eJournals unsere jugend 76/10

unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2024
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Zwischen den elterlichen Fronten

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2024
Mahmut Koyun
Kinder und Jugendliche mit Flucht- oder Migrationsgeschichte leben häufig auch in Deutschland weiter in traditionell-patriarchalisch orientierten Familiensystemen, werden unter Vermittlung herkömmlicher kultureller, religiöser und sozialer Werte und Normen streng erzogen. Kommt es in der neuen Heimat zu Trennungen und Scheidungen, leiden sie unter den Folgen, besonders unter der Parteinahme von Elternteilen und Verwandten. Dr. Mahmut Koyun, Erziehungswissenschaftler und sozialpädagogischer Unternehmer in Bielefeld, beleuchtet die Problemlagen am Beispiel der in Deutschland lebenden kurdisch-yezidischen Gemeinschaft.
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426 unsere jugend, 76. Jg., S. 426 - 430 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art55d © Ernst Reinhardt Verlag Zwischen den elterlichen Fronten Trennungskinder im Spannungsfeld eines patriarchalischen Familiensystems Kinder und Jugendliche mit Flucht- oder Migrationsgeschichte leben häufig auch in Deutschland weiter in traditionell-patriarchalisch orientierten Familiensystemen, werden unter Vermittlung herkömmlicher kultureller, religiöser und sozialer Werte und Normen streng erzogen. Kommt es in der neuen Heimat zu Trennungen und Scheidungen, leiden sie unter den Folgen, besonders unter der Parteinahme von Elternteilen und Verwandten. Dr. Mahmut Koyun, Erziehungswissenschaftler und sozialpädagogischer Unternehmer in Bielefeld, beleuchtet die Problemlagen am Beispiel der in Deutschland lebenden kurdisch-yezidischen Gemeinschaft. von Dr. Mahmut Koyun Jg. 1973; Dipl.-Sozialpädagoge, 1986 aus dem kurdischen Dorf Kiwex im Südosten der Türkei nach Deutschland geflüchtet, lebt und arbeitet in Bielefeld, gründete 2009 das Unternehmen IntegraPlus - Ambulante Familiendienste zur Förderung von Heranwachsenden in Bielefeld und OWL im Auftrag der Jugendämter In Zusammenarbeit mit Martina Bauer, freie Journalistin Traditionell-orientierte Familien mit kulturellen Wurzeln beispielsweise in orientalischen arabischen Ländern sind oftmals hierarchisch geordnet: Der Familienvater ist zugleich auch das Familienoberhaupt. Zudem ist die Familie an eine Sippschaft angebunden und das Familiensystem einer hierarchischen Stammstruktur untergeordnet. In jeder Stammstruktur existiert ein Weisenrat, der bei familiären und sozialen Problemlagen eingeschaltet wird und interveniert. In Deutschland häufen sich aktuell die Trennungs- und Scheidungsfälle in der kurdischyezidischen Gemeinschaft, in der ebenfalls ein solches Familiensystem gelebt wird. Die familiären Konflikte, die oft zwischen der hier lebenden älteren und jüngeren Generation bestehen, nehmen zunehmend massive Formen an. Die kurdisch-yezidische Gesellschaft befindet sich in einem recht strapazierten Wandlungsprozess, der sich auf das Familienleben, die Erziehungspraxis und die soziale und emotionale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen deutlich negativ auswirkt. Eltern und ihre Kinder befinden sich miteinander in einem stetigen Spannungsverhältnis. Hier zeichnet sich eine Konfliktlinie zwischen der traditionellen und der modernen Lebensweltorientierung ab. Konservative Mittel und traditionelle Wertesysteme Die Eltern versuchen, ihre Kinder mit Härtemaßnahmen und konservativen Mitteln in traditionell-herkömmlichen Wertesystemen zu 427 uj 10 | 2024 Trennungskinder: Zwischen den elterlichen Fronten sozialisieren, während die jüngere Generation sich in ihrem Leben modern und individuell orientiert. Dieses konflikthafte Spannungsverhältnis führt zwischen vielen Eltern und Jugendlichen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, wobei die Gewalt oft von Männern gegenüber Frauen und Kindern ausgeübt wird. Infolge dieser Gewaltausübungen flüchten viele Jugendliche, besonders Mädchen und junge Frauen, in ein Heim oder in ein Frauenhaus. In den vergangenen Jahren sind die Probleme der Familien mit Migrationshintergrund in der Kinder- und Jugendhilfe besonders auffällig geworden. Die Zahl der Migrantinnen, die eine stationäre Hilfeform in Anspruch nehmen, ist signifikant gestiegen. Die Problematik „Trennung und Scheidung“ ist heute Teil des Berufsalltags von Pädagog: innen in der Jugendhilfe. Laut statistischen Daten ist die Anzahl der geschiedenen Ehen mit einem oder beiden Ehepartner: innen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen fünf Jahren fast gleichbleibend hoch (IT.NRW 2022; Anmerkung: Deutsche mit Migrationshintergrund werden nicht separat erfasst). Die Gesamtzahl der Scheidungsfälle in NRW bewegt sich in diesem Zeitraum bei jährlich über 30.000: von einem Höchststand im Jahr 2018 von 34.602 geschiedenen Ehen über 32.554 Fälle im Jahr 2020 bis hin zu 30.448 Fällen im Jahr 2022. Seit 2018 jährlich weit über 2.000 Scheidungen in NRW Darunter sind an geschiedenen Ehen mit einem oder beiden Ehepartner: innen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit gleichbleibend weit über 2.000 Fälle in NRW verzeichnet: von 2.205 Scheidungsfällen im Jahr 2018 über 2.211 Fälle im Jahr 2020 bis hin zu 2.268 Fällen im vergangenen Jahr. In Ostwestfalen-Lippe führt dabei unter letzterer Gruppe die Stadt Bielefeld die höchsten Scheidungszahlen auf: von 70 Fällen im Jahr 2018 (gesamt in Bielefeld: 618) über 62 Fälle im Jahr 2020 (654) bis zu 78 Fällen im Jahr 2022 (589), bei denen Mann oder Frau oder beide keinen deutschen Pass besaßen (IT.NRW 2022). Die pädagogische Aufarbeitung der familiären Konflikte in derartigen Fällen gehört heute zu den zentralen fachlichen Handlungseinsätzen von Pädagogikfachkräften in der Jugendhilfe. Konkret geht es darum, die Kommunikation zwischen Kindern und Eltern im Trennungsprozess sicherzustellen. Dies ist jedoch oft nicht möglich, was die Mitarbeiter: innen der Jugendämter vor große Herausforderungen stellt. Nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) mit seinen Regelungen zur Grundlage der Kinder- und Jugendhilfe haben die Eltern, aber auch die Kinder das Recht auf Umgang und Kontakt miteinander. Doch gerade dies lässt sich oft nicht ohne Weiteres organisieren und durchführen oder ist sogar gar nicht möglich. Eine der Hauptursachen, die Umgänge blockieren und verhindern, sind die soziokulturellen Strukturen und die archaisch-patriarchalischen Handlungsmuster in den betroffenen Familien. Bei Trennungsprozessen „gehören“ nach dem patriarchischen Verständnis und Weltbild die Kinder dem Mann, der massiv auf seinem Anspruch besteht. Wenn die Kinder stattdessen bei der Mutter leben, kämpft sie darum, den Verbleib bei ihr zu sichern. In solchen Fällen mischen sich auch die Familienverbände und -oberhäupter ein. Weil beide Seiten um die Kinder ringen, geraten sie miteinander in einen massiven Konflikt, der oft in Gewalt endet. Auf dem Rücken der Mädchen und Jungen wird zwischen den Familienverbänden ein regelrechter Krieg ausgetragen. Macht und gegenseitige Feindseligkeiten verhindern einen Dialogprozess zwischen den Familienmitgliedern und -verbänden. 428 uj 10 | 2024 Trennungskinder: Zwischen den elterlichen Fronten Aufgerieben im Streit zwischen zwei Familien Die Eheleute S., voneinander getrennt lebend und geschieden, bilden ein Beispiel. Ihr gemeinsames Kind lebt bei der Mutter, der Vater lebt außerhalb der Region. Regelmäßig gab es sogenannte begleitete Umgänge zwischen Vater und Sohn, als dieser im Kindergartenalter war, unter der Führung eines Umgangspflegers. Der Hintergrund: Gerichtlich wurde zum Wohle des Kindes ein muttersprachlicher Sozialarbeiter eingesetzt, um die Bindung und Beziehung zwischen Kind und Vater zu fördern. Wegen andauernder heftiger Streitigkeiten zwischen Kindesvater und der Familie seiner Ex-Frau waren trotz professioneller Vermittlung Kontakte zwischen Kind und Vater nicht möglich. Beide Familien der vormaligen Eheleute stammen aus dem Irak. Wegen der Scheidung befinden sie sich in einem heftigen Streit miteinander. Familienräte und Weisenrat haben vermittelt, aber die Konflikte konnten nicht beigelegt werden. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, den Ehrenkodex der Familie verletzt zu haben. Außerdem werfen sie sich gegenseitig vor, gegen die sozialen Regeln und religiöse Vorschriften verstoßen zu haben. In den Gesprächen mit dem Umgangspfleger haben beide Seiten immer wieder die Konflikte zwischen den Familien thematisiert und versucht, sich permanent die Schuld für die Trennung zuzuschieben. Anstatt sich auf die Kontakte und Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn zu konzentrieren, wurde fortwährend zornig gestritten. Junge Menschen ohne Entscheidungsfreiheit In vielen Trennungs- und Scheidungsfällen benutzen beide Seiten die Kinder als Instrument, das sie gegeneinander einsetzen. Die jungen Menschen geraten zwischen zwei Fronten und können bzw. dürfen nicht frei entscheiden, bei welchem Elternteil sie leben möchten. Auch bei Umgängen dürfen sie nicht frei entscheiden, ob sie Umgangskontakt mit dem anderen Elternteil haben möchten, sondern werden von den Familienangehörigen massiv manipuliert und unter einen so enormen Druck gesetzt, dass sie sich oft nicht trauen zu äußern, wie sehr sie sich auch Kontakte mit dem Elternteil wünschen, bei dem sie nicht leben. Da es Psycholog: innen bzw. Mitarbeiter: innen des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) an Wissen über die soziokulturellen Verhältnisse in Familien mit Migrationshintergrund und deren sozialer Struktur fehlt, können sie oft nicht tiefergehend eruieren, dass die Kinder in solchen Fällen meist die Sätze und Worte nachsprechen, in denen Familienmitglieder intensiv auf sie eingeredet haben. Aufgrund solcher Praktiken findet oft monate- oder sogar jahrelang kein Umgang zu dem Elternteil statt, bei dem die Kinder nicht leben. Verheerende psychische Folgen bei Kontaktabbruch Die psychischen Folgen für diesen Elternteil, aber auch für die Mädchen und Jungen sind verheerend. Für eine alleinerziehende Mutter ist die Situation besonders belastend, weil sie auf beiden Seiten - von ihrer eigenen Familie wie von der Schwiegerfamilie - von den Familienoberhäuptern unter Druck gesetzt wird. In manchen Fällen geht der Konflikt am Ende sogar so aus, dass die Frau und Kindesmutter die Kinder dem Vater überlässt, weil sie den Druck durch die große Familie nicht mehr aushält. Der Nachwuchs wird unmittelbar mit den Familienstreitigkeiten und Konfliktlagen konfrontiert. Die Elternteile verletzen mit ihrem zornigen Verhalten das Kindeswohl, weil sie sie in der Beziehung zu ihnen verunsichern und dadurch ihre sozial-emotionale Entwicklung massiv beeinträchtigen. 429 uj 10 | 2024 Trennungskinder: Zwischen den elterlichen Fronten Den ASD-Mitarbeiter: innen fällt es oft schwer, Menschen mit Migrationshintergrund mit ihren Maßnahmen und Angeboten zu erreichen. Die Gründe dafür sind ebenso vielfältig wie die Situation der Migrant: innen-Gruppen. Die Betreuungssituation und die Realisierung der pädagogischen Ziele der Hilfeplanung sind stark mit der psychosozialen Situation und anderen gruppenspezifischen Faktoren der Migrant: innen-Gesellschaft, wie zum Beispiel soziokulturellen Gegebenheiten, verwoben. Schwer erreichbare und verschlossene Gruppen Vor allem Klient: innen aus orientalischen, patriarchalisch-orientierten Gesellschaften gelten in der Jugendhilfe, speziell in den Hilfen zur Erziehung, als eine schwer erreichbare und verschlossene Gruppe. Die Probleme dieser Menschen stehen oft direkt mit den herkunftskulturellen Gegebenheiten, archaisch-patriarchalischen Lebensweltbildern und sozialen Lebensverhältnissen in Zusammenhang. Mit der Zunahme der Zuwanderung in die deutsche Gesellschaft wird die interkulturelle Kompetenz für den Umgang mit der kulturellen Vielfalt und den vielfältigen Lebenslagen der verschiedenen Migrant: innen-Gruppen in der Jugendhilfe immer wichtiger. Auch sprachliche und herkunftskulturelle Kompetenzen werden für die pädagogische Arbeit mit Migrant: innen immer relevanter. Im Bereich der ambulanten Hilfen zur Erziehung finden die ASD-Mitarbeiter: innen aufgrund von fehlendem Wissen über solche verschlossenen Familiensysteme und ihre kulturellen Hintergründe oftmals keinen Zugang zu den Betroffenen. Regelmäßige Kontakte dank eines Sozialarbeiters Unter den Zugewanderten wächst weiter die Zahl der aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland geflüchteten Familien. Ein Beispiel ist eine in OWL ansässige Familie, die aus Syrien stammt. Die Eltern leben als Flüchtlinge hier - inzwischen voneinander getrennt. Die drei Geschwister, zwei Kinder im Schulalter und eine Tochter mit Fachabitur, wohnen bei der Mutter, der Vater darf mit der Hilfe eines Sozialarbeiters Kontakt zu ihnen haben. Die Kontakte erfolgen regelmäßig außerhalb der Familie. Nur der jüngere Sohn möchte Kontakte mit seinem Papa haben, die anderen nicht. Nach der Auffassung des Vaters manipulieren die Familienmitglieder seiner Ex-Frau seine Kinder. Vater und Mutter und ihre jeweiligen Familien befinden sich in massivem Streit miteinander. Er möchte seine Kinder „haben“, nach seinem orientalisch-patriarchalischen Weltbild „gehören“ sie ihm. Das lehnen die Geschwister aber ab. Allerdings sind sie nicht frei von Druck und Ängsten und können sich, nach dem Eindruck des Betreuers, nicht frei entscheiden. Beide Eltern können nicht ruhig miteinander sprechen, sie beschimpfen und beschuldigen sich gegenseitig. Die Betreuer konnten feststellen, dass die Kinder die Wortwahl und Denkmuster der Erwachsenen in ihren Gesprächen benutzen. Die Einsätze der Weisenräte, sozial-ethnischer Gerichtsbarkeiten und anderer herkunftskultureller Instrumentarien zur Lösung der Problematik stellen für die Kinder der getrennten syrisch-stämmigen Eltern einen hohen Stressfaktor dar. Nicht das Wohl des Kindes steht im Vordergrund, sondern die Wahrung des Familienimages. Außerdem sollen die Stammesführer und andere Repräsentanten die beiden Seiten nach gemeinschaftlichen Regularien verurteilen. Begleitete Umgänge als große Herausforderungen Die begleiteten Umgänge als Kontaktform für getrennte Elternteile sind ein weiterer Bereich, der die Kompetenzen der Sozialarbeiter: innen 430 uj 10 | 2024 Trennungskinder: Zwischen den elterlichen Fronten und Sozialpädagog: innen in der Jugendhilfe vor große Herausforderungen stellt. Eltern mit Migrationshintergrund tragen in Scheidungsprozessen ihre Konflikte während der Umgangskontakte aus und die Kinder werden von beiden Seiten instrumentalisiert. Diese Konflikte werden durch einflussreiche Mitglieder des Familienverbands noch zusätzlich geschürt. Mädchen und Jungen werden von ihnen nicht selten auf solche Situationen in der Art vorbereitet, dass sie während der Umgangsbegegnung nur deren Worte nachsprechen. Sie sind häufig so verängstigt, dass sie sich nicht wohlfühlen und nicht frei reden können. Für eine erfolgreiche pädagogische Arbeit beispielsweise mit yezidisch-stämmigen Familien sind daher ein breites Wissensspektrum und eine Vertrauensbasis grundlegende Voraussetzung, um sie bei der Bewältigung ihrer besonderen Lebenslagen durch ein kompetentes sozialpädagogisches Handeln unterstützen zu können. Fachkräftesensibilisierung und migrationsspezifische Hilfe Da diese Probleme weiter zunehmen, ist es unumgänglich, Richter: innen, Mitarbeiter: innen der Jugendhilfe, Gutachter: innen und Verfahrensbeistandschaften für diese spezifischen Themenaspekte zu sensibilisieren. Bei kritischen und nicht identifizierbaren Problemen ist es von enormer Bedeutung, migrationssensible pädagogische Hilfen heranzuziehen. Eine migrationsspezifische Mediation ist in diesem Fall ein erster Schritt, der in der pädagogischen Betreuungsarbeit zielführend sein und zum Erfolg führen kann. Dr. Mahmut Koyun Schelpmilser Weg 114 33609 Bielefeld Tel. (05 21) 54 37 90 99 E-Mail: info@integraplus-bielefeld.de Martina Bauer August-Bebel-Str. 215 33602 Bielefeld Tel. (05 21) 12 34 29 E-Mail: post@bauer-text-art.de Literatur IT.NRW (2023): Geschiedene Ehen mit Migrationshintergrund 2018 bis 2022 (unveröffentlichte Daten)