eJournals unsere jugend 76/5

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2024
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Zwischenruf: 23. Mai 2024: 75 Jahre Grundgesetz und seine Bedeutung für die Soziale Demokratie

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2024
Dieter Kreft
In Unsere Jugend 5/2019 hat Dieter Kreft den Artikel „Zwischenruf: 23. Mai 2019 – 70 Jahre Grundgesetz“ veröffentlicht. Diesen Zwischenruf verlängert er hier zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes in eine völlig veränderte Zeit hinein.
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233 unsere jugend, 76. Jg., S. 233 - 235 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art31d © Ernst Reinhardt Verlag Zwischenruf: 23. Mai 2024: 75 Jahre Grundgesetz und seine Bedeutung für die Soziale Demokratie In Unsere Jugend 5/ 2019 hat Dieter Kreft den Artikel „Zwischenruf: 23. Mai 2019 - 70 Jahre Grundgesetz“ veröffentlicht. Diesen Zwischenruf verlängert er hier zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes in eine völlig veränderte Zeit hinein. von Prof.-h. c. Dieter Kreft Jg. 1936; Verwaltungs- und Erziehungswissenschaftler, Staatssekretär-a. D., Honorarprofessor der Leuphana Universität in Lüneburg Der Parlamentarische Rat - wie alles begann Als der Parlamentarische Rat am 1. September 1948 in Bonn zusammentrat, um ein Grundgesetz für die westdeutschen Länder zu beraten, lag Deutschland politisch, wirtschaftlich und sozial am Boden. Nicht einmal 3,5 Jahre zuvor endete der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Das Land lag in Trümmern, die bitterkalten Winter 1945/ 46 und 1946/ 47 hatten dazu geführt, dass Menschen in ihren unbeheizten Wohnungen starben und fast alle vollends erschöpft waren. Das Land war faktisch bereits zweigeteilt und aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten flüchteten während des Zweiten Weltkrieges sowie danach Millionen nach Westen, eine Mehrheit nach Westdeutschland, es waren unvorstellbare Flüchtlingsströme (geschätzt zwischen 12 und 14 Millionen Menschen) zu bewältigen. Das ist für viele, die das nicht miterlebt haben, kaum noch zu verstehen, unter welchen Umständen viele Menschen damals leben mussten. Es fehlte an allem: Wohnungen, Nahrung, Kleidung - vieles war nur über den Schwarzen Markt oder durch Hamstern erwerbbar. Die ersten Zeilen der sog. Becher- Hymne, die anfangs noch als deutsche Nationalhymne aufgefasst und die später die Nationalhymne der DDR wurde, drückten das damalige Lebensgefühl sehr präzise aus: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“. Das Grundgesetz Der Parlamentarische Rat beschloss am 8. Mai 1949 (sehr bewusst an diesem Datum) den Entwurf des Grundgesetzes, der nach Genehmigung durch die Militärgouverneure der britischen, französischen und amerikanischen Besatzungszonen und nach Zustimmung der Länderparlamente (nur Bayern lehnte den Entwurf ab) am 23. Mai 1949 in Kraft trat - zugleich das Gründungsdatum der (alten) BRD. Statt „Verfassung“ wurde bewusst der Titel „Grundgesetz“ gewählt, um das „Provisorium“ der damaligen Staatsgründung zu kennzeichnen. Mit der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wurde das Grundgesetz die Verfassung des gesamten deutschen Volkes (Kreft 2019, 228). 234 uj 5 | 2024 75 Jahre Grundgesetz Die Bedeutung des Grundgesetzes für die Soziale Arbeit „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art.-20- Abs.-1-GG). Darauf gründet sich die Linie Sozialstaat, Sozialpolitik (deren Aufgabe die Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips ist), das System der Sozialen Sicherung (die Bereiche Versicherung, Versorgung und Fürsorge umfassend) und Soziale Arbeit (zu der nach Art.-74-Abs.-1-Nr.-7-GG die Bereiche der „öffentlichen Fürsorge“ gehören). In den Büchern des Sozialgesetzbuches sind heute die wesentlichen Bereiche dessen geregelt, was dem Sozialrecht zugeordnet ist. Das Grundgesetz und das über es wachende Bundesverfassungsgericht haben diese eindrucksvolle Entwicklung gestützt und gefördert. Das Grundgesetz ist seit 1949 vielfach und z. T. auch grundlegend geändert worden (mehr als 60 Änderungsgesetze, die sich auf mehr als 200 Artikel ausgewirkt haben, etwa die Einführung der Bundeswehr, die Notstandsgesetzgebung, der Umweltschutz, das Asyl- und Widerstandsrecht, die Föderalismusrefom mit der Schuldenbremse oder die Aussetzung der Wehrpflicht). Unsere Verfassung ist also nicht starr, sie kann durchaus verändert werden. Allerdings nur in den engen Grenzen des Art.-79- Abs.-2-GG: Um einseitige („kompromisslose“) Änderungen zu vermeiden, ist für Änderungen des Grundgesetzes die Zustimmung von jeweils zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates erforderlich. Von jeder Änderung ausgenommen ist jedoch Art.-79-Abs.-3-GG: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Diese sogenannte Ewigkeitsformel ist eine der zentralen Konsequenzen des Parlamentarischen Rates aus den Erfahrungen der Zeit der Nationalsozialisten. Die aktuellen Bedrohungen Dieses fast wie eine demokratische Idylle anmutende Bollwerk unserer rechtsstaatlichen sozialen Demokratie ist inzwischen gefährdet. Die Bundesregierung, die nach den letzten Bundestagswahlen 2021 gewählt wurde, eine Koalition aus drei sehr unterschiedlichen Parteien („Ampelkoalition“), die deshalb von Anfang an als „labil“ galt, hat inzwischen dramatisch an Zustimmung verloren. Gleichzeitig werden für die Wahlen des Jahres 2024 (Europawahl am 9. 6., die Landtage in Sachsen und Thüringen am 1. 9. sowie Brandenburg am 22. 9.) erhebliche (fast dramatische) Zuwächse der Partei Alternative für Deutschland (AfD) prognostiziert, sie werde danach in diesen drei Bundesländern stärkste Partei (immer über 30 %). Eine Partei, die der Bundesverfassungsschutz als rechtsextremen Verdachtsfall eingestuft hat, die von den Verfassungsschutzämtern in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen als „gesichert extremistisch“ gekennzeichnet wird und deren wichtigster Mann, Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, gerichtsfest als „Faschist“ bezeichnet werden darf. Zu dieser Entwicklung haben vor allem die mannigfaltigen Krisen beigetragen, mit denen sich die gegenwärtige Regierung konfrontiert sieht: die Folgen der Umwelt- und der Corona- Krise, des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, infolgedessen die Energiekrise und die Inflation, aber auch die fortdauernd hohen Flüchtlingszahlen, die noch einmal gestiegen sind, und zuletzt das von vielen durchaus kritisch betrachtete Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15. 11. 2023 zur Schuldenbremse, das die Bundesregierung in ihren Handlungsmöglichkeiten bis zur Lähmung begrenzte (eigene Handlungsfehler kamen bzw. kommen noch hinzu). Dass ein so kompetenter und besonnener Mann wie der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier, dazu aufruft, das Bundesverfassungsgericht im Grund- 235 uj 5 | 2024 75 Jahre Grundgesetz gesetz wie die vier anderen Organe des Bundes im Grundgesetz abzusichern (bisher ist das Regelwerk für das Bundesverfassungsgericht lediglich im Bundesverfassungsgerichtsgesetz, einem sog. einfachen Gesetz, zu finden), lässt den Bedrohungsgrad erkennen. Bislang ist das Grundgesetz die beste Verfassung, die wir in Deutschland hatten, immer noch ein Garant dafür, dass der demokratische und soziale Rechtsstaat (und geschützt durch das Bundesverfassungsgericht) nicht geschleift werden kann. Auch Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung hat in der Kolumne „Demokratische Mobilmachung“ vom Dezember 2023 dazu aufgerufen, gegen diese Veränderungen aufzustehen. Aktuell wehrt sich die Zivilgesellschaft in vielen ost- und westdeutschen Orten mit eindrucksvollen Demonstrationen (Stand: Ende März 2024). Aber erst nach den Wahlen des Jahres 2024 werden wir wissen, wie stark die soziale Demokratie wirklich in unserem Lande ist. Ich gehe weiterhin davon aus, dass die Verfassungspatrioten eine deutliche Mehrheit erreichen werden. Prof. h. c. Dieter Kreft E-Mail: Kremie.nuernberg@t-online.de Literatur Kreft, D. (2019): Zwischenruf: 23. Mai 2019 - 70 Jahre Grundgesetz. Unsere Jugend 71, 227 - 230 Prantl, H. (2023, 28. Dezember): Demokratische Mobilmachung. Süddeutsche Zeitung. https: / / www.sued deutsche.de/ meinung/ grundgesetz-demokratieafd-wahlen-deutschland-kolumne-prantl-1.6325501? reduced=true, 6. 2. 2024