unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2024
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Rezension: Die vergessenen Säuglingsheime. Zur Geschichte der Fürsorge in Ost- und Westdeutschland
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2024
Maria Kurz-Adam
Erinnerung braucht eine Sprache. Nur so wird sie Bestandteil unseres Lebens, unserer Identität, unserer persönlichen Geschichte und der Geschichte unseres Landes. Ohne Sprache wird Geschichte vergessen. Aber was geschieht, wenn diejenigen, deren Erinnerung wesentlich ist für diese Geschichte, nicht über die Sprache verfügen, weil sie zum Zeitpunkt dieser Geschichte gerade geboren waren? Der Historiker und Erziehungswissenschaftler Felix Berth nimmt in seinem lesenswerten Buch Die vergessenen Säuglingsheime eine stellvertretende Stimme ein, um den Menschen, die in diesen Säuglingsheimen zwischen 1945 und 1960 untergebracht waren, eine Sprache zu verleihen. Er schließt damit eine Lücke, die im Prozess der Aufarbeitung der Heimerziehung in dem von der Bundesregierung 2008 eingerichteten Runden Tisch Heimerziehung offengeblieben ist. Denn wie konnten dort ehemalige Heimkinder über ihre (Leidens-)Geschichte erzählen, wenn diese Geschichte noch vor ihrem ersten Lebensjahr begonnen hatte?
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134 uj 3 | 2024 Rezensionen Rezensentin: Dr. Maria Kurz-Adam Jg. 1961; Diplom-Psychologin, ehemalige Professorin für Psychologie in der Sozialen Arbeit, ehemalige Leiterin des Stadtjugendamtes München, Autorin mehrerer Bücher Erinnerung braucht eine Sprache. Nur so wird sie Bestandteil unseres Lebens, unserer Identität, unserer persönlichen Geschichte und der Geschichte unseres Landes. Ohne Sprache wird Geschichte vergessen. Aber was geschieht, wenn diejenigen, deren Erinnerung wesentlich ist für diese Geschichte, nicht über die Sprache verfügen, weil sie zum Zeitpunkt dieser Geschichte gerade geboren waren? Der Historiker und Erziehungswissenschaftler Felix Berth nimmt in seinem lesenswerten Buch Die vergessenen Säuglingsheime eine stellvertretende Stimme ein, um den Menschen, die in diesen Säuglingsheimen zwischen 1945 und 1960 untergebracht waren, eine Sprache zu verleihen. Er schließt damit eine Lücke, die im Prozess der Aufarbeitung der Heimerziehung in dem von der Bundesregierung 2008 eingerichteten Runden Tisch Heimerziehung offengeblieben ist. Denn wie konnten dort ehemalige Heimkinder über ihre (Leidens-)Geschichte erzählen, wenn diese Geschichte noch vor ihrem ersten Lebensjahr begonnen hatte? Fünf Gründe für eine Geschichte der Säuglingsheime ist die Einführung in das Buch überschrieben, darin werden zugleich die Schritte dieser Geschichte in einer ersten Skizze aufgefaltet. Die Notwendigkeit der nachholenden wissenschaftlichen Aufarbeitung im Kontext des Runden Tisches der Heimerziehung in der Bundesrepublik und der DDR ist der Ausgangspunkt, an den sich - als zweiten Grund - der kindheitsgeschichtliche Anspruch einer Aufarbeitung des Bildes vom Kleinkind in den Nachkriegsjahren anschließt. Als dritten Grund nennt Berth die Weiterentwicklung der Kinderpsychologie und Kinderpsychotherapie, die er als wesentlichen Motor einer Veränderung und schließlich Abschaffung der Säuglingsheime in der Bundesrepublik identifiziert - im Gegensatz zu den Säuglingsheimen in der DDR, in denen bis zur Wiedervereinigung „eine nennenswerte Zahl von Kindern untergebracht war“. Die Notwendigkeit, die Parallelen und Unterschiede der historischen Entwicklungen der Säuglingsheime in der Bundesrepublik und der DDR nachzuzeichnen, wird als vierter Grund genannt. Als fünften Grund der Aufarbeitung nennt Felix Berth schließlich die große Resonanz, die seine Forschungen bei Betroffenen erzeugt hat - ihnen ist deshalb ein eigener Teil des Buches gewidmet, der die Interviews und Gespräche mit Menschen wiedergibt, die einen Teil ihres Lebens, vielleicht den entscheidendsten Teil, in einem Säuglingsheim zugebracht haben. Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Allen Teilen ist ein ausführliches Literatur- und Quellenverzeichnis zugeordnet, zahlreiche Abbildungen und Fotografien begleiten den Text. Im ersten Teil des Buches wird die Sozialgeschichte des Säuglingsheims nachgezeichnet - Zahlen des Ausbaus nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik und der DDR, Einweisungsgründe, Lebensbedingungen der Säuglinge, Folgen der Fremdunterbringung für die Entwicklung der Kinder werden anhand von Zeitdokumenten geschildert. Im Außenblick waren diese Heime ein erheblicher Bestandteil der institutionellen Fürsorgeversorgung von Kin- Berth, F. (2023): Die vergessenen Säuglingsheime. Zur Geschichte der Fürsorge in Ost- und Westdeutschland Psychosozial-Verlag, Gießen. 185 Seiten, ISBN 978-3-8379-3204-1, € 29,90 (auch als PDF-E-Book verfügbar) uj 3 | 2024 135 Rezensionen dern. Nach seinen Berechnungen auf der Grundlage der Statistischen Jahrbücher der DDR und des Statistischen Bundesamtes haben, so schreibt Felix Berth, etwa 1,2 Millionen Menschen in den Jahren zwischen 1950/ 51 bis 1990 phasenweise ihre früheste Kindheit in einem Säuglingsheim zugebracht. Hauptgrund der Heimeinweisung war bis in die 1960er-Jahre die „unvollständige Familie“: alleinerziehende ledige Frauen in schwierigen Lebenslagen, die dem strengen Urteil der Gesellschaft nichts entgegensetzen konnten. Der heutige Hauptgrund der Fremdunterbringung eines Säuglings - die Inobhutnahme aufgrund akuter Gefährdung des Kindeswohls - rangierte in diesen Jahren auf den hinteren Plätzen. In der Außensicht gaben sich die Säuglingsheime als eine Idylle im Grünen, in der es keinen Hunger gab und für ausreichend Schlaf gesorgt wurde. In der Innensicht erwies sich diese Idylle in vielen Fällen als Horror des Aufwachsens, der sekundengenau dokumentiert wurde. „Zum Beispiel die Ernährung der Kinder … Den Säuglingen wurde in Seitenlage der Sauger in den Mund gesteckt, das Fläschchen kam auf eine etwas erhöhte Unterlage, damit es in einer halbwegs passablen Position war. Zeitbedarf für die Schwester: pro Säugling zwischen 15 und 43 Sekunden.“ Im zweiten Teil des Buches versammelt sich exemplarisch die Sicht der Betroffenen. Auch wenn sie sich heute nicht oder nur in Bruchstücken erinnern können, hinterlässt die Unterbringung ihre Spuren - im Selbstbild, in den Gefühlen, in der Verortung in der Gegenwart. In fast allen Interviews sind die Ambivalenz und der Schatten einer Trauer über die vergangene Kindheit zu spüren. Denn wie alle Kinder und Jugendlichen, die in den Heimen in dieser Zeit untergebracht waren, gibt es nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Heim selbst, den Zwängen und den kleinen Freiheiten des Alltags dort, den Beziehungen zu den Erziehenden, den anderen Kindern, der erfahrenen Gewalt oder Zuwendung. Heimgeschichte ist für sie auch immer Familiengeschichte. Und so richtet sich der Blick der Betroffenen ebenso schmerzlich auf die Auseinandersetzung mit ihren Herkunftsfamilien, den verschwundenen Müttern, den abwesenden Vätern, auf die Frage, wie es sein konnte, in diesen frühen Jahren ihres Lebens nicht bei ihren Müttern, Vätern, Großeltern bleiben zu dürfen. „Als ich aus dem Säuglingsheim rausgekommen bin, war ich psychisch tot“, beschreibt ein Interviewpartner diesen Zustand eines Verlassenseins, der ihn auch heute noch befallen kann. Das Herzstück der Wissensgeschichte der Säuglingsheime wird im dritten Teil des Buches entfaltet. Die Stimme der immer mehr erstarkenden Kinderpsychologie in den Nachkriegsjahren nach dem Zweiten Weltkrieg wird lauter - Anna Freud, René Spitz, Donald Winnicott und John Bowlby werden zu PionierInnen einer Wissenschaft, die das Verstehen des Seelenlebens des Kindes in den Mittelpunkt stellt und die Form der inneren Beziehungen und Strukturen des Aufwachsens, das mit der Geburt beginnt, in den Blick nimmt. Die Bedürfnisse der Säuglinge sind mehr als nur Nahrung, Schlaf und frische Luft, die es in den zeitlich streng disziplinierten Bahnen der (Heim-)Erziehung zu erfüllen gibt. Die psychische Gesundheit des Kindes wird mehr und mehr zum Maßstab, an dem das Kindeswohl gemessen wird - Bindung statt Trennung, Zuwendung statt Härte und Disziplin, Intimität statt Entfremdung waren die Stichworte, unter denen die psychische Gesundheit von Kindern beschrieben wurde. Spätestens hier driftet die Geschichte der Säuglingsheime in der Bundesrepublik und der DDR auseinander - die Fachpublikationen zu den psychischen Folgen der Fremdunterbringung von Säuglingen unterlagen in der DDR seit den 1960er-Jahren, so schreibt Felix Berth, einem „faktischen Forschungs- und Publikationsverbot“. Säuglingsheime waren in der DDR bis zuletzt eine Option, das Aufwachsen von Kindern dem sozialistischen Diktat der Arbeit der Erwachsenen unterzuordnen. 136 uj 3 | 2024 Rezensionen Sechs Fragen - Abschließende Überlegungen zur Geschichte des Säuglingsheims ist der vierte Teil des Buches überschrieben. Statt einer Bilanz werden darin Fragen formuliert, die die Widersprüche, die unterschiedlichen Entwicklungen der Säuglingsheime in der Bundesrepublik und in der DDR, die Rolle des Staates und die Rolle der gesellschaftlichen Bilder über Familien und besonders über Mütter noch einmal in den Blick nehmen. Das Feld dieser Widersprüche spannt sich auf zwischen dem Beharren des Fürsorgestaates auf einer alternativlos erscheinenden Unterbringung von einem Teil von Säuglingen und der Haltung der VertreterInnen der Bindungstheorie, nach denen auch das schlechteste Aufwachsen in einer Familie besser sei als das Aufwachsen in einem Heim. „Children thrive better in bad homes than in good institutions“ lautet einer der berühmtesten Sätze John Bowlbys. Dieses Spannungsfeld bleibt der Kinder- und Jugendhilfe, den Familiengerichten und den Institutionen des Aufwachsens von Kindern bis heute erhalten. Es ist, wenn man so will, ein Erbe der Geschichte der Säuglingsheime. Wenn es darauf eine richtige Antwort gäbe, so wäre es wohl die, dass es manchmal in einem Kinderleben nicht mehr und nicht weniger zu tun gibt, als den Kindern einen sicheren Ort zu geben, an dem sie mit zuversichtlicher Freundlichkeit aufgenommen werden. Dr. Maria Kurz-Adam E-Mail: kurz.adam@t-online.de DOI 10.2378/ uj2024.art17d Rezensentinnen: Katrin Behrens M. A. Literatur- und Sprachwissenschaft, Projektleitung Kompetenzzentrum Pflegekinder e.V. Silvia Haßmann-Vey Erziehungswissenschaftlerin, Geschäftsführung Kompetenzzentrum Pflegekinder e.V. Frau Frühling hat 30 Kinder… na endlich! Das Thema Vormundschaft hat in der Jugendhilfe bisher ein wenig beleuchtetes Dasein gefristet - es gehört irgendwie dazu, aber wie verknüpft sich das Agieren der VormundInnen am besten mit dem der anderen BetreuerInnen? Wie klar werden den betroffenen Kindern die Rolle und die Aufgaben ihres Vormunds oder ihrer Vormundin vermittelt? Wissen sie eigentlich, wie wichtig diese Person als SprecherIn, VertreterIn und EntscheiderIn für ihr ureigenes Kindeswohl ist? Der Reigen der erwachsenen Betreuungspersonen rund um junge Personen, die Jugendhilfe empfangen, ist groß und der Begriff „VormundIn“ selbst trägt auch nicht unbedingt zum schnellen Verständnis bei. Das Bundesforum Vormundschaft und Pflegschaft e.V. hat sich in den vergangenen Jahren sehr um eine bessere Vermittlung der Vormundschaft verdient gemacht und nun - sehr zur Freude der pädagogischen Fachkräfte, die ja die Aufgabe haben, den Kindern die Jugendhilfe und ihre Maßnahmen verständlich zu erklären - auch ein Bilderbuch für Kinder zum Thema herausgebracht. Es richtet sich an Kinder, vermutlich ab ca. vier Jahren bis ins Grundschulalter hinein, und ihre Bezugspersonen - soll also denen, die mit Vormundschaft zu tun haben, als Aufklärungsbuch und Gesprächsanlass rund um das Thema Vormundschaft dienen. Gliemann, C., Bundesforum Vormundschaft und Pflegschaft e.V. (2023): Frau Frühling hat 30 Kinder Monterosa Verlag, Karlsruhe. 26 Seiten, ISBN 978-3-942640-18-3, € 19,-
