbindung mit den geschilderten geschichtlichen und theoretischen Überlegungen sowie den beiden in diesem Heft veröffentlichten Beiträgen der Kolleginnen Esther Lehnert und Antea Mandić lassen sich aus der durchgeführten Forschung dennoch wertvolle Rückschlüsse auf Vorstellungen von Normalität und Abweichung ziehen, die den Blick der befragten Fachkräfte auf Kinder und Jugendliche in ihrem Arbeitsfeld prägen und strukturieren. In den direkten Zitaten aus den Interviews werden die GesprächspartnerInnen mit den Abkürzungen „L1“, „L2“, „T1“ und „J1“ bezeichnet. Nachfolgend eine Übersicht über die Zuordnung der Abkürzungen zu den jeweiligen InterviewpartnerInnen: L1 und L2 Mitarbeitende eines Landesjugendamtes T1 Leitungskraft einer stationären Einrichtung J1 Fachkraft in einem Jugendamt Der Blick der Fachkräfte auf Normalität und Abweichung Alle InterviewpartnerInnen begreifen Normalität und Abweichung grundlegend als von der Umwelt und den Lebensbedingungen eines jungen Menschen geprägt. Ebenso wird die Wichtigkeit der Umstände des Aufwachsens 15 uj 1 | 2024 Normalitäts- und Abweichungsdiskurse betont. Beispielsweise beschreibt T1, die Leitungskraft der stationären Einrichtung, die Gruppe der „SystemsprengerInnen“ als Ergebnis von gesellschaftlichen Strukturen, durch die diese Kinder und Jugendlichen „durchfallen“ und nicht richtig aufgefangen werden können. In der Regel sei bei ihren KlientInnen eine „Historie von Familienproblemen“ zu beobachten. Auch L1 beschreibt, dass die Jugendlichen in ihrem Zuständigkeitsbereich abweichendes Verhalten bereits in ihrer Umwelt erlebt haben und sich deshalb gar nicht so entwickeln konnten, wie die Gesellschaft es eigentlich von ihnen erwartet hätte. Differenzierter fallen die Vorstellungen von normalem und abweichendem Verhalten aus. Zu normalem Verhalten gehören für J1, Fachkraft im Jugendamt, der Schulbesuch, aber auch weitere Erwartungen: „Der junge Mensch sollte […] Regeln und Normen der Gesellschaft verinnerlicht haben“ und „ein stückweit lenk- und leitbar sein“. T1 beantwortet die Frage nach normalem Verhalten Jugendlicher weniger eindeutig und weist darauf hin, dass„jeder Mensch immer mal wieder sehr besondere Verhaltensweisen zeigt“. Als normal betrachtet es T1, wenn „der Mensch in der Lage ist, sein Verhalten auch ein bisschen anzupassen“. Für das Vorliegen von abweichendem und delinquentem Verhalten ist bei allen Befragten das Vorliegen einer Selbst- oder Fremdgefährdung ein zentrales Kriterium. Ab einem bestimmten Ausmaß und einer bestimmten zeitlichen Dauer der Abweichung könne von abweichendem Verhalten gesprochen werden. Der fließende Übergang zwischen der Normalitäts- und der Abweichungszone wird beispielhaft im Interview mit den beiden Mitarbeitenden des Landesjugendamtes deutlich: „Wir würden […] selbstverletzendes Verhalten nicht sofort als total abweichend bezeichnen, oder auch Drogenkonsum […]. Aber in dem Moment, wo es […] den jungen Menschen oder andere stark schädigt, [ist es] längerfristig als abweichend zu bezeichnen.“ Auch T1 benennt Ausmaß und Dauer als entscheidend, bezieht sich in ihren Kriterien für abweichendes Verhalten jedoch entscheidend auf die ICD-10-Klassifikation und definiert abweichendes Verhalten als Symptom psychischer Erkrankungen: „Beim ICD-10 sind es dann oft über sechs Monate lang abweichendes Verhalten, da wird es dann schwierig“, und „wenn [das Verhalten] länger abweichend bleibt, dann […] kriegt es einen Krankheitswert.“ Noch immer scheint das Geschlecht eines jungen Menschen für die Beurteilung von normalem und abweichendem Verhalten von großer Bedeutung zu sein. L1 beschreibt einen unterschiedlichen Blick auf normales und abweichendes sexuelles Verhalten von Jungen und Mädchen: „Was immer wieder […] auffällig ist, ist, dass das sexuelle Verhalten fast immer nur von Mädchen problematisiert wird. Also da wird es zum Problem gemacht, wenn sie zum Beispiel verschiedene, meistens männliche Partner haben.“ Zudem berichtet T1, dass Konflikt- und Gewaltverhalten von Mädchen und Jungen verschieden wahrgenommen und beurteilt wird: Mädchen, die Gewalt ausüben, würden weniger ernst genommen, weniger bestraft und solches Verhalten als weniger bedrohlich eingeschätzt, während bei Jungen schon bei leichteren Vorkommnissen oder Androhungen ein größerer Handlungsdruck entstehe. Den Einfluss der Schule auf die Entstehung und Sichtbarwerdung abweichenden Verhaltens betonen alle befragten Fachkräfte. Schule wird als Ort mit immensem „Meldecharakter“ beschrieben, an dem abweichendes Verhalten oft erstmals festgestellt wird. Oftmals würden sich junge Menschen erstmals in der Schule nicht an Verhaltensregeln und -erwartungen halten. Darauf aufbauend könne sich weitergehendes abweichendes Verhalten aufbauen, sodass die Schule der Jugendhilfe ein Stück weit die KlientInnen„anspült“. T1, die Leitungskraft der stationären Einrichtung, weist darauf hin, dass das Schulsystem sehr starr sei und dass die man- 16 uj 1 | 2024 Normalitäts- und Abweichungsdiskurse gelnde Flexibilität des Schulsystems die Eskalation von Fällen begünstige. Auch J1 führt aus, dass mit dem Schuleintritt „hohe Ansprüche“ an Kinder verbunden seien. Normalitäts- und Abweichungsdiskurse als Einflussfaktor auf Heimerziehung Alle Befragten berichten über Kategorisierungen und Zuschreibungen in ihrem Arbeitskontext. Auf die Frage nach dem Vorkommen stigmatisierender Begriffe wie „Verwahrlosung“ oder „Schwererziehbarkeit“ antworten die Mitarbeitenden des Landesjugendamtes, dass „solche Begriffe“ immer wieder fallen, allerdings nicht die in der Frage genannten. Zumindest die „Schwererziehbarkeit“ wird direkt danach jedoch wieder erwähnt: „[Wenn] Jugendämter sich an Einrichtungen wenden […], kommen solche Begriffe vor wie ‚schwererziehbar‘, ‚nicht beschulbar‘, ‚uneinsichtig‘.“ Auch „Verwahrlosung“ wird laut L2 noch immer verwandt, allerdings eher, um die Lebensverhältnisse einer Familie oder eines jungen Menschen zu beschreiben. L1 weist darauf hin, dass einige Jugendämter in ihren Anfragen Sensibilität für die Erlebnisse und die bewältigten Lebenssituationen der jungen Menschen zeigen und auch Ressourcen abbilden, während andere Jugendämter „einfach negative Verhaltensweisen aneinander“ reihen und mit Zuschreibungen arbeiten, ohne mit dem jungen Menschen gesprochen zu haben oder das Verhalten konkret zu beschreiben. Beide Mitarbeitende berichten auch, dass solche Zuschreibungen zum Teil unmittelbar mit der Befürwortung einer Heimerziehung verbunden sind. T1 antwortet auf die gleiche Frage nach Zuschreibungen: „Es gibt sogar noch schlimmere. […] Was ich ganz schlimm finde, ist chronische Suizidalität. […] Im Prinzip […] wird das immer schön als Ausrede benutzt von Kliniken, um zu sagen, wir können mit diesem Jugendlichen nicht zurechtkommen, wir kriegen den irgendwie nicht repariert. Also ist er jetzt chronisch suizidal, Stempel drauf und die Sache hat sich.“ T1 betont ausdrücklich, dass diese Begriffe benutzt werden und nennt als Beispiele „schwererziehbar“ oder „dissozial“. J1 antwortet hingegen, dass „diese abwertenden Begrifflichkeiten“ weder intern noch extern verwendet würden, und begründet dies damit, dass die Jugendhilfe schon seit Längerem „auf die Ressourcen guckt“, sodass sich solche Zuschreibungen„sehr erledigt“ hätten. Allerdings habe man sich „ein Stück weit ‘nem medizinischen Sprech angenähert“. Viele Begrifflichkeiten seien, neben der Medizin, aus der Soziologie und Psychologie abgeleitet. Typische sozialpädagogische Begriffe für diesen Kontext konnte J1 (auf die Schnelle) nicht nennen. Konstruktionen von Gruppen wie „besonders schwierige“ oder „schwererziehbare“ Jugendliche wurden in allen Interviews thematisiert. Die Auseinandersetzung erfolgte auf Grundlage der Aussage in Teilen der Fachliteratur, dass es sich bei der Gruppe der „SystemsprengerInnen“ oder der „Schwererziehbaren“, die gleichzeitig meist auch Zielgruppe „intensivpädagogischer“ Maßnahmen ist, vor allem um eine Konstruktion einer ratlosen Jugendhilfe handelt, die mit bestimmten Verhaltensweisen keinen Umgang findet (oder falsche Vorstellungen von Normalität hat) (vgl. Krause 2016; von Wölfel et al. 2016). Zur Frage nach der Existenz der Gruppe der „SystemsprengerInnen“ antwortet L1: „Also ich glaube, für viele trifft es zu, dass sie eigentlich gar nicht zu dieser Gruppe gehören.“ Beispielsweise könne es auch zur Zuschreibung einer „Unerreichbarkeit“ kommen, weil kognitive Einschränkungen in der Hilfeplanung nicht berücksichtigt wurden und junge Menschen so in Settings landen, in denen sie das Umfeld oder die Regeln nicht verstehen. Auch würden an Jugendliche mit Hilfebedarf oftmals Normalitätsdefinitionen angelegt, „aus denen diese jungen Menschen dann ganz schnell rausfal- 17 uj 1 | 2024 Normalitäts- und Abweichungsdiskurse len“. Indem in Berichten bestimmte Verhaltensbeschreibungen ständig wiederholt werden („Der ist nicht beschulbar“, „der ist nicht erziehbar“), würden die Jugendlichen in eine„Spirale“ aus Zuschreibungen geraten, die letztlich von ihnen internalisiert würden und sich zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung entwickelten. Alle befragten InterviewpartnerInnen beschreiben Muster, die sich als Heimkarriere bzw. Abweichungskarriere charakterisieren lassen. T1 beschreibt, dass viele der „Extremfälle“ in ihrer Einrichtung „als nicht so krasse Extremfälle“ in anderen, niedrigschwelligeren Heimen bzw. Einrichtungen untergebracht waren und nun schon „etliche Heimeinrichtungen durchhaben“, und bejaht eindeutig die Frage nach Abweichungskarrieren. Einen Grund hierfür sieht T1 darin, dass viele Jugendliche in Heimen oder Wohngruppen negativen Einflüssen durch andere BewohnerInnen ausgesetzt seien. Daneben würde sich das Verhalten Jugendlicher jedoch auch durch „falsche Unterbringungen und Disziplinierungen“ verschärfen. Hier würde sich die Jugendhilfe ihre Probleme zum Teil selber „basteln“. L1 beschreibt ständig wiederholte Zuschreibungen wie „nicht beschulbar“, „nicht erziehbar“ usw. ebenfalls als „Spirale“. Dies könne dazu führen, dass die betreffenden jungen Menschen in weiteren Heimen bzw. stationären Einrichtungen bereits als „sehr schwere Fälle“ erwartet werden und diese Erwartungen dann auch erfüllen, weil sie die Zuschreibungen in ihre Persönlichkeitsstruktur übernehmen. L2 ergänzt, dass die Jugendhilfe „SystemsprengerInnen“ „produziere“, indem sie junge Menschen in Einrichtungen unterbringe, ohne (rechtzeitig) zu prüfen, welches Setting eigentlich zum Bedarf des Kindes oder Jugendlichen passt und welche Hilfen der oder die Betreffende überhaupt annehmen kann. Zur geschlossenen Unterbringung bzw. zu freiheitsentziehenden Maßnahmen äußern sich alle InterviewpartnerInnen tendenziell kritisch-distanziert, wobei sie von einer grundsätzlichen Notwendigkeit von geschlossener Unterbringung in bestimmten Fällen ausgehen. J1 berichtet, dass geschlossene Unterbringungen unter den Unterbringungen in dem betreffenden Jugendamt selten seien. In wenigen Fällen gehe es jedoch „nicht anders“. Jedoch solle die Anordnung einer geschlossenen Unterbringung „wirklich bei diesen wenigen Kindern und Jugendlichen bleiben, bei denen wirklich gar nichts anderes mehr besprochen werden kann“. T1 kritisiert die geschlossene Unterbringung Jugendlicher als „zweischneidiges Schwert“, vergleicht diese mit einem „kleinen Gefängnis“ und verweist auf die starken Hospitalisierungen und Traumatisierungen, die Folgen einer solchen Maßnahme sein könnten. Dennoch sei es verständlich, „dass es gewisse Punkte gibt, wo an so was gedacht wird“. T1 betont, dass es geschlossene Unterbringung grundsätzlich geben dürfe, diese jedoch nur als „letzte Maßnahme“ als Ergebnis einer Abwägung und nur „solange wie nötig“ stattfinden dürfe. Jedoch seien es letztendlich „auch die Ärzte, die darüber bestimmen“. L1 beschreibt, dass eine geschlossene Unterbringung oftmals nicht auf Grundlage fachlicher Überlegungen erfolge, „sondern zum Teil auch […] einfach als Eskalationsstufe, wenn das Verhalten sich nicht verbessert“. L2 ergänzt dazu, dass sie in ihrer Tätigkeit in einigen Fällen eine geschlossene Unterbringung empfehlen würde, wenn ein junger Mensch sich nicht mehr selbst schützen könne und dermaßen gefährdet sei, dass eine geschlossene Unterbringung Sinn mache. Jedoch gebe es aus Sicht von L1 viele junge Menschen, für die eine geschlossene Unterbringung bzw. die Anwendung von Zwang grundsätzlich ungeeignet sei; dies werde jedoch oftmals gar nicht berücksichtigt. Stattdessen werde eine geschlossene Unterbringung häufig aus Hilflosigkeit und aus Ermangelung alternativer Ideen als „letztes Mittel“ herbeigeführt, ohne sich mit der pädagogi- 18 uj 1 | 2024 Normalitäts- und Abweichungsdiskurse schen Sinnhaftigkeit auseinanderzusetzen oder therapeutisch an Problematiken zu arbeiten, was L2 auch als „Verwahrung“ bezeichnet. Die Mitarbeitenden des Landesjugendamtes sowie die Leitungskraft der Einrichtung äußerten sich auch zur konkreten Pädagogik in Heimen. L2 stellt fest, dass oft mit Punkte- oder Token-Systemen gearbeitet werde. Viele Settings bzw. Einrichtungen hätten extrem enge Vorstellungen von Normalität, und auch in vielen Wohngruppen würden bereits relativ kleine Abweichungen als„absolutes No-Go“ definiert. L1, Mitarbeiterin des Landesjugendamtes, berichtet von einer Tendenz in der Heimerziehung, bereits vorhandene strikte Settings weiter zu verschärfen, selbst wenn diese bisher erfolglos waren: Bei jungen Menschen, „bei denen […] strikte Settings schon ganz, ganz lange nicht mehr funktionieren, [kommt die Idee auf ], es muss noch strikter werden oder es muss geschlossen werden“. Grundsätzlich stimmen L1 und L2 der Aussage zu, dass konservative und relativ autoritäre Erziehungsentwürfe in der Jugendhilfe ein Comeback erleben und dass Kinder und Jugendliche einem wachsenden Normalisierungsdruck ausgesetzt sind. Auch T1 stimmt zu, dass geschlossene Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen (wieder) „im Trend“ sind. Aus Sicht von T1 liegt dies darin begründet, „dass die Jugendlichen tatsächlich noch jünger und noch schwieriger geworden sind“. Den Eindruck einer solchen Gesamtentwicklung von immer schwieriger werdenden Jugendlichen teilt T1 offenbar mit dem professionellen Umfeld: „Ich bin tatsächlich […] nicht die Einzige. Also […] alle sagen das. Und das kann kein Zufall sein, sondern das ist wirklich […] erschreckend, zum Teil. Also auch, was für Drogen […] wieder im Umlauf sind. Die viel schlimmere Auswirkungen haben als andere Drogen […]. Und das […] macht es einfach nicht leichter. Und auch die psychiatrischen Hintergründe, Persönlichkeitsstörungen und so weiter, das ist alles früher und schlimmer.“ Fazit und Ausblick: Normalität und Abweichung als wirkmächtige Kategorien Wer kommt also heutzutage ins Heim, weil er nicht brav genug ist? Diese Frage lässt sich heute weniger eindeutig beantworten als früher. Die heutige Jugendhilfe, die heutige Heimerziehung hat sich gewandelt und operiert nicht mehr mit einer potenziell unbegrenzt großen Gruppe„verwahrloster Jugendlicher“, die möglichst lange weggesperrt werden sollen. Dennoch machen die Ergebnisse der Forschungsinterviews deutlich, dass Kategorien von Normalität und Abweichung auf diesem Feld noch immer in hohem Maße wirksam sind. Rückgriffe auf frühere Auffassungen finden sich sowohl bei den Ausgrenzungsprozessen als auch bei den Konzepten und Legitimationen hinter Normalitäts- und Abweichungskonstruktionen. An die Stelle früherer Zuschreibungen wie „diebisch“ oder „arbeitsscheu“ traten modernere Begrifflichkeiten wie„delinquent“, „erziehungsschwierig“ oder „leistungsgestört“, in denen sich nach wie vor negative Wertungen widerspiegeln, jedoch ohne den Einfluss von sozialisations- und umweltbedingten Faktoren wie zuvor vollkommen auszublenden (vgl. Gehltomholt/ Hering 2006, 80). Trotz grundlegender Veränderungen auf dem Feld der Heimerziehung und der Jugendhilfe insgesamt bestehen unterschiedliche Abweichungs- und Ausschließungsdynamiken bis heute fort. Dies wird auch an der Gruppe der heutigen „SystemsprengerInnen“ deutlich, die oft eine jahrelange Maßnahmen- und Heimkarriere hinter sich haben, bevor sie letztlich geschlossen untergebracht werden. Hilfeverläufe, in denen sich abweichendes Verhalten erst in der Heimerziehung so sehr verstärkt und verfestigt, dass die Jugendhilfe damit nicht mehr fertig wird, lassen sich für die Geschichte der Heimerziehung bis heute nachvollziehen. Für einen Teil der Jugendlichen scheint das System weiterhin wie eine Art Verschiebebahnhof zu funktionieren, auf dem nach zahllosen Versu- 19 uj 1 | 2024 Normalitäts- und Abweichungsdiskurse chen, eine geeignete Hilfeform zu finden, nur noch die geschlossene Unterbringung übrig bleibt. Die Gruppe der „SystemsprengerInnen“ wird so durch unpassende Interventionen der Jugendhilfe und der Heimerziehung tatsächlich zur Realität. Der Gedanke an eine „Grenze der Pädagogik“, hinter der nur noch Strenge und Strafe eine Veränderung zu erzielen vermögen, lag allen geschichtlichen Epochen der Heimerziehung mehr oder weniger zugrunde. Konstruktionen und Zuschreibungen von Normalität und Abweichung, die letztlich zu einer Heimerziehung führen, finden einerseits in der Zeit vor der ersten stationären Unterbringung statt und setzen sich andererseits während der Heimerziehung fort. In der Schule findet eine erste Auslese derjenigen SchülerInnen statt, die das passende Verhalten für den Schulbesuch nicht von zu Hause mitgebracht haben. Bei der Beurteilung durch das Jugendamt können sich Zuschreibungen und Stigmatisierungen auf den Hilfeverlauf auswirken. Die Wiederholung und Verstärkung solcher Zuschreibungen sowie die Durchführung unpassender Hilfen oder Unterbringungen verstärken abweichendes Verhalten im Hilfeverlauf immer weiter. Ein Teil der Heimkarrieren endet so letztlich in geschlossener Unterbringung. Ohne externe Zuschreibungen von Normalität und Abweichung, ohne die zahlreichen fremdbestimmten Praktiken auf dem Weg durch die Institutionen wären solche „Karrieren“ nicht denkbar. Daher kann festgehalten werden, dass der Normalitäts- und Abweichungsdiskurs über Kinder und Jugendliche sich bis heute entscheidend auf Heimunterbringung und Heimerziehung in Deutschland auswirkt. Soziale Arbeit und damit auch die Heimerziehung sind Teil der „Regierung des Sozialen“ (Kessl 2006, 73) und können sich nicht von den Machtverhältnissen lossagen, deren Bestandteil sie sind (vgl. ebd.). Dennoch muss es ihr Anspruch bleiben, dem „Gefüge der Macht“ (ebd.) kritisch gegenüberzustehen und sich selbst und ihre KlientInnen den Machtverhältnissen nicht widerstandslos zu überlassen (vgl. ebd.). Die stationäre Jugendhilfe als Teil der Sozialen Arbeit verfügt über ein Triple-Mandat (vgl. Staub-Bernasconi 2007), ist also nicht nur dem Staat bzw. der Gesellschaft einerseits und ihren KlientInnen andererseits verpflichtet, sondern auch ihrer eigenen Fachlichkeit und Professionalität sowie moralischen und ethischen Ansprüchen. Gegenüber öffentlich häufig geforderten, aber fachlich und ethisch nicht vertretbaren Tendenzen in der Heimerziehung zu mehr Disziplinierung und Bestrafung muss sie ihre Menschenrechtsorientierung - das „dritte Mandat“ - verteidigen und weiter ausbauen. Die gesamte Profession muss sich vor diesem Hintergrund dafür einsetzen, dass Kinder und Jugendliche von den Fesseln stigmatisierender Zuschreibungen und autoritärer und gewaltvoller Erziehungspraxis befreit werden. Christian Mohr Ohlauer Str. 18 10999 Berlin E-Mail: christian_mohr@posteo.de Literatur Backes, S. (2012): „Funktionieren musst du wie eine Maschine“. Leben und Überleben in deutschen und österreichischen Kinderheimen der 1950er und 1960er Jahre. 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