eJournals unsere jugend 76/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2024
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Widerständige Praktiken von Betroffenen im System der DDR-Jugendwerkhöfe - "Ich habe mich nicht brechen lassen"

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2024
Antea Mandic
Das Unrecht und Leid, welches den Betroffenen der Heimerziehung in der DDR widerfuhr, bleibt bis heute unzureichend aufgearbeitet. Den Wegen und Strategien, die die Betroffenen einsetzten, um gegen die Disziplinarmaßnahmen in den Jugendwerkhöfen Widerstand zu leisten, wurde bisher in der Forschungslandschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Der Artikel zeigt eben diese Widerstände auf und diskutiert ihre Formen vor dem Hintergrund des Jugendwerkhofsystems.
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21 unsere jugend, 76. Jg., S. 21 - 31 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art04d © Ernst Reinhardt Verlag von Antea Mandić Jg. 1992; Master-Studentin „Childhood Studies and Children’s Rights“ an der Fachhochschule Potsdam Widerständige Praktiken von Betroffenen im System der DDR-Jugendwerkhöfe „Ich habe mich nicht brechen lassen“ Das Unrecht und Leid, welches den Betroffenen der Heimerziehung in der DDR widerfuhr, bleibt bis heute unzureichend aufgearbeitet. Den Wegen und Strategien, die die Betroffenen einsetzten, um gegen die Disziplinarmaßnahmen in den Jugendwerkhöfen Widerstand zu leisten, wurde bisher in der Forschungslandschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Der Artikel zeigt eben diese Widerstände auf und diskutiert ihre Formen vor dem Hintergrund des Jugendwerkhofsystems. Dieser Artikel basiert auf einer Bachelorarbeit, die mit dem Titel Widerständige Praktiken von Betroffenen im System der DDR-Jugendwerkhöfe auf dem Publikationsserver der Alice Salomon Hochschule veröffentlicht wurde (vgl. Mandić 2022). Der Artikel widmet sich im ersten Teil den Rahmenbedingungen der Heimerziehung und insbesondere dem System der Jugendwerkhöfe. Im zweiten Teil werden die Ergebnisse der Forschung in Bezug auf die Widerständigkeiten der Betroffenen beleuchtet. Heimerziehung in der DDR: eine strukturelle Rahmung Etwa 495.000 Kinder und Jugendliche durchliefen in der Zeit des Bestehens der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 bis 1990 das Heimsystem, davon 135.000 die sogenannten Spezialheime, zu denen auch die Jugendwerkhöfe gehörten (vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ 2012, 23). Den Jugendwerkhöfen kam eine wichtige Rolle in der Machtausübung der DDR-Führung zu - sie dienten der Umerziehung von als„schwererziehbar“ stigmatisierten Jugendlichen zu sozialistischen Persönlichkeiten (vgl. Zimmermann 2004, 257). Schließlich war erklärtes politisches Ziel des Staates,„sozialistische Persönlichkeiten in der sozialistischen Menschengemeinschaft zu erziehen“ (Mannschatz 1968, 20), wodurch die Erziehung zur Staatsaufgabe gemacht wurde. Die Grundlagen für diese Umerziehung galten durch die neuen ökonomischen Verhältnisse der DDR als gegeben - in der Arbeit im Kollektiv sollten die Interessen des Individuums mit den kollektiven Interessen übereinstimmen und eine aktive Beteiligung am Aufbau einer sozialistischen Gemeinschaft war zur Pflicht aller BürgerInnen geworden (vgl. Mannschatz 1968, 12ff ). Auch und insbesondere von der Jugend wurde erwartet, dass sie sich freiwillig am Aufbau einer sozialistischen Menschengemeinschaft beteiligte und aus einer inneren Motivation heraus den Sozialismus auch gegen Widerstände durchzusetzen half (vgl. Ulbricht 22 uj 1 | 2024 Widerständige Praktiken in den DDR-Jugendwerkhöfen 1968, 339f ). Entzogen oder widersetzten sich Jugendliche diesen Bestrebungen oder wichen sie von der postulierten sozialistischen Norm ab, sollten sie umerzogen und diszipliniert werden (vgl. Zimmermann 2004, 2). Die Jugendwerkhöfe waren somit Teil eines Systems von Zwang und Strafe, mit dem der DDR-Staat seinen Machtanspruch zu sichern suchte. Der geschlossene Jugendwerkhof in Torgau (GJWH) stellte in diesem System die härteste Form der Disziplinierungsanstalt dar und war jenen Jugendlichen vorbehalten, die sich den Maßnahmen in den offenen Jugendwerkhöfen widersetzten oder zu entziehen suchten (vgl. Notzke 2019, 184). Der Schaffung der Jugendwerkhöfe waren Umstrukturierungen in der Jugendhilfe vorangegangen, die zu ihrer Herauslösung aus dem sozialen Bereich und ihrer Überführung in den Verantwortungsbereich des Ministeriums für Volksbildung und dort der Abteilung Jugendhilfe/ Heimerziehung führten (vgl. Laudien/ Sachse 2011, 184f ). Diese Umwälzungen lassen sich durch die herrschende Ideologie erklären, die jegliche sozialen Probleme als Überreste des Kapitalismus einstufte und ihre Lösung somit in der sozialistischen Erziehung verortete (vgl. Zimmermann 2004, 77f ). Die Zentralisierung und weitgehende Verstaatlichung der Jugendhilfe war notwendig, um ihre Vereinheitlichung zu erreichen, und verunmöglichte ihre Autonomie (vgl. ebd., 415f ). Die Jugendhilfeverordnung von 1966 schrieb der Jugendhilfe unter anderem die „rechtzeitige korrigierende Einflußnahme bei Anzeichen der sozialen Fehlentwicklung und […] die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Minderjährigen“ (§ 1 Abs. 1 JHVO; zit. n. Laudien/ Sachse 2011, 190) vor. Für diese korrigierenden Eingriffe stand der Jugendhilfe ein Heimsystem zur Verfügung, welches sich unter anderem in Normalheime und Spezialheime gliederte. Neben dem Alter und der Schulbildung galt die „Erziehbarkeit“ als Kriterium für die Aufteilung der Kinder und Jugendlichen auf die Heimarten: So waren die Spezialheime für die „schwererziehbaren“ Kinder und Jugendlichen zwischen 6 und 16 Jahren vorgesehen (vgl. AGJ 2012, 23ff ). In die dazugehörigen Jugendwerkhöfe wurden „schwererziehbare“ Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren eingewiesen (vgl. Censebrunn-Benz/ Wenzel 2020, 12). Das Kriterium der „Schwererziehbarkeit“ wurde durch den langjährigen Leiter der Abteilung Jugendhilfe/ Heimerziehung Eberhard Mannschatz als verfestigtes disziplinverletzendes Verhalten definiert. Dieses erfordere den staatlichen Eingriff, da es im erzieherischen Umfeld nicht gelöst werden könne (vgl. Mannschatz 1979, 8ff ). Die Ursachen für „Schwererziehbarkeit“ wurden in einer individualistischen Ausrichtung und damit in einem Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv verortet - die Lösung wurde in der Umerziehung der Jugendlichen gesehen (vgl. ebd., 33). Die Ideologie der Umerziehung und ihre Umsetzung in den Jugendwerkhöfen Umerziehung war als ein Veränderungsprozess definiert, der durch gezielte Erziehung auf das Individuum Einfluss nehmen und dessen Eigenschaften und Verhalten insofern verändern sollte, dass diese dem Erziehungsziel einer sozialistischen Persönlichkeit entsprechen würden (vgl. Laabs et al. 1987, 383). Dazu gehörte die Vorstellung einer Umorientierung der Jugendlichen, die sich nicht nur in ihrem Verhalten niederschlagen sollte, sondern auch in ihrer Psyche. Es wurde angestrebt,„die Einstellungen, Bestrebungen und Gewohnheiten umzuorientieren und neu zu orientieren, auf eben diese ‚innere Welt‘ Einfluß zu nehmen“ (Mannschatz 1979, 9f ). In ihrem Ergebnis sollte bei den Jugendlichen selbst ein intrinsischer Wunsch nach der Verurteilung ungewünschter Verhaltensweisen und der Aktivierung gewünschter Eigenschaften erfolgen (vgl. Kotschetow 1975, 85). In der Logik der sozialistischen Erziehung war eine solche Umerziehung nur durch die Einbindung der Jugendlichen in ein Kollektiv erreichbar (vgl. Mannschatz 1979, 34). 23 uj 1 | 2024 Widerständige Praktiken in den DDR-Jugendwerkhöfen Die Kollektiverziehung Die Kollektiverziehung bildete die Grundlage jeglicher Pädagogik in der DDR. Das Kollektiv definierte sich durch die„Vereinigung seiner Mitglieder, durch gemeinsame gesellschaftlich notwendige Tätigkeit und durch die auf der Grundlage der Übereinstimmung der gesellschaftlichen, kollektiven und persönlichen Interessen entstehende kameradschaftliche Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe“ (Hartmann 1977, 346). So wurde der Übereinstimmung individueller und kollektiver Interessen, wobei die kollektiven Interessen Priorität hatten, eine persönlichkeitsformende und disziplinierende Komponente zugesprochen, die schlussendlich zur Bildung sozialistischer Persönlichkeiten führen würde (vgl. ebd.). In den Jugendwerkhöfen wurde von den Jugendlichen erwartet, dass sie sich aktiv an der Gestaltung des Kollektivs beteiligten (vgl. Mannschatz 1979, 36). In einem ersten Schritt sollte dafür durch die absolute Veränderung der Lebenswelt der Jugendlichen mit der Einweisung in den Jugendwerkhof und mithilfe von diktatorischem und strengem Durchgreifen der ErzieherInnen den abweichenden Verhaltensweisen Einhalt geboten werden. In einem zweiten Schritt sollten die Jugendlichen in verschiedenen Kollektiven organisiert werden, welche wiederum in ein Mitverwaltungssystem eingebettet waren. In einem letzten Schritt sollte schließlich das Kollektivstadium erreicht werden, in dem individuelle und kollektive Interessen übereinstimmten (vgl. Zimmermann 2004, 286). Das Leben im Kollektiv und das Mitverwaltungssystem sollte den Jugendlichen Teilhabe suggerieren - so konnten Jugendliche beispielsweise zu GruppenleiterInnen ernannt werden und Aufträge von ErzieherInnen weiterleiten und durchsetzen (vgl. Kretschmar 1972, 89). In Wirklichkeit jedoch sollten stets die ErzieherInnen die Kontrolle behalten, wofür gebilligt und gefördert wurde, dass Jugendliche untereinander körperliche Gewalt als Strafe einsetzten (vgl. Zimmermann 2004, 345). Zudem schafften die Kollektivstrafen, welche die gesamte Gruppe für das Vergehen von Einzelnen bestraften, Raum für Selbstjustiz und stetes Misstrauen unter den Jugendlichen (vgl. Censebrunn-Benz/ Wenzel 2020, 23). Arbeitserziehung, Disziplinierung und Strafe Die Verrichtung von Arbeit im Kollektiv wurde in der DDR-Ideologie als Hauptelement für die Verwirklichung der sozialistischen Revolution verstanden. In den Jugendwerkhöfen waren die Jugendlichen zur Arbeit verpflichtet, ihre Ausbildung erfolgte in Industrie- und Landwirtschaftsbetrieben sowie in heimeigener Produktion (vgl. Zimmermann 2004, 303ff ). Ohne angemessene Entlohnung verrichteten die Jugendlichen schwerste körperliche Arbeit, die als Zwangs- und Strafarbeit eingestuft werden kann (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2019, 23). Die Arbeit war eingebettet in einen auf Disziplinierung ausgelegten Tagesablauf im Kollektiv, der keinen Raum für Privatsphäre ließ (vgl. Censebrunn-Benz/ Wenzel 2020, 26). So war der Alltag zusätzlich zu schwerster körperlicher Arbeit von militärischem Drill durchzogen, der sich in Zwangssport und Strafen niederschlug (vgl. ebd., 12). Disziplinierung wurde als wesentlicher Teil der Umerziehung verstanden, sie sollte zum Verständnis und zur Einsicht der Jugendlichen für Befehle und ihren Sinn sowie zur freiwilligen Einordnung in das Kollektiv führen (vgl. Jörns 1995, 128f ). In ihrer Umsetzung diente die Disziplin zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Kontrolle (vgl. ebd.). So sollte den Jugendlichen durch den strikten und kleinteiligen Tagesablauf, der vom frühen Morgen bis in den Abend hinein mit Sport, Hausreinigung, Arbeit, Schulunterricht und militärischen Ordnungsübungen gefüllt war, kein Raum gegeben werden, sich gegen die Maßnahmen aufzulehnen (vgl. BAB, DR 2/ 4750; zit. n. Zimmermann 2004, 333). Auf Disziplinverstöße wurde mit einer Reihe von Strafmaßnahmen reagiert, die von Verwarnungen vor dem Kol- 24 uj 1 | 2024 Widerständige Praktiken in den DDR-Jugendwerkhöfen lektiv über Ausgangssperren bis zu Arreststrafen und der Einweisung in den geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau reichten (vgl. Jörns 1995, 135). Arreststrafen konnten bis zu drei Tage angeordnet werden, es gab jedoch die Möglichkeit, sie auf bis zu zwölf Tage zu verlängern (vgl. Zimmermann 2004, 341). Trotz des Verbotes körperlicher Gewalt durch die ErzieherInnen war diese in den Jugendwerkhöfen an der Tagesordnung und wurde sowohl von den ErzieherInnen als auch durch die Jugendlichen selbst ausgeübt (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2019, 24). Körperliche Gewalt unter den Jugendlichen wurde von den ErzieherInnen nicht nur geduldet, sondern häufig auch als Mittel der Selbstjustiz gezielt gefördert (vgl. Zimmermann 2004, 345). Der geschlossene Jugendwerkhof in Torgau (GJWH) Während seines Bestehens von 1964 bis 1989 durchliefen etwa 4.000 Jugendliche den geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau (vgl. Linke 2006, 44). Als ehemaliges Gefängnisgebäude wies er alle Merkmale einer Haftanstalt inklusive vergitterter Fenster und hoher Mauern auf und stellte die repressivste Form der DDR-Heimerziehung dar (vgl. Notzke 2019, 184). Eingewiesen wurden Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren für eine Dauer von bis zu sechs Monaten (vgl. ebd.). Die Einweisung sollte auf schriftlichen Antrag durch die Leitung des bisherigen Jugendwerkhofes an die Zentralstelle für Spezialheime im Ministerium für Volksbildung erfolgen, wobei diese Vorschrift in der Praxis häufig übergangen wurde (vgl. Zimmermann 2004, 384). Als Gründe für die Überführung der Jugendlichen in den GJWH wurden wiederholte Auflehnungen gegen die Erziehungsmaßnahmen sowie Flucht aus dem Jugendwerkhof angegeben (vgl. Archiv Gedenkstätte GJWH Torgau, 1). Dieses widerständige Verhalten sollte durch die Einweisung in den GJWH und die damit einhergehende stark veränderte Lebensform ein Ende finden (vgl. Kretschmar 1972, 3). Bereits bei ihrer Ankunft mussten die Jugendlichen stundenlang schweigend und in aufrechter Haltung in einer Schleuse warten (vgl. Linke 2006, 46). Anschließend wurde ihnen jeglicher Besitz inklusive ihrer Kleidung entzogen, die Haare wurden abrasiert und sie bekamen Heimkleidung überreicht (vgl. Zimmermann 2004, 383). Daraufhin folgte standardmäßig ein dreitägiger Arrest in der Zuführungszelle, bei Zweiteinweisungen konnte die Dauer bis zu zwölf Tage betragen (vgl. ebd.). Die sofortige Isolation bei der Ankunft der Jugendlichen sowie das Vorenthalten jeglicher Information über die Gründe und die Dauer der Einweisung waren Teil dieser„explosiven Veränderung“, durch die angestrebt wurde, den Willen der Jugendlichen endgültig zu brechen (vgl. BAB, DR 2/ A.2295, zit. n. Zimmermann 2004, 384). Die Arbeitsordnung des GJWH regelte auf 86 Seiten bis auf das kleinste Detail die Pflichten der Jugendlichen in allen Arbeitsbereichen und schrieb jeden Handgriff vor. Die lückenlose Überwachung und Kontrolle im Tagesablauf der Jugendlichen wurde mit militärischen Elementen durchzogen - alle Tätigkeiten erfolgten stets im Kollektiv und im Laufschritt (vgl. Zimmermann 2004, 395f ). Zudem wurde die als solche ausgewiesene Freizeit durch ein Kurssystem strukturiert, welches aus Staatsbürgerkunde, vormilitärischer Ausbildung und Sport bestand (vgl. ebd., 393f ). Die militärischen und sportbezogenen Übungen galten vor allem Straf- und Disziplinierungszwecken - so wurden die Jugendlichen gezwungen, im Kollektiv oder auch einzeln bis zur völligen körperlichen Erschöpfung täglich über die Sturmbahn zu laufen und mit Gewichten Hofrunden zu drehen (vgl. Notzke 2019, 187). Zur Demütigung der Jugendlichen wurden Strafmaßnahmen wie das Reinigen der Flure mit nur einer Scheuerbürste angeordnet (vgl. ebd.). Bei Notwehr war den ErzieherInnen der Einsatz von körperlicher Gewalt mit dem Schlagstock erlaubt, jedoch kam es trotz offiziellen Verbotes auch außerhalb von Notwehrfällen zu ausufernder körperlicher Gewalt durch die ErzieherInnen 25 uj 1 | 2024 Widerständige Praktiken in den DDR-Jugendwerkhöfen (vgl. Zimmermann 2004, 399). Die Arreststrafen erstreckten sich zwischen acht und zwölf Tage, ihre härteste Form war der Dunkelarrest im sogenannten Fuchsbau (vgl. Notzke 2019, 187). Durch die Härte und Willkür der Strafen sowie die militärische Struktur im GJWH kam es immer wieder zu körperlicher Gewalt zwischen den Jugendlichen und zu Suizidversuchen und -fällen (vgl. Zimmermann 2004, 403f ). Die Stimmen der Betroffenen Dieser Artikel basiert auf einer Bachelorarbeit, in deren Rahmen eine qualitative Forschung angelehnt an die Reflexive Grounded Theory nach Franz Breuer, Petra Muckel und Barbara Dieris (2019) durchgeführt wurde. Dafür wurden narrative Interviews mit drei Personen durchgeführt, die in ihrer Jugend sowohl in den offenen Jugendwerkhöfen als auch im geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau waren. Die zwei männlichen interviewten Personen entschieden sich für die Anonymisierung ihres Namens und wählten dafür Pseudonyme (MP und Leo). Die weibliche interviewte Person entschied sich für die Verwendung ihres Klarnamens Renate. Das durch die Interviews gewonnene Datenmaterial wurde auf Widerstände hin untersucht. Widerständigkeiten in den Jugendwerkhöfen wurden in der Forschungslandschaft bisher nur randständig behandelt und sie wurden weder aus einer Betroffenenperspektive heraus untersucht noch wurde der Widerstandsbegriff konkretisiert (vgl. Mandić 2022, 3). So widmet sich dieser Artikel den Forschungsergebnissen, die aus den Interviews mit den ZeitzeugInnen gewonnen werden konnten. Widerständigkeiten: eine begriffliche Rahmung Vorab soll hier eine kurze begriffliche Rahmung des Widerstandsbegriffs erfolgen. Für die Analyse des vorliegenden Datenmaterials orientiere ich mich an folgender Definition: „Widerstand soll demnach jede Form der Auflehnung im Rahmen asymmetrischer Herrschaftsbeziehungen gegen eine zumindest tendenzielle Gesamtherrschaft heißen, wobei die Differenzierung der Formen des Widerstandes sich aus den verschiedenartigen Möglichkeiten der asymmetrischen Beziehungen ergibt, die ihrerseits von der sozialen Struktur der implizierten Einheiten abhängen“ (Hüttenberger 1977, 26). Diese weitgefasste Definition ermöglicht es, Widerstandsformen unter Einbeziehung der spezifischen Verhältnisse in den Jugendwerkhöfen der DDR herauszuarbeiten. Dabei wird von einem Widerstandsbegriff ausgegangen, der von passiven Widerständen wie Resistenz und Verweigerung bis hin zu aktivem Widerstand alle Formen mitdenkt (vgl. Merlio 2005, 62). Der Begriff der Resistenz begreift hierbei zudem jegliche Form der Auflehnung in einem asymmetrischen Herrschaftsverhältnis unbeachtet der Motive als Widerstand (vgl. Hechler/ Philipps 2008, 8). Er umfasst auch innere Haltungen, die die Versuche des Regimes, auf die innere Welt des Menschen Einfluss zu nehmen, ablehnen (vgl. Merlio 2005, 69). Die Forschungsergebnisse Im Rahmen der Forschungsarbeit wurde sich der Beantwortung der Frage gewidmet, wie die Betroffenen im System der DDR-Jugendwerkhöfe widerständige Praktiken gestalteten. Dabei wurden drei Hauptkategorien herausgearbeitet: die inneren Widerständigkeiten, die den Fokus auf die innere Erlebenswelt der Betroffenen legen, die Gestaltung von Handlungsspielräumen, die das Verhältnis der Betroffenen und ihrer Handlungen mit der Umwelt behandelt, und schließlich der aktive Widerstand, der riskante und konfrontative widerständige Handlungen der Betroffenen umfasst (vgl. Mandić 2022, 35f ). Zudem wurden bei der Analyse des Datenmaterials zeitliche und räumliche Komponenten miteinbezogen. Dabei wurde zwischen den Erfahrungen der Betroffenen in den 26 uj 1 | 2024 Widerständige Praktiken in den DDR-Jugendwerkhöfen offenen Jugendwerkhöfen und dem GJWH in Torgau unterschieden. Zudem wurde zeitlich differenziert zwischen den Erfahrungen in den offenen Jugendwerkhöfen, bevor eine Einweisung in den GJWH erfolgte, und den Erfahrungen in den offenen Jugendwerkhöfen nach einer Rückkehr aus dem GJWH. Innere Widerständigkeiten: Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung Da die Umerziehungsideologie einen direkten Einfluss auf die innere Lebenswelt der Jugendlichen im Sinne einer Umorientierung hin zur Entwicklung einer sozialistischen Persönlichkeit anstrebte, ist es von großem Interesse, einen Blick auf eben diese innere Erlebenswelt zu werfen. Dabei stachen im Datenmaterial vor allem Bedürfnisse nach Autonomie, Entscheidungen zu Widerstand und abwehrende Emotionen heraus (vgl. Mandić 2022, 36ff ). So sprechen alle InterviewpartnerInnen von einem identitätsprägenden und sich durch ihr Leben ziehenden Bedürfnis nach Autonomie und Freiheit: „Ich wollte immer, schon in dem Alter irgendwie, unabhängig sein, also ich wollte nicht mir sagen lassen, […] wie mein Tagesrhythmus auszusehen hat, das wollte ich einfach nicht“ (MP Interviewteil 1, 58ff ). Leo spricht davon, wie ihm im Jugendamt jegliche Mitbestimmung abgesprochen wurde, er sich machtlos gefühlt habe und einfach nur frei sein wollte, auch wenn Freiheit im Osten durch die Einmauerung für ihn nicht definierbar war (Leo Interviewteil 2, 491ff ). Dieses innere Autonomiebedürfnis zeigt sich unter anderem in inneren Entscheidungsprozessen zur Flucht direkt zu Beginn der Jugendwerkhofszeit. Mit den strikten Tagesabläufen, dem diktatorischen Durchgreifen der ErzieherInnen und mit schwerer körperlicher Gewalt konfrontiert, entscheiden die damaligen Jugendlichen: „Ne, hier bleibst du nicht lange“ (Renate Interviewteil 2, 9f ). Zudem sprechen die ZeitzeugInnen von emotionalen Zuständen, die von einer Zurückweisung und Abwehr der Ein- und Übergriffe in ihre Lebenswelt zeugen. Im geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau, wo die Flucht als Auswegsoption gewählt wurde und die repressive Erziehung sich zuspitzte, spricht MP beispielsweise von Hassgefühlen und Gewaltfantasien: „Man konnte das ja nicht nach außen tragen, aber innerlich baut man dann so ein Hassgefühl auf, wo man sagt: ‚Wenn ich dich draußen sehe, dann lege ich dich um‘“ (MP Interviewteil 2, 320ff ). Renate spricht von innerlicher Verbitterung bei der Realisierung, dass sie aus dem GJWH nicht würde fliehen können, und davon, wie sie daraufhin„vorlaut, aggressiv, streitsüchtig, eben ein ganz böses Kind“ (Renate Interviewteil 2, 45ff ) geworden sei. Ihre innere Widerständigkeit zeigt sich bei einer Interaktion mit dem Direktor des GJWH: „Dann hat es geheißen, […] wir werden versuchen, aus dir einen ordentlichen politischen Menschen zu machen. Oder sozialistisch denkenden Menschen zu machen. Habe ich auch gedacht: ‚Na, versucht mal, macht mal.‘ Immer noch meine Sturheit so im Hinterkopf, ne? “ (Renate Interviewteil 2, 73ff ). Leo erzählt, wie viel Leid er in seiner Zeit im GJWH durch die Erfahrungen im Arrest im Fuchsbau und die körperliche Gewalt erfahren hat und wie dieses Leid Widerständigkeit in ihm geweckt hat: „Ich habe auch nicht dran geglaubt, dass ich da lebend wieder rauskomme. Ich habe mich dann oft an die Worte erinnert, wie der [Direktor] gesagt hat: ‚Das interessiert gar keinen mehr, wo ihr seid, und es wird auch keiner danach fragen […].‘ Und das ist mir oft durch den Kopf gegangen, wo ich gesagt habe: ‚Ey, das überlebst du hier nicht. Hier kommst du nicht mehr raus. Hier stirbst du.‘ […] Aber man festigt sich innerlich, man wird immer härter innerlich, man wird immer härter. Man kann in seinem größten Leid, kann man Kräfte aufbringen, das glaubt man gar nicht, ja? Man wird dermaßen hart, dass man sich sogar traut, in seinem größten Leid seinen Peiniger anzugehen“ (Leo Interviewteil 2, 288ff ). Jeder Tag Drill habe ihn härter gemacht und näher an die Selbstbewusstheit gebracht (Leo Interviewteil 3, 28ff ). Er spricht von einer inne- 27 uj 1 | 2024 Widerständige Praktiken in den DDR-Jugendwerkhöfen ren Stärke, die ihn habe sagen lassen: „Jetzt lasse ich mich hier nicht mehr einschüchtern, das ist vorbei“ (Leo Interviewteil 3, 76f ). Diese Stärke zeigt sich auch in folgender Aussage: „Die wollten dich brechen. Das ging nicht anders. Und ich habe mich nicht brechen lassen“ (Leo Interviewteil 3, 20f ). Zurück aus Torgau im offenen Jugendwerkhof beschreibt MP, wie er sich in ein Mädchen verliebt habe und nicht damit umgehen konnte, wie machtlos er sich gefühlt habe, als sie entlassen wurde: „Ich musste da was gegen unternehmen, dass ich entscheide, wie das hier läuft. Ja, […] dann bin ich wieder abgehauen“ (MP Interviewteil 2, 646ff ). Auch er berichtet von einer innerlichen Veränderung, die ihn „böser“ gemacht habe. Auf die Androhung einer Zweiteinweisung nach Torgau habe er gleichgültig reagiert und gewusst: „Wenn ich das einmal schaffe, dann schaffe ich das auch ein zweites Mal“ (MP Interviewteil 2, 664ff ). Auf eindrückliche Weise zeigen die Interviewausschnitte, wie das Ziel, die innere Welt der Jugendlichen insoweit zu verändern, dass sie eine eigene Motivation zur Umerziehung entwickeln, an den interviewten Personen scheiterte. Anstatt ihre Bedürfnisse und Interessen denen des Kollektivs unterzuordnen, zeigte sich ihr Bewusstsein für das erfahrene Unrecht und Leid in ihren Gedanken, Gefühlen und Entscheidungen. Sie ließen sich ihre Individualität und das Bedürfnis nach Freiheit nicht nehmen und sprachen „ein inneres Nein zu den Versuchen der Übergriffe durch das System aus“ (Mandić 2022, 48). Der GJWH führte nicht wie von der Obrigkeit gewünscht zu einer Herstellung der Umerziehungsbereitschaft, sondern verschärfte ihre innere Abwehrhaltung. Gestaltung von Handlungsspielräumen: zwischen Anpassung und Widerstand Die Ein- und Unterordnung in das Kollektiv galt als wichtigstes Mittel für die Umerziehung. Eigene Interessen sollten freiwillig hinter die kollektiven Interessen zurückgestellt werden, bis hin zu einer Identifizierung mit dem Kollektiv und dem Eintreten für seine Ziele. Bei der Auswertung des Interviewmaterials wurde jedoch deutlich, dass die interviewten Betroffenen bewusst zwischen Anpassung und Widerstand abwägten, wenn möglich ihre Handlungsspielräume erweiterten und hierarchische Positionen in der Gruppe für eigene Interessen nutzten (vgl. Mandić 2022, 39). Eine Woche nach seiner Ersteinweisung in einen offenen Jugendwerkhof flieht MP und wird nach seinem Aufgreifen mit dem Wissen des Erziehers von einem anderen Jugendlichen zusammengeschlagen (MP Interviewteil1, 237ff ). Von den ErzieherInnen war zuvor eine Belohnung in Aussicht gestellt worden, wenn für eine bestimmte Anzahl von Tagen niemand aus dem Jugendwerkhof fliehen würde. Durch seine Flucht hatte MP diese Belohnung verhindert. Bei seiner nächsten Flucht stellte er sicher, dass die fluchtfreien Tage zunächst verstrichen und die Gruppe ihre Belohnung bekam, um der Gewalt der Jugendlichen zu entgehen (MP Interviewteil 1, 272ff ). So verringerte sich nicht etwa der Drang zur Flucht, viel eher zeugt das Verhalten MPs von einer Lernfähigkeit bezüglich der Abwägung zwischen Anpassung und Widerstand. Auch Renate spricht von dieser Abwägung: „Bin auch mal eine Woche mit arbeiten gefahren, war auch kein Problem. Und immer, wenn mir dann irgendwas nicht mehr gepasst hat, habe ich die Fliege gemacht“ (Renate Interviewteil 2, 3ff ). Leo und MP berichten beide davon, wie sie sich hierarchisch hohe Positionen in der Gruppe verschafften, um eigene Handlungsspielräume zu erweitern. So konnte Leo das Rauchverbot in den Arrestzellen umgehen, indem ihm andere Jugendliche Zigaretten durch das Zellenfenster reichten (Leo Interviewteil 3, 50ff ). Seine hohe Position in der Gruppe ermöglichte ihm später auch, mehrere Jugendliche um sich zu sammeln und gemeinsam zu fliehen (Leo Interviewteil 1, 271ff ). MP konnte mit dem Jugendlichen, der ihn nach seiner ersten Flucht geschlagen hatte und der 28 uj 1 | 2024 Widerständige Praktiken in den DDR-Jugendwerkhöfen eine hohe Position in der Gruppe genoss, eine Beziehung aufbauen, die ihm Zugang zu Privilegien verschaffte (MP Interviewteil 1, 281ff ). Die Möglichkeiten, Handlungsspielräume zu erweitern und Regeln zu umgehen, waren im geschlossenen Jugendwerkhof hingegen erheblich eingeschränkt: „In Torgau, da gab es kein Argumentieren, da hast du gleich eine vor den Latz gekriegt und dann war Ruhe, ja? Da haben sie zugeschlagen, da haben sie dich eingesperrt, da hast du Sport machen müssen“ (Leo Interviewteil 2, 466ff ). MP reagierte auf die verschärften Umstände im GJWH mit Anpassung, er habe verstanden, dass er mitlaufen müsse, um wieder rauszukommen (MP Interviewteil 2, 248ff ). Auch hier baute er enge Beziehungen zu den Stärksten der Gruppe auf, um sich vor Gewalt zu schützen. Leo wählte weiterhin Wege des Widerstands, auch wenn diese hart bestraft wurden. Renate wurde zweimal in den GJWH in Torgau eingewiesen. Während sie von widerständigem Verhalten bei ihrer ersten Einweisung berichtet, führt die Vergewaltigung durch den Direktor Horst Kretschmar dazu, dass sie sich anpasste: „[Da] wurde ich von dem Direktor sexuell missbraucht, da habe ich mich selbst nicht mehr erkannt […]. Von dem Tag an habe ich funktioniert. Ich war Wochenbeste, ich war Qualitätsbeste, ich war Arbeitsbeste“ (Renate Interviewteil 3, 4ff ). Nach ihrer Rückkehr aus Torgau in den offenen Jugendwerkhof berichten Leo und MP von stark veränderten Bedingungen: Plötzlich mussten sie die Regeln des Jugendwerkhofalltags nicht mehr befolgen und erhielten durch die ErzieherInnen weitreichende Privilegien (Leo Interviewteil 2, 451ff; MP Interviewteil 2, 541ff ). MP berichtet in diesem Zusammenhang erst wieder von Widerständigkeit, als seine Freundin entlassen wurde (MP Interviewteil 2, 645ff ). Renate hingegen floh immer wieder aus dem Jugendwerkhof, bis sie zum zweiten Mal in den GJWH eingewiesen wurde (Renate Interviewteil 2, 85ff ). Nach ihrer zweiten Rückkehr unternahm sie ein letztes Mal einen Fluchtversuch, bei dem sie sich ihren Arm brach, und entschied, dass sie bis zu ihrer Entlassung nicht mehr fliehen würde, auch weil sie zu dem Zeitpunkt von ihrem damaligen Freund schwanger war (Renate Interviewteil 3, 21ff ). Anhand der Beispiele wird deutlich, wie die Betroffenen eigene Strategien entwickelten, um ihre Handlungsspielräume zu erweitern. Sie passten sich an, um das ihnen zugefügte Leid zu verringern und sich vor Gewalt zu schützen, und entschieden, sich zu wehren, wenn sie in ihrem Autonomiebedürfnis verletzt wurden und Widerstand für sie möglich war. So ordneten sie ihre Eigeninteressen keineswegs denen des Kollektivs unter, sondern standen für diese im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein. Aktiver Widerstand: Auflehnung statt Gehorsam Die Jugendwerkhöfe galten der Disziplinierung von Jugendlichen, die sich in den Augen der DDR-Obrigkeit disziplinverletzend verhielten. Doch die Jugendlichen leisteten immer wieder Widerstand, insbesondere indem sie flohen - schließlich galt die Errichtung des geschlossenen Jugendwerkhofes in Torgau unter anderem der Verhinderung von Flucht (vgl. Zimmermann 2004, 373ff ). Dies zeigt die Grenzen, auf die die Umsetzung des Umerziehungsgedankens stieß. Für die Betroffenen war der aktive Widerstand mit einem hohen Risiko verbunden. Das zeigt auch die Auswertung des Datenmaterials, in dem die befragten Betroffenen von Flucht, verbalem Widerstand, Verweigerung und Widerstand in der Gruppe erzählen (vgl. Mandić 2022, 41f ). Flohen die Jugendlichen, nahmen sie ein hohes Risiko auf sich, denn sie wurden dafür mit tagelangem Arrest bestraft. Auch die Flucht selbst war hindernisreich. Renate verstauchte sich auf ihrer ersten Flucht den Knöchel beim Sprung aus dem Toilettenfenster und durchquerte mitten im Winter einen Bach, indem sie ihre Kleidung zunächst über den Bach schmiss, um sie trocken zu halten (Renate Interviewteil 2, 12ff ). Leo floh das erste Mal gemeinsam mit vier weiteren Ju- 29 uj 1 | 2024 Widerständige Praktiken in den DDR-Jugendwerkhöfen gendlichen: „Wir mussten in der Gärtnerei arbeiten gehen und haben unsere Privatklamotten unter unseren Arbeitssachen versteckt, haben die in der Nähe von der Gärtnerei in einen hohlen Baum gesteckt. Haben in der Gärtnerei gearbeitet und in der Mittagspause sind wir einfach abgehauen. […] Waren natürlich blauäugig, wo wollten wir eigentlich hin? “ (Leo Interviewteil 1, 278ff ). Nach kilometerweitem Marsch, bei dem sie in Dörfern nach Essen und Trinken fragen mussten, gaben sie die Flucht auf und meldeten sich selbst bei der Polizei. Auch MP floh gemeinsam mit einem anderen Jugendlichen, bevor sie vom Grenzschutz aufgegriffen und zusammengeschlagen wurden, weil sie sich in der Nähe der Grenze befanden (MP Interviewteil 1, 290ff ). Alle Betroffenen erzählen von Arreststrafen bei ihrer Rückkehr. Neben der Flucht widersetzten sich die Betroffenen auch durch Verweigerungen von Disziplinarmaßnahmen: „Dann war ich das erste Mal in einer Arrestzelle bei uns im normalen Jugendwerkhof […]. Dieser Ablauf dort ist, man muss früh raus um sechs, dann muss man Frühsport machen […]. Und ich habe aber den Frühsport verweigert. Ich sage: ‚Mach ich keinen Hampelmann hier. Mach ich nicht.‘ Weil es war so eine Provokation vor allen, diese Zelle war zwar bisschen verdeckt, aber man musste raustreten […] und natürlich haben die Mädels rausgeguckt und natürlich haben die Kerle rausgeguckt und wollten das sehen“ (MP Interviewteil 1, 321ff ). Ein Erzieher verprügelte ihn daraufhin zur Strafe und verordnete Arrestverlängerung. Im GJWH in Torgau berichten die Betroffenen nicht mehr von Fluchtversuchen, diese Möglichkeit stand ihnen nicht zur Verfügung. Renate berichtet davon, wie sie nach der Vergewaltigung durch den Direktor einem Erzieher davon erzählt, woraufhin sie wegen „Belügen eines Erziehers“ (Renate Interviewteil 3, 8) eine Arrestverlängerung erhält. Hier wird deutlich, wie hart die Jugendlichen bestraft wurden, wenn sie für sich einstanden. Leo erzählt mehrfach davon, wie er im geschlossenen Jugendwerkhof den militärischen Drill verweigerte. Bei seiner Ankunft befahl ihm der Direktor, im Laufschritt zu gehen, und trat ihn, nachdem er dies verweigerte (Leo Interviewteil 1, 394ff ). In einer anderen Situation verweigerte er Klimmzüge nach einer totalen Erschöpfung durch Sportübungen: „Rennen, rennen, rennen. Dann habe ich gesagt: ‚Ich kann nicht mehr.‘ Da mussten zwei mich unterhaken und mussten mich mitschleifen. Habe ich immer noch gesagt: ‚Ich kann nicht mehr‘“ (Leo Interviewteil 1, 462ff ). Daraufhin wurde er vom Direktor zu einer Rampe geführt, an der er Klimmzüge machen sollte, und als er dies verweigerte, ließ der Direktor einen Wachhund auf ihn los, damit er an die Stange sprang. Als Leo zu einem anderen Zeitpunkt gezwungen wurde, über den Schotter des Hofes zu robben, sodass ihm die Ellbogen und Knie aufgeschlagen wurden, äußerte er immer wieder, dass er nicht mehr könne (Leo Interviewteil 2, 175ff ). Der Direktor führte ihn daraufhin auf den Dachboden und forderte ihn auf, Klimmzüge an einem heißen Heizungsrohr zu machen: „Da sollte ich an diesem heißen Rohr, sollte ich Klimmzüge machen. Dann habe ich das verweigert. Habe ich gesagt, hier [im Sinne von einen Vogel zeigen]: ‚Mache ich nicht.‘ Da hat er sich vor mich hingestellt, hat seine Jackettärmel ganz langsam hochgezogen. Hat seine Manschettenknöpfe aufgemacht, hat die Hemdsärmel umgekrempelt. ‚Machen Sie jetzt Klimmzüge.‘ ‚Nein, ich mache keine.‘ So. Und dann hat an der Seite reingefasst, einmal rausgeholt, […] das war ein teleskopierbarer Schlagstock. […] Hat mir hinten über das Genick einen gegeben, bin ich zusammengebrochen. War ich erstmal weg. So. Wie ich wieder zu mir kam, dann hat er mich nochmal gefragt, ob ich das mache, dann habe ich das wieder verweigert, dann hat er nochmal zugehauen. […] Nun dachte ich, das war damit erledigt. Ne, ne. Damit war das nicht erledigt. Habe ich erstmal gleich acht Tage Arrest gekriegt. Weil ich das eben verweigert habe“ (Leo Interviewteil 2, 199ff ). Diesen Strafmaßnahmen oder auch Folter waren die Jugendlichen ausgesetzt, wenn sie sich nicht dem Drill unterordneten. Trotzdem brachten die Betroffenen immer wieder die Stärke und den Mut auf, sich zu 30 uj 1 | 2024 Widerständige Praktiken in den DDR-Jugendwerkhöfen wehren und für sich einzustehen. Als MP nach seiner Rückkehr aus Torgau im offenen Jugendwerkhof Gruppenleiter wurde, versammelte er alle GruppenleiterInnen und animierte sie zur Flucht: „Alle Gruppen hatten ja immer einen FDJ-Sekretär. Und ich habe alle, die Mädels und die Jungengruppen, habe ich alle FDJ-Sekretäre zusammengeschlossen. Wir haben uns auf der Raucherinsel getroffen und haben … ich habe viele [lachend] dazu animiert, eine Massenflucht zu machen. Im März […] sind ungefähr 20 Leute aus dem [lachend] Jugendwerkhof […] abgehauen“ (MP Interviewteil 2, 793ff ). Dieses Beispiel zeigt, wie die Jugendlichen ihre Positionen in der Gruppe nach eigenen Vorstellungen nutzten und sich nicht wie von der Obrigkeit gewünscht an einer Herausbildung des Kollektivs beteiligten. Fazit Den Versuchen der SED-Diktatur, die Menschen zu sozialistischen Persönlichkeiten umzuerziehen, und der damit einhergehenden Gewalt waren die Jugendlichen im Jugendwerkhof in konzentrierter Form ausgesetzt. Dabei waren sie besonders im geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau vollkommen isoliert vom Rest der Gesellschaft und so auf sich allein gestellt. Meine qualitative Studie, auf der dieser Artikel basiert, kann keine repräsentativen Ergebnisse liefern. Sie beruht auf den Erzählungen dreier Menschen, die ihre persönlichen Geschichten erzählten. Es sind Geschichten von unermesslichem Unrecht und Leid. Es sind Geschichten von Widerständigkeit. Es sind Geschichten von Menschen, die Strategien entwickelten, mit dem erfahrenen Unrecht umzugehen und sich aufzulehnen. Sie suchten dabei Wege auf verschiedenen Ebenen: Sie erhielten sich ihr Bedürfnis nach Autonomie und Freiheit und wehrten so Versuche der Formung ihres Innenlebens ab. Sie gestalteten ihre Handlungsspielräume, indem sie ihr Verhalten entweder anpassten oder Widerstand leisteten und entzogen oder widersetzten sich so den Zielen der Kollektiverziehung. Sie leisteten aktiven Widerstand trotz harter Repressionen und lehnten sich so gegen ein System auf, welches ihre vollkommene Disziplinierung anstrebte. Die Forschungsarbeit konnte mit der Einteilung von Widerstandsformen in innere Widerständigkeiten, Gestaltung von Handlungsspielräumen und aktivem Widerstand erstmals einen Analyserahmen für Auflehnungen im Jugendwerkhof schaffen. Damit konnten die Stimmen der Betroffenen und ihr Mut sowie ihre Stärke sichtbar gemacht werden. Antea Mandić E-Mail: anteamandic@posteo.de Literatur Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ (Hrsg.) (2012): Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR. 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