eJournals unsere jugend 76/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2024
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Careleaving Storys

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2024
Sabine Behn
Dieser Beitrag stellt das Projekt „Careleaving Storys: Geschichten aus der Jugendhilfe“ vor, das jungen Menschen mit Careleaving-Erfahrung eine Plattform bietet, ihre Erfahrungen und Wünsche einem breiten Publikum mitzuteilen und darüber ins Gespräch zu kommen. Er beruht weitgehend auf einem Gespräch mit Lucia Rocktäschel.
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32 unsere jugend, 76. Jg., S. 32 - 35 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art05d © Ernst Reinhardt Verlag von Sabine Behn Jg. 1960; Geschäftsführerin von Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich, Berlin Careleaving Storys Ein mutmachendes Projekt Dieser Beitrag stellt das Projekt „Careleaving Storys: Geschichten aus der Jugendhilfe“ vor, das jungen Menschen mit Careleaving-Erfahrung eine Plattform bietet, ihre Erfahrungen und Wünsche einem breiten Publikum mitzuteilen und darüber ins Gespräch zu kommen. Er beruht weitgehend auf einem Gespräch mit Lucia Rocktäschel. Junge Menschen mit Careleaving-Erfahrung haben oft mit Vorurteilen und strukturellen Herausforderungen zu kämpfen. Sie stehen vor vielfältigen Problemen, wenn sie die Einrichtung der Jugendhilfe, in der sie einen Teil ihres Lebens verbracht haben, auf dem Weg in ein eigenständiges Leben verlassen. Die Herausforderungen, die mit diesem Übergang verbunden sind, müssen diese Jugendlichen im Gegensatz zu ihren gleichaltrigen Peers meist allein bewältigen. Viele müssen mit 18 Jahren ausziehen und sind ohne familiäre Unterstützung komplett auf sich allein gestellt. Das Projekt „Careleaving Storys“ Vor diesem Hintergrund ist das Projekt „Careleaving Storys: Geschichten aus der Jugendhilfe“ zu betrachten, das sich zum Ziel setzt, jungen Menschen mit Careleaving-Hintergrund Gehör zu verschaffen und die Öffentlichkeit für ihre besondere Situation zu sensibilisieren. Entstanden ist das Projekt im Rahmen von AWAKE - das Brückensteine Fellowship. AWAKE ist ein Projekt der Initiative Brückensteine Careleaver, die von der Drosos-Stiftung gefördert wird und CareleaverInnen dabei unterstützt, ihre Erfahrungen öffentlich zu machen und sich für ihre Interessen und Belange zu engagieren. Im Rahmen dieses Fellowships haben sich Lucia, Lee, Cee und Laura kennengelernt und das Projekt „Careleaving Storys“ auf die Beine gestellt. Sie haben Geschichten, Berichte, Comics, Gedichte und Zeichnungen eingesammelt, die von jungen Menschen, die einen Teil ihres Lebens in unterschiedlichen Einrichtungen der Jugendhilfe verbracht haben, verfasst wurden und die deutlich machen, dass sich ihr Leben in vieler Hinsicht sehr deutlich von dem anderer Jugendlicher, die in Herkunftsfamilien aufwachsen, unterscheidet. Im Rahmen des Fellowships wurde neben dem Angebot von Workshops, Coaching und Austausch auch ein (überschaubares) Budget zur Verfügung gestellt, das genutzt wurde, um die eingesandten Beiträge zu gestalten und zu drucken. Entstanden ist das beeindruckende Heft „Careleaving Storys“ (vgl. Rocktäschel et al. 2022), das über die Website www.careleaving-storys.de zu beziehen ist und bislang fast 1.000-mal verkauft wurde. 33 uj 1 | 2024 Das Projekt „Careleaving Storys“ Neben der Veröffentlichung des Hefts veranstalten die Projektumsetzenden Lesungen für unterschiedliche Zielgruppen, beispielsweise in Einrichtungen der Jugendhilfe oder der ErzieherInnenausbildung. Im September 2023 wurde das Projekt „Careleaving Storys“ mit dem Berliner Präventionspreis der Landeskommission Berlin gegen Gewalt ausgezeichnet und erhielt Standing Ovations von dem anwesenden bunt gemischten Publikum. Anliegen und Ziele des Projekts Jenseits der Fachöffentlichkeit sind die besonderen Probleme und Herausforderungen, mit denen junge Menschen mit Careleaving-Geschichte, insbesondere nach Verlassen ihrer Einrichtung, konfrontiert sind, weitestgehend unbekannt. „Careleaving Storys“ setzt zum einen hier an und möchte die Gesellschaft auf die Situation von Jugendlichen, die in Jugendhilfeeinrichtungen aufwachsen und diese meist abrupt mit dem 18. Geburtstag verlassen müssen, aufmerksam machen. Zum anderen richten sich die Geschichten auch direkt an die Jugendhilfe selber und formulieren sehr deutlich Lücken im System und Bedürfnisse sowie Bedarfe, die häufig unerfüllt bleiben. Gleichzeitig werden die jungen Menschen, die Texte schreiben oder Zeichnungen verfassen und sich dafür noch einmal mit ihren Erfahrungen auseinandersetzen, gestärkt und empowert. Sie suchen sich ihren eigenen Weg, ihre Erlebnisse in Worte - oder Bilder - zu fassen, und reflektieren somit ihre eigene Geschichte, ihren Werdegang, ihre Gefühle. Sie erleben Selbstwirksamkeit, indem sie dies öffentlich machen können und Resonanz von außen erfahren. „Ja, also unser Ziel ist ja, Geschichten aus der Jugendhilfe hörbar zu machen oder ihnen Gehör zu verschaffen und Sichtbarkeit. Das hat zwei Aspekte. Mir persönlich hat zum Beispiel immer Schreiben sehr geholfen im Leben, Tagebuchschreiben und so weiter, und diese Auseinandersetzung mit meinem Leben und meinen Erfahrungen durch Schreiben. Und deshalb glaube ich, dass es ein sehr positiver Zugang sein kann und generell kreativ sein kann, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Auf der anderen Seite bietet es für die, die nicht so viel damit zu tun haben oder die diese Erfahrungen selber nicht haben, einen emotionalen Zugang zu dem Thema, der auch wichtig ist.“ (Lucia) Gleichzeitig werden Verbindungen durch gemeinsam geteilte Erfahrungen geschaffen. Junge Menschen mit Careleaving-Hintergrund erleben, dass sie nicht allein mit ihren Erlebnissen sind, sondern dass viele andere auch diese oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Somit bildet sich das Gefühl einer Community, die sich gegenseitig bestärken und stützen kann. „Wir haben bei manchen Lesungen das Feedback bekommen und überhaupt schon oft gehört, dass die Menschen sich mit den Geschichten identifizieren können und dass sie sagen, ja, das war bei mir ganz genauso oder das kenne ich auch. Ich glaube, es schafft eine Verbindung, die eigene Geschichte zu erzählen und zu teilen mit anderen Menschen; das schafft halt die Möglichkeit, sich mit anderen zu verbinden und vor allem auch mit sich selbst.“ (Lucia) Ein zentrales Anliegen von„Careleaving Storys“ ist weiterhin die Auseinandersetzung mit und der Kampf gegen Vorurteile und Stigmatisierungen, denen Jugendliche, die in Jugendhilfeeinrichtungen aufwachsen, immer wieder begegnen. Die jungen Menschen mit Careleaving-Geschichte beschreiben deutlich, dass ihre Lebensrealitäten sowohl während als auch nach der Jugendhilfezeit nicht wahrgenommen werden, ignoriert werden und sie mit den speziellen Problemen, die aus ihrer Situation entstehen, alleingelassen werden. Sie erleben sich als weiterhin von der Gesellschaft ausgegrenzt und benachteiligt: 34 uj 1 | 2024 Das Projekt „Careleaving Storys“ „Wichtig ist, das Ganze zu entstigmatisieren und Menschen auch was zuzutrauen, sodass man nicht das Gefühl hat, oh, wenn ich mich jetzt oute als jemand mit Jugendhilfeerfahrung, dann werde ich sofort nicht mehr ernstgenommen. Das ist was, was wir schon häufig erlebt haben.“ (Lucia) Konkrete Forderungen von„Careleaving Storys“ beziehen sich auf die Rahmenbedingungen der Jugendhilfeformen. Hier ist insbesondere der Einschnitt, den das Erreichen des 18. Lebensjahrs bedeutet, zu nennen. Mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen sind die jungen Menschen auf sich allein gestellt und erfahren keine oder wenig weitere Unterstützung. „Und einen Tag nach meinem 18. Geburtstag musste ich wieder ausziehen aus der Wohngruppe, wie das immer noch häufig so ist. […] Und das hat mich natürlich dahingehend geprägt, dass es so ein Bruch im Leben natürlich ist und ja, eine ganz andere Lebensform, als man sie vielleicht vorher gewohnt war.“ (Lucia) Lucia beschreibt ein weiteres konkretes Problem in diesem Kontext, das hier nur als stellvertretend für andere stehen soll. „Wichtig ist, dass es finanzielle Unterstützung gibt und dass die vor allem nicht von den Herkunftsfamilien abhängig gemacht wird. Dass es elternunabhängiges Bafög gibt, ist ganz wichtig. Und dass die Menschen einfach nicht so krass alleine gelassen werden. […] Also als ich zum Beispiel versucht habe, Wohngeld zu beantragen, da wurde mir damals gesagt, ja, ich muss zurück zu meinen Eltern ziehen. […] Genau, wichtig ist, dass man einfach unabhängig diese ganzen Unterstützungen bekommt und dass halt klar ist, dass man nicht dazu verpflichtet wird, mit seinen Eltern wieder in Kontakt zu gehen und sich wieder von denen abhängig machen zu müssen. […] Also es soll möglich sein, dass keine Kontaktaufnahme zu den Eltern nötig ist, wenn das nicht geht oder nicht gewünscht ist. Und dass man nicht dazu verpflichtet wird.“ (Lucia) Ein zentrales Thema: Einsamkeit „Hinter meinem Erwachsenen-Ich steckt ein Kind, das jahrelang um Hilfe geschrien hat. Ein Kind, das niemand gesehen oder beachtet hat. Ein Kind, das ganz allein dastand. Ein Kind, das zu früh, zu viel Verantwortung übernehmen musste. Ein Kind, das einsam war. Ein hilfloses Kind, das missbraucht wurde. Ein Kind, das heute eine starke Frau geworden ist. Tina“ (Rocktäschel et al. 2022, 33) Liest man die berührenden Geschichten und Gedichte in dem Heft„Careleaving Storys“, wird deutlich, dass Einsamkeit ein zentrales Thema ist. Einsamkeit begleitet oft die Zeit in der Jugendhilfeeinrichtung, z.-B. in der Wohngruppe. „[…] dass wir einfach niemanden so richtig zum Reden haben, und während der Jugendhilfezeit sind das ja auch oft Menschen, deren Job das einfach ist. […] Also diese künstlichen Beziehungen, denen einfach immer was fehlt, weil sie halt nicht echt sind und nicht dauerhaft, und sie sind halt zeitlich und emotional begrenzt. […] Und andere Menschen haben ja wirklich oft nicht nur die Eltern, sondern auch die Verwandten und größere Familien und dort vielleicht irgendwen, mit dem sie Kontakt haben oder irgendwie verbunden sind, auch lange über das Kindheitsalter hinaus, und das haben wir nicht und das werden wir nie haben. Und ich glaube schon, dass das irgendwie eine Lücke hinterlässt“. (Lucia) Aber auch nach der Zeit in der Jugendhilfe bleibt Einsamkeit ein Thema. Nun ist es beispielsweise noch schwieriger, jemanden zu finden, dem man sich anvertrauen kann. „[…] Menschen können sich gar nicht vorstellen, wie ermüdend und zermürbend es ist, das Geld hinten und vorne zählen zu müssen und gleichzeitig keine Person zu haben, der du dich mitteilen kannst, die das nachvollziehen kann. Wenn du erstmal niemanden hast, den du 35 uj 1 | 2024 Das Projekt „Careleaving Storys“ immer anrufen kannst, sondern diese Personen erstmal finden und aufbauen musstest, gleichzeitig aber mit der Volljährigkeit ein Brief reinflattert, der zum x-ten Mal wissen will, was du denn noch alles vorhast. […] Mariam“ (Rocktäschel et al. 2022, 16) Gleichzeitig zeigt das Projekt „Careleaving Storys“, wie sich die Jugendlichen trotz ihrer schwierigen Ausgangsbedingungen zu gefestigten Menschen entwickeln, die ihre Lage reflektieren und konkrete Wünsche und Forderungen formulieren. Die veröffentlichten Geschichten „gehen unter die Haut“ und sind ein Medium, das auch die allgemeine Öffentlichkeit jenseits der Fachwelt erreichen und sensibilisieren kann. Wie weiter? Lucia und Lee führen das Projekt „Careleaving Storys“ eigenständig weiter. Sie planen zum einen ein weiteres Heft mit Texten von jungen Menschen mit Careleaving-Erfahrung für das kommende Jahr und zum anderen Schreibwerkstätten für Menschen mit Jugendhilfeerfahrung sowie Sensibilisierungstrainings für pädagogisches und therapeutisches Fachpersonal in Jugendhilfeeinrichtungen. Sabine Behn Camino gGmbH Mahlower Str. 24 12049 Berlin E-Mail: sabinebehn@camino-werkstatt.de Literatur Rocktäschel, L. et al. (2022): Careleaving Storys. Berlin www.brueckensteine.de www.careleaving-storys.de