eJournals unsere jugend 76/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2024
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Inklusion jetzt! Vier Jahre Umsetzung der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe

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Daniel Kieslinger
Wie kann Inklusion trotz der aktuell noch bestehenden Hürden und Hindernisse in der Kinder- und Jugendhilfe umgesetzt werden? Das vierjährige Modellprojekt „Inklusion jetzt!“ widmete sich dieser Frage. Die Projektergebnisse zeigen: Inklusion ist möglich, auch jetzt schon. Der Artikel zeigt die Projektergebnisse auf, die in Kieslinger et al. 2024 ausführlich dargestellt sind. Die wesentliche Botschaft ist: Machen Sie sich auf den Weg! Es lohnt sich für die jungen Menschen und deren Familien.
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242 unsere jugend, 76. Jg., S. 242 - 252 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art33d © Ernst Reinhardt Verlag Inklusion jetzt! Vier Jahre Umsetzung der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe Wie kann Inklusion trotz der aktuell noch bestehenden Hürden und Hindernisse in der Kinder- und Jugendhilfe umgesetzt werden? Das vierjährige Modellprojekt „Inklusion jetzt! “ widmete sich dieser Frage. Die Projektergebnisse zeigen: Inklusion ist möglich, auch jetzt schon. Der Artikel zeigt die Projektergebnisse auf, die in Kieslinger et al. 2024 ausführlich dargestellt sind. Die wesentliche Botschaft ist: Machen Sie sich auf den Weg! Es lohnt sich für die jungen Menschen und deren Familien. von Daniel Kieslinger stellvertretender Geschäftsführer des Bundesverbandes Caritas Kinder- und Jugendhilfe (BVkE), von 2020 bis 2024 Leitung des Modellprojektes „Inklusion jetzt! “ Das Modellprojekt im Kontext gesetzlicher Novellierungen Die Diskussion darüber, wie Inklusion als richtungsweisendes Paradigma in den Hilfen zur Erziehung und der gesamten Kinder- und Jugendhilfe implementiert und konkretisiert werden kann, ist eine relativ junge Debatte, die seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland im Jahr 2009 eine dynamische Entwicklung erlebt hat (vgl. Hopmann 2019). Triebfedern dieser fachlichen und politischen Entwicklungen waren einerseits der Beteiligungsprozess „Mitreden - Mitgestalten“, der schließlich zur Verabschiedung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) am 21. Juni 2021 führte, und andererseits der darauffolgende Bundesprozess „Gemeinsam zum Ziel - Wir gestalten die inklusive Kinder- und Jugendhilfe! “. Dieser fand am 19. Dezember 2023 mit dem eindeutigen Bekenntnis von Ministerin Lisa Paus zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe vorläufig seinen Abschluss. 1 Nun steht ein Gesetzgebungsverfahren an, welches die Rahmenbedingungen für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe festlegen und potenziell richtungsweisende Änderungen in der Gesamtlandschaft der Leistungserbringung für junge Menschen und deren Familien zur Folge haben wird. Noch vor dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes und der damit verbundenen ersten Konkretisierung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe haben die beiden Fachverbände für Erziehungshilfe, der Bundesverband Caritas Kinder- und Jugendhilfe (BVkE) und der Evangelische Erziehungsverband (EREV) einen Modellprozess gestartet. Dieser hatte zum Ziel, die Praxis inklusiver Leistungserbrin- 1 https: / / www.bmfsfj.de/ bmfsfj/ aktuelles/ alle-meldungen/ kinder-und-jugendhilfe-inklusiv-gestalten-234904, 20. 3. 2024 243 uj 6 | 2024 Inklusion jetzt! gung zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren. Das Modellprojekt „Inklusion jetzt! - Entwicklung von Konzepten für die Praxis“ war vor allem darauf ausgerichtet, gemeinsam mit freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe konzeptionell, organisational und strategisch Ansätze für eine gelingende Umsetzung einer inklusiven Leistungserbringung zu entwickeln. Diese sollten eine Kinder- und Jugendhilfe fördern, die alle jungen Menschen, ihre Familien und Angehörige dabei unterstützt, ihre ihnen zustehenden Rechte auf selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gemäß § 1 SGB VIII wahrzunehmen. Mit Unterstützung der Aktion Mensch Stiftung widmete sich das Projekt der Frage, welche Bedeutung Inklusion für die Hilfen zur Erziehung hat. Der Start im April 2020 mit 61 Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe zeigte schnell, dass die Umsetzung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe nicht auf die Zusammenführung von Leistungen für junge Menschen mit und ohne Behinderungen, die sogenannte „Große Lösung“, beschränkt werden kann. Bereits zu Beginn des Modellprozesses wurde deutlich, dass es zur Gestaltung der inklusiven Leistungserbringung in der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur einen richtigen Weg gibt. Jede Modellorganisation machte sich, abhängig von den spezifischen Rahmenbedingungen auf Einrichtungs-, Kommunal- und Landesebene, auf einen individuellen Weg zur inklusiven Weiterentwicklung der Organisation. Daher hatte das Projekt auch zum Ziel, nicht ein einziges, allgemeingültiges Konzept für die inklusive Leistungserbringung zu entwickeln, sondern den Paradigmenwechsel hin zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe von Grund auf und systematisch zu entwickeln: Dabei sollten nicht mehr die institutionellen Logiken im Mittelpunkt stehen, sondern der individuelle Unterstützungsbedarf der AdressatInnen. Das Modellprojekt bearbeitete dabei unterschiedliche Ebenen und legte unterschiedliche Schwerpunkte. Zunächst erfolgte die thematische Schwerpunktsetzung, um die unterschiedlichen Umsetzungsdimensionen in einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe auszuleuchten. Außerdem wurden durch die wissenschaftliche Begleitung mehrere Befragungen sowie eine Modellstandortanalyse durchgeführt. Im Folgenden werden daher zunächst die inhaltlichen Grundlagen und Diskussionen dargestellt, um anschließend auf die Ergebnisse der unterschiedlichen Befragungen einzugehen. Konsentierter Inklusionsbegriff als Basis für die gelingende Umsetzung „Inklusion in Kindheit und Jugend bedeutet die Verwirklichung des Rechtes auf eine diskriminierungsfreie Teilhabe aller jungen Menschen in unserer Gesellschaft und die Ermöglichung einer selbstbestimmten Teilnahme in allen Lebensbereichen.“ (UN-BRK) Durch das KJSG wurde eine Neuausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe beschlossen und somit durch die gesetzliche Verankerung ein wegweisender Schritt in Richtung inklusiver Kinder- und Jugendhilfe gegangen. Für junge Menschen wird die Kinder- und Jugendhilfe dabei zu einem Instrument, welches die Bedingung der Möglichkeit zur Teilhabe am Leben der Gesellschaft ermöglichen kann und das gesamte Familiensystem im Blick hat. Dieser Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendhilfe wirft eine Vielzahl von Fragen, Handlungsbedarfen und Problemanzeigen auf. Dies betrifft nicht nur die jungen Menschen und ihre Familien, sondern auch die Strukturen und die darin tätigen Führungs- und Fachkräfte. Es eröffnet Möglichkeiten, aber gleichzeitig entstehen Fragen und Unsicherheiten darüber, wie in Zukunft ihre Rechte verwirklicht werden können und wie diese formuliert werden sollen. So leitet sich daraus der gemeinsame Gestaltungsauftrag für alle AkteurInnen der Kinder-, Jugend- und Eingliederungshilfe sowie allen 244 uj 6 | 2024 Inklusion jetzt! damit befassten Arbeitsbereichen, die inklusive Öffnung der Kinder- und Jugendhilfe möglichst transparent und nachvollziehbar für die jungen Menschen und ihre Familien zu gestalten als auch die Verwirklichung der Rechte der jungen Menschen in den Mittelpunkt zu rücken. Im Kontext des Projektes wurde der Begriff der Inklusion dabei als sehr weit definiert, der damit allerdings keineswegs beliebig wird. Inklusion stellt zunächst die aktuelle Versäulung des Sozialleistungssystems infrage, in welchem junge Menschen mit und ohne behinderungsbedingten Bedarf institutionell getrennt werden und somit auch fachlich unterschiedlichen Praktiken begegnen. Dies hat in der Praxis mitunter zur Folge, dass Recht, Belange und Interessen je nach System unterschiedlich beantwortet werden. Diese systemisch-organisationaleTrennung widerspricht den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention und wirkt diskriminierend für die jungen Menschen und deren Familien, denen dadurch die volle Teilhabe am Leben der Gesellschaft verwehrt bleibt. Damit verbunden ist jedoch nicht nur der Anspruch einer ineinandergreifenden sozialen Dienstleistungslandschaft, sondern insgesamt ein Anspruch an gesellschaftliche Strukturen und Systeme, jegliche Form von Ausgrenzung oder Diskriminierung junger Menschen zu beseitigen. Die zu treffenden Maßnahmen sind dabei nicht nur auf institutionelle Leistungserbringung beschränkt, sondern erfordern die gemeinsame Anstrengung aller beteiligten ProtagonistInnen und gesellschaftlicher AkteurInnen. Der stetige Diskurs über die mit dem inklusiven Paradigma einhergehenden Forderungen und dem steten Hinterfragen, wie Barrieren abgebaut werden können, ist somit ein notwendig zu verstetigender Bestandteil inklusiver Infrastrukturentwicklung in Bund, Ländern und Kommunen unter Beteiligung aller Verantwortlichen und AdressatInnen sozialer Dienstleistungen. Das Grundmovens des Modellprozesses ist es daher, diesen Prozess fachlich fundiert anzustoßen und auch über die Projektlaufzeit hinaus wirkungsvoll mitzugestalten. Um sich auf einen gemeinsamen Inklusionsbegriff verständigen zu können, wurden im Modellprojekt zunächst theoretische und fachliche Perspektiven auf Inklusion und deren Verwirklichung zusammengeführt. Mit völkerrechtlicher Brille konstatiert Rohrmann (2020): „Im Kontext der Menschenrechte steht Inklusion nicht für einen neuen fachlichen Diskurs, die Vorgabe der Inklusion begründet vielmehr ein kritisches Korrektiv für institutionalisiertes, professionelles Handeln aus der Perspektive des Schutzes von Rechten der einbezogenen BürgerInnen bzw. AdressatInnen.“ Hinzuzufügen ist dem, dass Inklusion nicht nur den Aspekt des Schutzes inkludiert, sondern vor allem auch eine Schärfung des Bewusstseins hinsichtlich Zugangsbarrieren, welche in einem komplexen Geflecht institutioneller und gesellschaftlicher Machtasymmetrien entstehen. Um eine diskriminierungsfreie Teilhabe und barrierefreie Inanspruchnahme von Infrastruktur und Dienstleistungen zu ermöglichen, hinterfragt das inklusive Paradigma sozialpädagogisch-professionelle Handlungspraktiken. Dabei steht nicht die Logik der Struktur oder Organisation im Mittelpunkt, sondern die personenzentrierte Unterstützungspraxis und damit der junge Mensch und dessen Familie (vgl. Hollweg/ Kieslinger 2021; Meyer 2023). Kernbotschaft des Modellprojektes ist es daher, dass eine Öffnung von Leistungsangeboten der Kinder- und Jugendhilfe unbedingt zu fördern ist, die einige junge Menschen nicht mehr von vornherein in bestimmte Kategorien einordnet und damit ungleich behandelt. Im gleichen Zuge ist allerdings hervorzuheben, dass nicht jede Einrichtung jeden Bedarf in der gleichen Weise decken kann. Orientierungspunkt für eine gelingende Ermöglichung sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe für junge Menschen und deren Familien muss es daher sein, wie deren Wunsch- und Wahlrecht Genüge getan werden kann und wie exkludierende Praktiken hinterfragt sowie verändert werden können. 245 uj 6 | 2024 Inklusion jetzt! Daran ausgerichtet widmete sich das Modellprojekt unterschiedlichen Schwerpunkten, welche die wesentlichen Themen einer inklusiv orientierten Kinder- und Jugendhilfe aus Sicht der Hilfen zur Erziehung in den Blick nehmen. Die nachfolgenden Ausführungen rücken fachlich identifizierte Themen in den Fokus und reichern diese mit Forschungsergebnissen aus dem Modellprojekt an. Von Hilfeplanung bis zum inklusiv ausgerichteten Kinderschutz Zur Ermöglichung von Selbstbestimmung junger Menschen ist es grundlegend, dass die Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe inklusiv und beteiligungsorientiert gestaltet sind. Dabei steht für die individuellen Leistungsansprüche der Schlüsselprozess zur Gestaltung von entsprechenden Hilfen in der Kinder- und Jugendhilfe im Mittelpunkt: die Hilfeplanung. In diesem Kontext ist es zunächst wichtig zu betonen, dass durch die inklusive Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe zwei Bereiche zusammengeführt werden, die lange Zeit getrennt betrachtet wurden: einerseits die Verfahren der sogenannten Eingliederungshilfe und andererseits die Hilfeplanung, die seit über dreißig Jahren den konzeptionellen Kern des sozialpädagogischen Handelns in den Hilfen zur Erziehung bildet. Auch das KJSG zeigt hier bereits den Bedarf für Veränderungen auf. In der ersten Reformstufe wird die Hilfeplanung in den Fokus gerückt und definiert einen Rahmen für die ausführenden Fachkräfte, der vor allem eine inklusive Ausrichtung betont, die auf Haltung, Beteiligung und Kommunikation basiert. Auf diese Weise gibt der Gesetzgeber der sozialpädagogischen Praxis die Aufgabe, Prozessabläufe zu überdenken, barrierefrei zu gestalten und weiterzuentwickeln, was als zentrales Verfahren zur Entwicklung, Begründung und Vereinbarung von Hilfeleistungen betrachtet wird (Schrapper 2018, 130). Das KJSG ändert diesen entscheidenden Prozess programmatisch, indem es die Kinder- und Jugendhilfe dazu verpflichtet, eine teilhabeorientierte Leistung zu erbringen (siehe §1 SGB VIII). Dies bedeutet auch, dass die Hilfeplanung verstärkt darauf ausgerichtet werden muss, Selbstbestimmung und eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gemeinschaft zu fördern (siehe Hollweg/ Kieslinger 2021, 16). Dies wird konkret durch zwei Maßnahmen umgesetzt: Erstens wird das Hilfeplanverfahren enger mit den Planungsverfahren der Eingliederungshilfe verbunden, insbesondere der Teilhabeplanung gemäß §§19ff und 117ff SGB IX (Bochert et al. 2021, 67). Zweitens besteht seit 2021 die Verpflichtung, eine nahtlose Hilfeerbringung bei Zuständigkeitsübergängen sicherzustellen, insbesondere im Hinblick auf den Übergang zum SGB IX, der eine intensive Einbeziehung des Rehabilitationsträgers vorsieht (siehe § 36 b SGB VIII). Angesichts dieser Fokussierung auf eine entscheidende Schnittstelle für eine inklusive Leistungserbringung ist es wichtig, bis zur sozialrechtlichen Zusammenführung der entsprechenden Leistungen für junge Menschen unter dem Dach des SGB VIII Erfahrungen zu sammeln, wie eine interdisziplinäre, subjektzentrierte und effektive Zusammenarbeit realisiert werden kann. Die Gestaltung des Übergangs mit jungen Menschen wird auch in einer zukünftigen inklusiven Kinder- und Jugendhilfe eine entscheidende Rolle spielen, insbesondere wenn es darum geht, eine nahtlose Versorgung junger Menschen sicherzustellen, deren Teilhabebedarfe auch über das 27. Lebensjahr hinaus durch Leistungen der Eingliederungshilfe gedeckt werden müssen. Es ist jedoch von großer Bedeutung zu betonen, dass in einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe kein Automatismus existieren darf, der junge Menschen nach Vollendung des 18. Lebensjahres aus dem System der Kinder- und Jugendhilfe ausschließt. Gemäß § 41SGB VIII haben auch junge Menschen mit behinderungsbedingten Bedarfen das Recht auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (siehe Hollweg/ 246 uj 6 | 2024 Inklusion jetzt! Kieslinger 2021, 20). Daher ist es wichtig, im Bereich der Übergänge und der Hilfeplanung Konzepte zu entwickeln, die nicht einseitig den Übergang von der Kinder- und Jugendhilfe in die Eingliederungshilfe regeln. Es bedarf zunächst Verfahren, die jungen Menschen mit behinderungsbedingten Bedarfen den Zugang zur Kinder- und Jugendhilfe auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres erleichtern. Darüber hinaus ist es wichtig, ein eigenes Leistungsspektrum für junge Erwachsene in der Kinder- und Jugendhilfe zu entwickeln. Durch die erste Stufe der SGB-VIII-Reform wurden zudem die Beteiligungsrechte von Eltern gestärkt. Eltern, deren Kinder in einer stationären Einrichtung untergebracht sind, erhalten dadurch einen subjektiven Rechtsanspruch auf Beratung, Unterstützung sowie Förderung ihrer Beziehung zum Kind (siehe § 37 Abs. 1 SGB VIII). Diese rechtliche Änderung erfordert von der Praxis eine konzeptionelle Reflexion und die Aufklärung über Wege zur Beteiligung von Eltern an Hilfeprozessen. Zudem ist es fachlich die Aufgabe aller Beteiligten sowie der sozialpolitisch involvierten AkteurInnen, das „Spannungsverhältnis zwischen dem auf Verständigung ausgerichteten Prozess der Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII und den Vorgaben des § 13 SGB IX“ (Rohrmann 2020, 58ff ) kritisch zu betrachten. Das Ziel dieser fachlichen Diskussion sollte darin bestehen, die „primär als Teil des Verwaltungsverfahrens mit einem Anspruch auf Objektivität betrachteten und behandelten“ (Schönecker 2019, 42) Verfahren zur Bedarfsermittlung und die partizipative sowie kommunikativ orientierte Bedarfsklärung und Hilfeplanung, die auf die Positionierung des jungen Menschen in familiären Beziehungen abzielt, miteinander zu verknüpfen. Auf diese Weise kann ein transparentes und nachvollziehbares Verfahren zur Planung von Hilfen und Teilhabe entstehen. Dabei gilt es, die Rechte der jungen Menschen und die strukturelle Machtasymmetrie zwischen Leistungserbringern und AdressatInnen zu erkennen, die sich in der Eingliederungshilfe sowie der Kinder- und Jugendhilfe unterscheiden (Schrapper 2018, 1033). Als entscheidender fachlicher Orientierungspunkt für die notwendigen Anpassungsbedarfe ist somit die Zusammenführung sozialpädagogischen Fallverstehens und rehabilitativer Bedarfsermittlung in einer inklusiven Hilfeplanung anzusehen. Sabine Adler erachtet darum Entwicklungsprozesse für die inklusive Hilfeplanung und „gemeinsame Orte für Diskurs und Entwicklung auf sozialpolitischer […] fachpolitischer und fachlicher Ebene“ als notwendig (Adler 2021, 248). Dies ist eine Grundbedingung, um gegenseitiges Verständnis für die gewachsenen professionsspezifischen Herangehensweisen zu entwickeln und eine so gestaltete Hilfeplanung zu kreieren, die allen jungen Menschen bedarfsgerechte Hilfen gewähren kann (vgl. ebd.). Das „Stärken und umsetzungsorientierte Konkretisieren fachlicher Standards: Partizipation, Dialog, Subjektorientierung, Sozialraumorientierung“ (ebd.) weist über den Prozess der Hilfeplanung hinaus und deutet die weiteren Planungs- und Gestaltungsbereiche an, in denen die inklusive Kinder- und Jugendhilfe Transformationsprozesse anstößt und notwendig macht. In diesem Zuge ist auch zu betonen, dass junge Menschen mit Exklusions- und Marginalisierungserfahrungen ein erhöhtes Risiko aufweisen, Gewalt in welcher Form auch immer zu erfahren (z. B. Bienstein et al. 2014). Insbesondere junge Menschen mit Behinderungen haben ein deutlich erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden (vgl. Eberhardt/ Naasner 2020). Die Auswirkungen solcher Gewalterfahrungen, seien sie nun körperlich, psychisch, sexualisiert oder durch Vernachlässigung verursacht, werden aus unterschiedlichen Gründen oft nicht erkannt und damit marginalisiert. Die gegenwärtige Diskussion in der Sozialpädagogik vernachlässigt weitgehend strukturelle Gewalt im Zusammenhang mit Behinderungen, wie beispielsweise freiheitsentziehende Maßnahmen. Der Gesetzgeber hat in beiden Gesetzen, dem SGB IX und dem SGB VIII, Maß- 247 uj 6 | 2024 Inklusion jetzt! nahmen ergriffen, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Das Teilhabestärkungsgesetz (§ 37 a SGB IX) und das KJSG (§ 45 Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII) verpflichtet Träger und Jugendämter, Schutzkonzepte zu entwickeln und umzusetzen, die die spezifischen Bedürfnisse der jeweiligen Leistungsbereiche berücksichtigen. Darüber hinaus sensibilisiert der § 8a Abs. 4 SGB VIII erfahrene Fachkräfte für die individuellen Schutzbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Diese Weiterentwicklungen sind sowohl fachlich als auch rechtlich unerlässlich. Neben den wesentlichen Anpassungen im Bereich des inklusiven Kinderschutzes gibt es auch ergänzende Änderungen, wie beispielsweise in § 4 Abs. 4 KKG (Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger) oder § 37 b SGB VIII (Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Familienpflege). Die Weiterentwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe steht jedoch erst am Anfang und es bedarf weiterer Schritte, um den Kinderschutz angemessen umzusetzen. Dies beinhaltet beispielsweise eine angemessene Schulung von Fachkräften, um den Schutzbedürfnissen von jungen Menschen mit Behinderungen gerecht zu werden. Es kann auch erforderlich sein, nicht nur die Einrichtungen selbst, sondern auch kooperierende Dienste in den Blick zu nehmen und Kooperationsvereinbarungen im Bereich des Kinderschutzes zu treffen. Darüber hinaus lassen sich weitere Anpassungsbedarfe in einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe sowohl auf individueller als auch auf einrichtungsbezogener Ebene identifizieren. Im Hinblick auf den Sozialraum können inklusive Schutzprozesse als eine infrastrukturelle Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe betrachtet werden, die mit der Förderung der Selbstvertretungen (§ 4 SGB VIII) und der Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe (§ 79 SGB VIII) verknüpft werden können. Dies unterstreicht den partizipativen Charakter eines umfassenden Inklusionsverständnisses und weist auf weitere Dimensionen hin, die notwendige Anpassungsprozesse in einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe erfordern. Hilfeplanung und Kinderschutz sind nur zwei von insgesamt sieben fokussierten Themen des Modellprojektes. Angereichert wurden diese durch Studien qualitativer wie quantitativer Art, welche das Gesamt des Umsetzungsprozesses in den Blick nehmen. InkluJu - Inklusion und Beteiligung in stationären Einrichtungen 2 In einer qualitativen Studie wurden im Rahmen einer SelbstvertreterInnentagung insgesamt elf junge Menschen befragt. Diese lebten zum Zeitpunkt der Befragung sowohl in Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe als auch der Eingliederungshilfe. Durch die geringe Teilnehmendenzahl kann daher kein repräsentativer Anspruch erhoben werden. Owsianowski (2024) stellt jedoch fest, dass „die Aussagen und Sichtweisen der anwesenden Teilnehmenden durchaus als relevant und repräsentativ betrachtet werden [können], denn sie verstehen sich als SprecherInnen für alle Kinder und Jugendlichen.“ Darauf lässt insbesondere schließen, dass sie Inklusion nicht nur auf die Kategorie der Behinderung reduzieren, sondern alle Exklusionsdimensionen miteinbezogen wurden (vgl. Owsianowski 2024, 109 -130). Ebenso kann der immer wieder deutlich zum Ausdruck gebrachte Wunsch und das Beharren auf das Recht auf Mitbestimmung dahingehend gedeutet werden, dass auch für die jungen Menschen Inklusion mehr ist als nur die Zusammenführung zweier Leistungsbereiche. 2 Die Befragung wurde maßgeblich von Judith Owsianowski und Katharina Metzner durchgeführt, welchen an dieser Stelle mein Dank gilt. Die gesamte Analyse der qualitativen Studie findet sich bei Owsianowski (2024, 109 -130). 248 uj 6 | 2024 Inklusion jetzt! Im Gesamtprojekt wurden an unterschiedlichen Stellen junge Menschen mit in die fachlichen Debatten einbezogen. Dabei wurde dieser Befund immer wieder unterstrichen: Junge Menschen wünschen sich mehr Möglichkeiten der aktiven Mitbestimmung in unterschiedlichen Kontexten und den sie betreffenden Belangen. Für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe und insbesondere eine inklusive Gesellschaft sehen es die jungen Menschen als unabdingbar an, alle mit in die Debatten einzubeziehen, die von den Weiterentwicklungen betroffen sein werden. Dabei ist hervorzuheben, dass die jungen Menschen „sich dabei reflektiert und selbstkritisch […] [und] in den Diskussionen zum Perspektivwechsel bereit und scheinbar auch geübt [zeigen]“ (Owsianowski 2024, 128). Auch der Beteiligungsprozess „Gemeinsam zum Ziel“ hat diese Projekterkenntnisse unterstrichen und durch die Mitbeteiligung von jungen Menschen erheblich an Qualität gewonnen. Die Einbeziehung von jungen Menschen und AdressatInnen sollte aus Sicht des Projektes für alle Prozesse in der Kinder- und Jugendhilfe zur Selbstverständlichkeit werden. InkluBE - Inklusionserfahrungen, -wünsche und Bedarfe von Eltern in Einrichtungen der Kinder-, Jugend- und Eingliederungshilfe Neben den jungen Menschen wurden auch Eltern im Rahmen des Modellprojektes befragt. Die ausführliche Analyse des bereinigten Datensatzes von 70 Fragebögen findet sich im Datenhandbuch von InkluBE (Metzner et al. 2023). Dieser Abschnitt stellt eine Zusammenfassung der Ergebnisse dar. Insgesamt wurden 138 Personen durch die Befragung erreicht, die keineswegs Anspruch auf repräsentative Aussagen erhebt. Bedenkt man, dass Eltern von jungen Menschen in Fremdunterbringung in der Regel eine schwierig zu erreichende Zielgruppe darstellen, muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Ergebnisse immer als Situationsbeschreibung der gut zu erreichenden Eltern interpretiert werden müssen. Zusammenfassend lässt sich bei den Befragten feststellen, dass sich die Eltern in der Mehrheit zufrieden mit der Hilfe, dem Angebot und der Zusammenarbeit mit dem Einrichtungsträger zeigen. Vor dem Hintergrund der skizzierten Ausgangskonstellation sind allerdings besonders die kritischen Antworten interessant. Die kritischen Aussagen beziehen sich vor allem auf die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. So stimmen bspw. nur 42 Personen (bzw. 63 %) der Aussage „Das Jugendamt ist ein verlässlicher Ansprechpartner“ eher zu und auch in den Freitextfeldern wird die Erreichbarkeit des Jugendamtes sowie die Kontinuität der Ansprechpersonen als verbesserungswürdig angesehen. Hinweise für ein Umsetzungsdefizit des KJSG finden sich beispielsweise unter anderem bei der Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen aus § 37 SGB VIII „Beratung und Unterstützung der Eltern“ und § 5 SGB VIII „Wunsch- und Wahlrecht“. Eine effektive Bewältigung dieser anspruchsvollen Aufgabe erfordert eine Zusammenarbeit zwischen allen Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe. Obwohl der öffentliche Träger gemäß §79 SGB VIII die Gesamtverantwortung für die Erfüllung der Aufgaben hat, ist eine angemessene Umsetzung ohne die Kooperation mit den freien Trägern kaum möglich. Des Weiteren zeigt die Befragung, dass „Selbstorganisierte Zusammenschlüsse zur Selbstvertretung“ gemäß § 4 a SGB VIII in den Einrichtungen weiter gefördert werden sollten, da diese Beteiligungsformate den Eltern weitgehend unbekannt sind. Es bedarf auch eines transparenten Verständnisses von Inklusion innerhalb der Träger, da Eltern derzeit wenig Verbindung zu diesen Institutionen sehen. Die Unterstützung 249 uj 6 | 2024 Inklusion jetzt! und Förderung von Selbstvertretungen ist ein gesetzlicher Anspruch, der von den Befragten konkret gefordert wird. Es wird deutlich, dass gezielte Organisations- und Personalentwicklungsmaßnahmen erforderlich sind, um die inklusive Erziehungshilfe effektiv umzusetzen. Die Wahrnehmung von Inklusion in den Einrichtungen wird von den Eltern positiv bewertet, aber dennoch als sehr unterschiedlich empfunden. Es wird betont, dass Fachkräfte Fort- und Zusatzausbildungen benötigen und eine bestimmte persönliche Einstellung, die in den Freitextfeldern als „Bewusstsein, Haltung und Zeit haben bzw. sich Zeit nehmen“ beschrieben wird. InkluMa - Inklusion durch Mitarbeitende Diese Ergebnisse korrespondieren auch mit der Mitarbeitendenumfrage InkluMA aus dem Jahr 2021 (Hollweg/ Kieslinger 2021). Die Ergebnisse unter rund 1.200 Mitarbeitenden aus Kinder-, Jugend- und Eingliederungshilfe legen nahe, dass die aktuellen Herausforderungen, die mit Inklusion verbunden werden, analog zu der breiten fachlichen Diskussion um Inklusion verlaufen und sich insbesondere auf die Arbeit mit jungen Menschen mit Behinderung und deren Familien beziehen. Die Mitarbeitenden entwickeln dabei ein sehr differenziertes Bild der Herausforderungen und gehen dabei aufgeschlossen auf eine inklusive Entwicklung zu, weisen aber auch auf Fortbildungsbedarfe hin und sehen gerade in den Feldern fachliche Lücken, die sie mit pflegerischen Aufgaben verbinden oder die sie im Bereich der Sonder- und oder Heilpädagogik verorten. Ergänzend zu den Daten der Elternbefragung ergibt sich damit ein klares Bild, welche Kompetenzen in einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe von Mitarbeitenden abverlangt werden. In diesem Zusammenhang können darum auch die Erweiterungsnotwendigkeiten der multiprofessionellen Teams gesehen werden, die insbesondere auch hinsichtlich eines zunehmenden Fachkräfteengpasses in der Diskussion immer präsenter werden. Zusätzlich zu der Ansicht der Befragten, dass insbesondere mehr SonderpädagogInnen als anerkannte Fachkräfte in der Jugendhilfe tätig sein sollten, scheint sich die Verantwortung für eine inklusive Leistungserbringung zu verschieben. Diese wird größtenteils bei den „ExpertInnen“ für Menschen mit Behinderungen verortet und weniger in den eigenen Tätigkeiten gesehen. Es ist jedoch wichtig, dass die Zusammenarbeit mit verschiedenen Berufsgruppen nicht dazu führt, dass Inklusion als „ausgelagert“ betrachtet wird und der eigene pädagogische Blick auf die AdressatInnen als unzureichend angesehen wird. Stattdessen geht es darum, den eigenen pädagogischen Blickwinkel zu erweitern, um zu reflektieren, wie eine diskriminierungsfreie Teilhabe aller jungen Menschen erreicht werden kann. Es wird generell angemerkt, dass Verfahren wie die Hilfeplanung oder grundlegende Aufgaben wie die Elternarbeit und pflegerische Aspekte bislang zu wenig inklusiv entwickelt wurden. Es ist daher erforderlich, diese Verfahren und Aufgaben systematisch und methodisch nachvollziehbar in Beziehung zu setzen, um das „selbstbestimmte Interagieren“ von jungen Menschen in der sozialen Teilhabe zu ermöglichen. Dies wird spätestens mit der Neuformulierung des § 1 des SGB VIII im KJSG als notwendig erachtet. Insgesamt betonen die Befragten den Wunsch, sich intensiv am Prozess der Entwicklung inklusiver Einrichtungsstrukturen zu beteiligen. Es besteht ein hoher Bedarf an einer konzeptionellen Verortung und transparenten fachlichen Perspektiven der Einrichtungen, die gemeinsam mit den Mitarbeitenden erarbeitet werden sollten. Dies birgt das Potenzial, sowohl die vorhandenen Mitarbeitenden für inklusive Erziehungshilfen weiterzubilden als auch neue Berufsgruppen einzubeziehen. Eine Beteiligung der Mitarbeitenden an diesen Prozessen ver- 250 uj 6 | 2024 Inklusion jetzt! spricht einen positiven Effekt, da der Großteil der Befragten Interesse daran zeigt, an organisationalen Prozessen teilzuhaben. Best Practice - Vielfalt an Modellen unter der Lupe 3 Im Modellprojekt wurden in 61 Modelleinrichtungen unterschiedlichste Wege beschritten, um Inklusion bereits in dem jetzt geltenden gesetzlichen Rahmen umzusetzen und notwendige Änderungsbedarfe konzeptioneller, strategischer und organisationaler Art abzuleiten. Herzstück der Reflexion dieses Prozesses bildete die Analyse von sieben Modellstandorten durch die wissenschaftliche Begleitung der Universität Hildesheim. Diese erfolgte in einem Dreischritt: Zuerst wurde eine Bestandserhebung und eine Analyse der Inklusionsleistung durchgeführt, anschließend eine Bedarfsermittlung hinsichtlich zukünftiger Aufgaben erarbeitet und daraus Empfehlungen für Maßnahmen abgeleitet. Wesentlich wurde dabei auf die gegangenen Wege hin zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe geschaut, indem die Konzeptentwicklung, die Chancen für alle Beteiligten und zu überwindende Hürden reflektiert wurden. Bei der Auswahl der analysierten Modellstandorte wurde versucht, ein möglichst breites Spektrum abzudecken. So wurde neben einer inklusivsozialpädagogischen Kinderwohngruppe, mehrerer inklusiver Wohngruppen und einer inklusiv-therapeutischen Wohngruppe auch noch ein in Planung befindliches Angebot in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Deutlich hervorzuheben ist dabei, dass inklusive Leistungsangebote aktuell möglich sind. Beispiele dafür sind Angebote sowohl der Kinder- und Jugendhilfe als auch der Eingliederungshilfen. Dies wurde bei drei der untersuchten Träger beispielsweise dadurch bewerkstelligt, dass „höhere Hilfebedarfsgruppen“ über Module oder Zusatzleistungen in den Leistungsvereinbarungen benannt wurden, die bei Bedarf durch den Kostenträger für die AdressatInnen in Anspruch genommen werden können. Ein Angebot versteht sich dabei als ein Angebot der Kinder- und Jugendhilfe, welches für die Eingliederungshilfe geöffnet ist. Diese Eingliederungshilfeleistungen werden als ambulante Leistungen bei Bedarf erbracht und ermöglichen den jungen Menschen somit einen Verbleib in der Jugendhilfeeinrichtung, auch wenn im Hilfeverlauf ein Eingliederungshilfebedarf festgestellt wird. Ein weiteres Angebot wurde im Gegensatz dazu von vornherein als Komplexangebot entwickelt, welches den Anspruch hat, junge Menschen mit und ohne Behinderungen in einer Wohngruppe zu betreuen. Jedoch ist auch hier einschränkend zu betonen, dass es einer strikten Abgrenzung von SGB VIII und SGB IX bedurfte, um zu einer Leistungsvereinbarung zu gelangen. Diese wurde jedoch sowohl von Sozialals auch Jugendamt anerkannt. Die Leistungserbringung und damit auch die Vergütung orientiert sich an den Standards der Kinder- und Jugendhilfe, wobei ein Personalschlüssel von 1 zu 0,9 ein intensives und multiprofessionelles Betreuungssetting ermöglicht. Andere Angebote erreichen ihre Inklusionsleistung dadurch, dass Einzelvereinbarungen mit öffentlichen Trägern bestehen, Komplexangebote in Fördernetzwerken angeboten werden oder zusätzliche Fachleistungsstunden aktiviert werden können, sollte der Bedarf vorhanden sein. Mit dem kurzen Blick auf diese Heterogenität an Formen der inklusiven Leistungserbringung lässt sich festhalten, dass aktuell noch eindeutige Regelungen für eine Orientierung an den ganzheitlichen Bedarfen junger Menschen mit und ohne Behinderung fehlen. Dies bringt auf 3 Dieser Abschnitt fußt im Wesentlichen auf der Arbeit der wissenschaftlichen Begleitung durch die Universität Hildesheim in Person von Katharina Metzner (vgl. für den gesamten Abschnitt Metzner 2024, 183 - 232). 251 uj 6 | 2024 Inklusion jetzt! der einen Seite eine Unsicherheit in der Konzeption von inklusiven Konzepten mit sich, birgt jedoch auch andererseits die Chance, aktiv die Gestaltung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfelandschaft mitzugestalten. Im Moment hängt es noch sehr von den EntscheidungsträgerInnen vor Ort ab, wie eine inklusive Weiterentwicklung bewerkstelligt werden kann, welche Freiheiten und Möglichkeiten genutzt werden und wo Grenzen gezogen werden. Durch alle Modellstandorte hindurch zeigt sich als wesentlicher Faktor die Bereitschaft, in Verantwortungsgemeinschaften von öffentlichen und freien Trägern bereichsübergreifend zu handeln. Dazu sind mutige EntscheiderInnen vor Ort notwendig, welche die Verwirklichung des Anspruchs des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes aufnehmen und darüber hinaus orientiert an AdressatInnen bestehende exkludierende Strukturen hinterfragen. Diese Entscheidungen müssen, so zeigt das Projekt, zwar an verantwortlicher Stelle getroffen, jedoch unmittelbar in der Mitnahme der Fachkräfte und AdressatInnen umgesetzt werden. Am Beginn einer jeden Angebots- und Organisationsentwicklung stand immer die Auseinandersetzung mit der eigenen Einrichtungskultur. Dieser Prozess sollte einen Haltungswechsel initiieren, der als ein fortlaufender Prozess immer wieder die gesamten Handlungsmuster aller in der Organisation Tätigen hinterfragt. Zentral zum Gelingen inklusiver Leistungserbringung werden von den beteiligten Einrichtungen Vernetzung und Kooperation innerhalb der Einrichtung, aber auch innerhalb kommunaler Strukturen benannt. Auf Ebene der AG nach § 78 SGB VIII und die Möglichkeit, Inklusion als Qualitätsmerkmal nach § 79 a SGB VIII in Verhandlungen mit den öffentlichen Trägern einzubeziehen, eröffnen sich Möglichkeiten, um aktiv die inklusive Infrastrukturentwicklung voranzutreiben. Hinsichtlich der aktuell laufenden Debatte um die konkrete Ausgestaltung der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe hat das Modellprojekt eindeutig gezeigt, dass die Bedarfe von jungen Menschen aufgrund der zurzeit noch nebeneinander getrennt laufenden Systeme von Jugendhilfe und Eingliederungshilfe nicht ausreichend gedeckt werden können. Fazit - Inklusion jetzt! In Reflexion auf die Ergebnisse des Modellprojektes ist daher auf die Notwendigkeit der Verabschiedung einer echten inklusiven Reform der Kinder- und Jugendhilfe hinzuwirken, die eine bundesweite Weichenstellung für eine ganzheitliche Deckung von Bedarfen junger Menschen vorsieht. Dabei bedarf es der aktiven Einbeziehung und Mitbestimmung der AdressatInnen, die sowohl im Prozess als auch in der zukünftigen Leistungserbringung die Orientierung für eine gelingende „inklusive Lösung“ sein sollten. Bereits jetzt ist es möglich, innovative inklusive Projekte auf den Weg zu bringen, welche beispielsweise multiprofessionelle Teams zum Decken unterschiedlichster Bedarfe vorsehen. Dabei ist davon auszugehen, dass Investitionen benötigt werden. Dem steht auch der vieldiskutierte §108 SGB VIII nicht im Wege, der oft als Kostenvorbehalt kolportiert wird. Entscheidend wird es sein, wie bereits bestehenden Ansprüchen, die im Moment nicht gedeckt werden können, zukünftig in einer inklusiven Kinder und Jugendhilfe adäquat begegnet werden kann. Dafür bedarf es der Weiterentwicklung inklusiver Strukturen und Praxis, die nicht auf ein Gesetz warten muss, sondern bereits jetzt bei den bestehenden Strukturen anfangen kann. Dabei benötigt es soziale, wissenschaftliche und ökonomische Investitionen und eine umfassend vernetzte Ressourcenstruktur, die von Kompetenzrangeleien absieht und sich am jungen Menschen und deren Bedarfen orientiert. Die Beispiele gelingender Praxis, die Befragungen und Erfahrungen aus dem Modellprojekt 252 uj 6 | 2024 Inklusion jetzt! zeigen deutlich: Inklusion ist möglich und notwendig! Nicht um ihrer selbst willen, sondern in der Verpflichtung, Menschenrecht gesamtgesellschaftlich umzusetzen und damit zu einer resilienten und zukunftsfähigen Demokratie beizutragen. Literatur Adler, S. (2021): Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik - Welche Fragen, Perspektiven und Aufgaben zeigen sich auf dem Weg zu einer inklusiven Hilfeplanung? In: C. Hollweg, D. Kieslinger (Hrsg.): Hilfeplanung inklusiv gedacht. Ansätze, Perspektiven, Konzepte. Lambertus, Freiburg i. B., 226 - 251 Bienstein, P., Urbann, K., Scharmanski, S., Verlinden, K. 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