eJournals unsere jugend 76/10

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2024.art57d
101
2024
7610

Wie die (Sozial-)Pädagogik im Epochenumbruch auf neue Herausforderungen antworten kann

101
2024
Ferdinand Klein
In einer Zeit, die von Filterblasen, Fake News und KI-generierten Beiträgen geprägt ist, häufen sich Krisen. Diese verstärken sich gegenseitig und gefährden Menschen aller Altersstufen in ihrem Leben und Wirken – besonders pädagogische Fachkräfte. Der Autor sucht nach Stabilität und Kontinuität und antwortet mit einem beziehungsorientierten Denken und Handeln, das ihm der Arzt und Reformpädagoge Janusz Korczak nahelegt. Es geht um die Würde der Praxis.
4_076_2024_10_0007
436 unsere jugend, 76. Jg., S. 436 - 444 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art57d © Ernst Reinhardt Verlag Wie die (Sozial-)Pädagogik im Epochenumbruch auf neue Herausforderungen antworten kann In einer Zeit, die von Filterblasen, Fake News und KI-generierten Beiträgen geprägt ist, häufen sich Krisen. Diese verstärken sich gegenseitig und gefährden Menschen aller Altersstufen in ihrem Leben und Wirken - besonders pädagogische Fachkräfte. Der Autor sucht nach Stabilität und Kontinuität und antwortet mit einem beziehungsorientierten Denken und Handeln, das ihm der Arzt und Reformpädagoge Janusz Korczak nahelegt. Es geht um die Würde der Praxis. 1. Vorbemerkungen Geboten ist der persönliche Hinweis Der folgende Einblick in meine Professionalität kann als persönlicher Bericht eines Zeitzeugen verstanden werden, der seine berufliche Tätigkeit unter den Bedingungen der von ihm erlebten Zeit beschreibt und sein Denken und Handeln, sein Forschen und Lehren als Einheit sieht. Man könnte einwenden, dass der Darstellung der Geruch des Narzissmus, der Selbstverliebtheit und Selbstbewunderung anhafte. Doch in neueren Beiträgen zur Forschung und Lehre wird der Selbstdarstellung von Wissenschaftler: innen Raum gegeben, da sie zu einem nicht unerheblichen Erkenntnisgewinn beitragen kann (Krampen 2016). Kindheit und Jugendzeit Als 1944 meine Eltern und ich als 10-jähriges Kind aus meinem geliebten Dorf Schwedler (Slowakei) vertrieben wurden, waren wir heimatlos: Ein Jahr Flucht folgte. Wir konnten unser Leben noch retten. Mein Vater, ein geschätzter Schneidermeister, starb an den Folgen des Ersten Weltkrieges. Meine Mutter und ich waren sehr arm, sodass ich in den Ferien arbeitete. Mit 18 Jahren führte mich der Weg in die Heil- und Pflegeanstalt Bruckberg bei Ansbach, eine Einrichtung der bayerischen Diakonie Neuendettelsau. Dort betreute ich in den Sommerferien eine heterogene Gruppe mit 18 schwer- und mehrfachbehinderten Erwachsenen, die zum von Ferdinand Klein Jg. 1934; arbeitete als Erzieher und Heilpädagoge an den Universitäten Würzburg, Mainz, Halle-Wittenberg, der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und seit 1997 als Emeritus an der Comenius- Universität Bratislava und der Eötvös-Loránd-Universität Budapest 437 uj 10 | 2024 (Sozial-)Pädagogik im Epochenumbruch Teil erheblich traumatisiert und psychisch beeinträchtigt waren. Diese Menschen hatte mir der Anstaltsleiter anvertraut, und sein Vertrauen wollte ich nicht enttäuschen. Ich machte prägende pflegerische und erzieherische Erfahrungen: Mit diesen 18 Menschen lebte ich einen Monat lang Tag und Nacht zusammen und versuchte mich auf jeden einzelnen einzustellen. Ich war bemüht, den vielen, oft völlig überraschenden problematischen Situationen möglichst situationsgerecht zu begegnen. Dabei lernte ich ihre liebenswürdigen Seiten, aber auch ihre weniger guten näher kennen. Ich versuchte mich von der oft schwierigen Pflege- und Erziehungssituation zu distanzieren und aus ihr etwas Positives herauszufiltern und zum Guten zu wandeln. Gespräche mit Betreuer: innen waren hilfreich. Mich ermutigte das Handeln der Diakonissinnen, die mir mit einem bejahenden Lächeln begegneten und trotz ihres hohen Alters unermüdlich arbeiteten. Ihr von Herzen kommender pflegepädagogischer Dienst motivierte mich und ihr Beispiel bewegt mich noch heute. Inzwischen ist die Pflegepädagogik ein interdisziplinäres Forschungs- und Studiengebiet geworden. Als Erzieher mit dem „Proletariat auf kleinen Füßen“ unterwegs Schon als Lehrer der einklassigen Dorfschule in Pommer 1 (Landkreis Forchheim) und später als Leiter der Erlanger Lebenshilfe-Schule und des zweijährigen Lehrgangs für heilpädagogische Fachkräfte 2 im Regierungsbezirk Oberfranken entdeckte ich die Pädagogik Janusz Korczaks in einer Zeit, in der die im Reichsschulpflichtgesetz vom 6. Juli 1938 getroffene Abgrenzung noch galt: Kinder mit geistiger Behinderung waren per Gesetz schulbildungsunfähig. Ihr Grundrecht auf Bildung musste erkämpft werden. Erst der zivile Ungehorsam, nämlich die Initiative von Eltern und Fachleuten, wies die politisch Verantwortlichen auf die ungeheuerlichen Versäumnisse hin: Wir nahmen die schulbefreiten Kinder ohne hinreichend gesetzliche Grundlage in die Bildungseinrichtung auf und ließen unser Handeln nicht von politischen Rahmenbedingungen bestimmen, sondern von Entscheidungen, die wir mit unserem Gewissen verantworten konnten. Wir hatten der Schulpolitik gezeigt 3 , dass den Kindern großes Unrecht geschah. In den Schulkonferenzen dachten wir über Korczaks Satz nach: „Wer nicht in einer Schule für geistig behinderte, taubstumme oder blinde Kinder gelernt hat, Geduld und die Grundlagen der Didaktik zu üben, der wird niemals ein richtiger Lehrer werden können“ (Klein 1982, 162). Für diese Kinder trifft in besonderer Weise zu, dass sie aus der Tiefe ihres Herzens fühlen und empfinden. Ab 1980 bewegte ich mich einige Male mit polnischen Freunden - auf teils steinigen Wegen - auf Korczaks Spuren in Warschau. Beim 1. Wuppertaler Kolloquium der Deutschen Korczak-Gesellschaft legte ich Zeugnis ab von Korczaks lebendiger Pädagogik (ebd.). Und als ich 1992 zum Aufbaudirektor des Instituts für Rehabilitationspädagogik an der Universität Halle-Wittenberg berufen wurde und meine Arbeit zu scheitern drohte, schenkte mir Korczaks Ghetto-Tagebuch Halt, Gelassenheit und innere Heiterkeit. Grundlegendes Motiv: Janusz Korczaks Menschlichkeit Im Erinnerungsbuch an Janusz Korczaks 80.Todestag stellte ich heraus, dass Erziehungswissenschaftler: innen bescheidener werden sollten 1 Fünf Jahre lang hatte ich jeden Schultag für über 30 Schüler: innen der Jahrgänge 1 bis 8 den Unterricht vorzubereiten und zu gestalten. 2 Diese Mitarbeitenden bezeichnete die bayerische Staatsregierung als „Heilpädagogische Unterrichtshilfen“. Es waren in der Regel Erzieherinnen oder Sozialpädagoginnen. 3 Der Bedeutungshorizont des Verbs ‚zeigen‘ ist breit gefächert. Ich verstehe das Zeigen als Verweis auf die Achtung des Kindes. 438 uj 10 | 2024 (Sozial-)Pädagogik im Epochenumbruch (Klein 2022 a, 28). Doch wir beobachten in Fachbüchern das Gegenteil, nämlich einen Stil von Expert: innen, der mit großen und eindrucksvollen Worten Sicherheit vermitteln will. Dieser Stil zerstört aber den gesunden Menschenverstand. Darauf weist uns der Erkenntnistheoretiker Karl Popper hin, denn Praxis und Wissenschaft sind seit eh und je darum bemüht, die „Wahrheit zu suchen und nicht die Sicherheitssuche“ (Popper 1994, 113). Um diese Wahrheitssuche ging es dem feinfühlenden Arzt und Reformpädagogen Janusz Korczak. Schon seit seiner Kindheit tut er Gutes und entdeckt das Gute in Mitmenschen. Korczaks Güte, Weisheit und tiefes Interesse am anderen Menschen, das gerade die Schattenseiten menschlichen Verhaltens wahrnimmt und daraus die Liebe zum Nächsten entwickelt, leuchtet wie ein Symbol der Menschlichkeit. Sein elementares Interesse am Menschen kann Ausgangspunkt für weitreichende Einsichten sein - nicht nur zum Thema Pädagogik, sondern auch zur Frage der Bedingung des Menschseins und der Zukunft des Menschen. Korczak erkennt das Gute im Menschen über alle Gräben hinweg. Seine Handlungsethik verstehe ich als Kulturimpuls. Korczak will seine Idee retten. Er hat die Sache des Kindes und damit die Zukunft des Menschen und der Menschheit zu seiner Sache gemacht. Mit dem polnischen Korczak-Forscher Aleksander Lewin, der von 1937 bis 1939 Erzieher im Waisenhaus Dom Sierot war, ist herauszustellen: Korczak hat sein Programm aus dem Jahre 1929 nicht aus den Augen verloren: „[v]on der Selbstverwaltung der Kinder zu den Parlamenten der Welt“ (Lewin 1998, 142). Korczak weiß sich der Demokratie als Lebensform verpflichtet. Er achtet Kinder und Erwachsene als zwei gleichwertige Seiten im Erziehungs- und Bildungsprozess. Um diese achtsame Haltung bin ich bemüht und erkenne folgende Tendenzen der Zeit. 2. Tendenzen der Zeit gefährden die Erziehung Der Andere wird zum Objekt der eigenen Wünsche Am Ausgang der Moderne ist der gesamte Bereich der Kultur und Bildung von einem epochalen Wandel erfasst, der zu neuen Anforderungen an die pädagogische Professionalität führt. Die Wissenschaft als Orientierungsinstanz hat an Ansehen verloren. Ihre abstrakten Theorien greifen nicht mehr hinreichend. Die komplexen Veränderungen in der Wirklichkeit werden als vielfältig vernetzt, unübersichtlich und bedrohlich erlebt. Die Erziehungspraxis ist in diesen Epochenumbruch miteinbezogen. Wir stehen mitten in Prozessen globaler gesellschaftlicher, sozialer und wirtschaftlicher Umbrüche. Das Gesellschaftsmodell der neoliberalen Marktwirtschaft, das den sozialen Anspruch des Einzelnen nicht mehr hinreichend achtet, steuert einen radikalen Kurs der Umverteilung zulasten der Menschen, die bereits benachteiligt sind. Besonders Familien mit kleinen Kindern mit Behinderungen leiden unter der Benachteiligung und Ausgrenzung (Klein 2018, 47f ). Umbrüche und Entsolidarisierungstendenzen erzeugen bei vielen Menschen Unsicherheit und Angst Menschen finden in einer durch Krisen geprägten Zeit keinen ausreichenden Ratgeber mehr und leben in existenzieller Angst. Weit verbreitet ist die Angst vor dem Anderen. Noch vor Jahrzehnten hatte man Angst vor einem bestimmten Schuldigen, den man ausmachen und bekämpfen konnte. Heute kann man die Ursachen der Angst nicht mehr dingfest machen und gezielt angehen. Es können verschiedene, miteinander verwobene Ursachen ausfindig gemacht werden. Liegen sie im Beziehungsgeflecht mitten unter uns? Sozialpsychiater: innen sprechen von Menschen mit „Sozialphobie“ 439 uj 10 | 2024 (Sozial-)Pädagogik im Epochenumbruch und weisen sogar auf eine sich entwickelnde „autistische Gesellschaft“ hin. Sie sehen in der autistischen Beziehungsstörung mit der ihr eigenen Gefühlskälte und Distanz zum anderen Menschen eine Gefahr für die Demokratie, für das Denken in Freiheit, für die Liebe zum Leben (Lempp 2012). Durch intersubjektive Begegnungen der digitalisierten Welt antworten Diskurse über das „neue Profil des Menschen“ weisen darauf hin, dass das Ich des Menschen zur Ware zu werden droht. Schon allein durch das Internet hat sich die Definition des Ichs verändert. Der Mensch ist nicht mehr nur Person mit ein paar persönlichen Daten, sondern er ist zu einem Datensatz geworden, der durch Firmen wie Facebook und Google im Netz vermarktet wird. Informatiker: innen sprechen vom Computer als Bewusstseinsmaschine, die neue Formen des Erkennens generiert. Doch die hergestellten Zusammenhänge sind keine Sinnzusammenhänge mehr. Sie verfeinern lediglich formale Muster. Die Welt des Internets besagt also, dass der einzelne Mensch für sie nicht bedeutsam ist, sondern nur die große Zahl der Ichs, von denen sie alles wissen muss, damit der Rechner komplexe Leistungsprofile erstellen kann. „Diesseits dieser Welt aber muss ich die Bedeutung, meine Bedeutung, behaupten und unvermindert verteidigen. Andernfalls wird das Ich zur bewusstlosen Ware“ (Graff 2010, 14), über die verfügt werden kann. Und es kommt nicht mehr zu einer intersubjektiven Begegnung - zu einer Begegnung von Mensch zu Mensch. 3. Geboten ist intersubjektives Erkennen und Handeln Handeln und Erkennen auf der Beziehungsebene ermöglichen Auf dieses Erfahrungsdefizit macht der evolutionäre Humanist und Historiker Yuval Noah Harari aufmerksam. Harari erkannte in seinem Weltbestseller „Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen“ (Harari 2017), dass der Menschheitsentwicklung eine Abkoppelung des Denkens vom Bewusstsein droht, sofern das intersubjektive Begegnen ausgeblendet wird. Dem Menschen sind intersubjektive Begegnungen zu ermöglichen, die in seinem Bewusstsein, in seinem Gefühl und Herzen verankert sind. Dadurch verändert sich sein Wahrnehmen dahingehend, dass er den technisch zu bewerkstelligenden Algorithmus der Datenverarbeitung überwindet und sich als autonomer Mensch bewusst weiterentwickeln kann. Geboten sind intersubjektives Handeln und Erkennen. Harari kommt aus mitfühlendem Nachdenken über die grundlegenden Wissenschaften und Glaubensüberzeugungen, die es in der Welt gibt, zur Erkenntnis: Es ist aus ruhiger, ja meditierender Betrachtung des eigenen Lebens heraus geboten, den eigenen Weg zu finden. Handeln und Erkennen auf der Beziehungsebene vertiefen Was ist das Wesentliche des eigenen Lebens? Harari widmet sich in seinem zweiten Weltbestseller „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ (Harari 2023) den drängenden Fragen im Hier und Jetzt. In einfacher und gehaltvoller Sprache besinnt er sich auf das Wesentliche seines Lebens: Aus einfühlendem Nachdenken und Betrachten des eigenen Lebens findet er seinen Weg. Harari fragt: Wie können wir in unserer unübersichtlichen und von bedeutungslosen Informationen überflutenden Welt „moralisch handeln und was sollen wir unseren Kindern beibringen, da heute Biotechnologie und maschinelles Lernen immer besser werden und tiefste Emotionen und Wünsche der Menschen manipulieren? “ (ebd., 352). Harari erkennt aus tief reflektierten Erfahrungen heraus die Werte der Wahrheit, Gleichheit und Freiheit, die für unsere demokratischen Einrichtungen grund- 440 uj 10 | 2024 (Sozial-)Pädagogik im Epochenumbruch legend und aus der sinnzentrierten Beziehung heraus mit den eigenen Gefühlen zu gestalten sind. Er ruft zum Handeln auf: „Bitte vermeiden Sie theoretische Fragen […] und konzentrieren Sie sich auf Fragen, die mit Ihrer tatsächlichen Praxis zu tun haben“ (ebd., 413). Harari sucht aus seinen Lebenserfahrungen und seiner eigenen Geschichte heraus den Sinn des Lebens zu verstehen und seinen Geist, sein Denken und Handeln, sein Fühlen und Wollen zu begründen, um die Wirklichkeit zu verstehen und über sie nachzudenken, zu meditieren, um „zu verstehen, was ringsum geschieht und um sich im Labyrinth des Lebens zurechtzufinden“ (ebd., 341). In einer Zeit, in der wir von Falschinformationen und Belanglosigkeiten überflutet werden, benötigen Menschen die „Fähigkeit, Informationen zu interpretieren, zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden und vor allem viele Informationsstückchen zu einem umfassenden Bild der Welt zusammenzusetzen“ (ebd., 344). Harari fragt schließlich: „Wer bin ich? Was soll ich mit meinem Leben anfangen? Worin besteht der Sinn meines Lebens? “ (ebd., 354). Sein Rat: „Wenn Sie sich wirklich selbst verstehen wollen, sollten Sie sich nicht mit Facebook- Accounts […] identifizieren. Stattdessen sollten Sie den tatsächlichen Fluss von Körper und Geist wahrnehmen“ (ebd., 396). Das erinnert an den Friedensstifter Franz von Assisi, der als Kind reicher Eltern sein ausschweifendes, privilegiertes Leben aufgab und freiwillig mit „zärtlicher Solidarität“ mit den armen, ausgestoßenen und benachteiligten Menschen lebte. Mit dieser geistigen Haltung, die seinem tiefen Bedürfnis entsprach, fühlte er Dankbarkeit, Freude und Glück. Er lebte in „Verbindung mit der Welt“ in Frieden und im Einklang mit der Natur und den Tieren; „[s]ein Sprechen, Denken und Glaube“ waren für ihn eins (Prinz 2023, 81, 116). 4. Plädoyer für einen zeitgemäßen Humanismus Liebe zum Leben - kostbarste Eigenschaft des Menschen Für den Heidelberger Psychiater, Philosophen und Pädagogen Thomas Fuchs, der in der humanistischen Tradition Erich Fromms steht 4 , ist die „Liebe zum Leben die kostbarste Eigenschaft des Menschen“ (Klein 2023, 129f ). Den Leistungen des Menschen in den Wissenschaften, der Kunst, des Rechts und der Technik steht die erschreckende Seite gegenüber, nämlich „Hass, Gewalt, Krieg und Destruktion“ (Fuchs 2023, 8). Fuchs fragt nach dem Ausweg aus dem Schwanken zwischen Größe und Elend des Menschen und erkennt die Notwendigkeit des Wandels des Menschen, der insbesondere einschließt: die Verabschiedung von Allmachtsfantasien, Selbstbejahung und Demut, wirkliche Beziehungen, das Einüben echter Empathie und das „eigene Einbetten in einen übergreifenden und sinnvollen Zusammenhang“ (ebd., 12). Entscheidend ist das sinnliche Erfahren des anderen Menschen, sein wirkliches Du: sein Blick, seine Stimme, seine leibliche Präsenz, seine körperliche Ausstrahlungskraft. Diese Zwischenleiblichkeit kann durch die virtuelle Gegenwart des anderen nicht ersetzt werden. Für Fuchs ist das Bewusstsein einzubetten in einen übergreifenden Sinnzusammenhang, der dem (zer)störenden Narzissmus trotzt. Erich Fromm sprach vom biophilen Menschen, der „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Schweitzer) und die Achtung des Anderen pflegt (Klein 2023, 129) sowie die Einsicht hat: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (ebd.). Für den Urwalddoktor Schweitzer werden die Menschen der Zukunft die sein, die „ihre Herzen in ihren Gedanken sprechen lassen“ (Klein 2022 b, 77). 4 Thomas Fuchs hat 2023 den Erich Fromm-Preis erhalten; seine wissenschaftlichen Arbeiten stehen ganz in der Tradition Erich Fromms. Anlässlich der Verleihung des Preises hielt er die Rede „Verkörperung und Beziehung. Für einen zeitgemäßen Humanismus“, auf die ich im Folgenden näher eingehe. 441 uj 10 | 2024 (Sozial-)Pädagogik im Epochenumbruch Diese Ehrfurcht vor dem Leben ist kein Trieb, sondern eine ethische Haltung, eine „leibliche Anwesenheit und Kommunikation und nicht nur ein Austausch von Informationen, wie in der digitalen Welt, sondern [sie] ermöglicht das wache Zuhören mit dem sichtbaren Ausdruck der Aufmerksamkeit, der Erwartung oder der Bestätigung, in dieser resonanten Gegenwart des anderen. […] Hier können noch ungedachte Gedanken sich formen und Neues entstehen“ (Fuchs 2023, 15). Konvivialität im Sinne eines leiblichen Daseins und Zusammenlebens in der gestalteten Beziehung verkörpert für Fuchs einen „zeitgemäßen Humanismus“. Diese tiefe innere Haltung mündet in die Verantwortung, die „wir füreinander als Menschen und für das Leben insgesamt übernehmen. Dann mag es uns auch gelingen, uns auf der Erde wirklich zu beheimaten. Es wird keine andere Heimat für uns geben“ (ebd., 15). 5. Erkenntnis für die Praxis Sinnstiftende Orientierung Heute sehen sich Sozialwissenschaftler: innen einem Denken verpflichtet, das den Einzelnen nicht mehr als Person beschreibt, sondern als Organisationssystem von Verhaltensweisen, die analysiert, gemessen, geprüft und verrechnet werden können. In diesen Theoriegebäuden ist nicht mehr der Mensch in seiner Ganzheit das Bezugssystem. Wird er in formale Kategorien aufgelöst und als Summe seiner Einzelfunktionen verstanden, dann wird sein Bedürfnis, nämlich aus seinem inneren Kraftzentrum heraus autonom zu handeln, ignoriert. Das Funktionieren wurde der erfolgreichen Kommunikations- und Politikwissenschaftlerin Miriam Meckel zum Verhängnis. Sie musste sich wegen eines Burn-outs in stationäre Behandlung begeben. Hier wurden ihr die Grenzen des Verhaltens bewusst, nachdem sie für 15 Jahre in die Perfektionsfalle getappt war. Fremdbestimmung, Konkurrenz, Zwänge und Misserfolge führten zu einem Funktionieren. Meckel kam nicht mehr aus ihrer Krankheit heraus. Sie hatte ihre Souveränität über das eigene Leben verloren. Sie fühlte sich entwurzelt und sehnte sich nach einem nicht-entfremdeten Dasein und nach Halt gebenden Beziehungen (Meckel 2010). Die Wissenschaftlerin hatte versäumt, die Frage nach der Sinngebung des eigenen Daseins, die eigentliche Frage nach sich selbst sowie nach sinnstiftender Lebensorientierung zu stellen. Lebenssinn, der tief im Menschen verwurzelt ist, ist nicht verhandelbar. Bildung darf nicht ökonomischen Standards folgen In seinem Werk „Die Seele des Menschen: Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen“ erkannte Erich Fromm schon 1980, dass Menschen im Zusammenleben nach ökonomischen Gesichtspunkten verwaltet werden, „als ob sie Dinge wären“; dadurch verwandeln sie sich unmerklich „in Dinge, und sie gehorchen den Gesetzen der Dinge. Aber der Mensch ist nicht zum Ding geschaffen; er geht zugrunde, wenn er zum Ding wird. […] Der homo mechanicus interessiert sich […] immer weniger für die Anteilnahme am eigentlichen Leben und für die Verantwortung, die darin liegt“ (Fromm 1980, 54ff ). Diese Ökonomisierung dominiert das europäische Bildungswesen, das von einer falsch verstandenen Politik wie ein funktionierender Wirtschaftsbetrieb gesehen wird. Das Bildungssystem kann nicht technokratisch umgesteuert und nach ökonomischem Muster (messbare Leistung, Steigerung der Effizienz) verwaltet und verrechnet werden. Inzwischen wird ein europäischer Qualifikationsrahmen angestrebt, der sogar den kulturellen Fundus des einzelnen Landes negiert. All das deutet auf eine Krise des Menschenbildes hin: Der Mensch wird auf das 442 uj 10 | 2024 (Sozial-)Pädagogik im Epochenumbruch Bedürfnis nach Konsum reduziert. Hier scheint durch politische Vorgaben die rasche Ökonomisierung zu einem neuen Denkprinzip und Menschenbild zu werden, was den Sinn wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens auf das Verwertbare reduziert. Dem dürfen die Gegenstände der Geistes- und Sozialwissenschaft nicht folgen, denn das Maß liegt im Menschen - und nicht in den Dingen. Der Beschleunigung gelassen antworten Heute wird von der verwertungsorientierten Wissensgesellschaft gesprochen, in der Begriffe wie Leistungssteigerung und Konkurrenz dominieren, die Selektion erzeugen und den Schwächeren zurückdrängen oder aussondern. Diese Praxis der Starken ist mit Eile verbunden. Es ist das Veloziferische, eine Wortschöpfung Goethes (aus dem Lateinischen ‚velocitas‘ =‚Eile‘ und dem Italienischen ‚velozifero‘ = ‚Eilwagen‘ oder ‚Eilpost‘), das zum Stigma seiner Zeit wurde. Es zeigt sich heute als Stigma der Gegenwart (Osten 2003). Doktor Faust wollte immer mehr, unterlag Mephisto und musste des Teufels Joch der Eile tragen. Die Antizipation des Schnellen und des Mehr führt zu einer wechselseitigen Steigerung des Beschleunigens. Wer mehr hat, will noch mehr und wer noch mehr hat, vermehrt sein Mehr. Diese Dialektik beschrieb Karl Marx als die Systematik des Wirtschaftslebens, die in der modernen Forderungs- und Anspruchsgesellschaft präsent ist. Die maßlose Steigerung kann tief in das körperlich-seelisch-geistige Befinden eingreifen und zu Störungen des moralischen Denkens führen. Der Mensch hat durch die Beschleunigung aller Lebensvorgänge seine Geborgenheit verloren, nach der er sich sehnt. Er ist zum Getriebenen geworden. Überforderungen, Entfremdung und Störungen der Psyche sind die Folge. Auffallend sind Ängste und Depressionen, die als Erschöpfung des souveränen Menschen gedeutet werden. Wie kann der Mensch Geborgenheit (wieder) finden? Erinnert sei an eine Geschichte von Till Eulenspiegel, dem legendären Schelm des 14. Jahrhunderts: Er erzählt von einem Kutscher, der ihm unterwegs begegnete und nach dem schnellsten Weg zur Stadt fragte. Eulenspiegel antwortete: „Wenn Ihr langsam fahrt, dauert es wohl eine halbe Stunde. Fahrt Ihr schnell, so dauert es zwei Stunden.“ „Du Narr“, brüllte der Kutscher und preschte eilig los. Till Eulenspiegel ging ruhig weiter, umrundete die vielen Schlaglöcher. Nach etwa einer Stunde sah er die Kutsche mit gebrochener Achse im Graben liegen (Janssen 2016, 168). Bei diesem beschleunigten erfolgsorientierten Denken geht man davon aus, dass die Bildung des Kindes durch Förderprogramme gesteuert werden kann. Die dominierende Außensteuerung durch Reduzierung auf das Machen gefährdet aber die Selbstbildung der pädagogischen Fachkraft, denn sie liefert sich der Außenlenkung aus. Geboten ist ein ruhiges, gelassenes und sinnzentriertes, situationsorientiertes Handeln, das mit der erlebten Praxis zusammenhängt. Dadurch kann sie dem individuellen jungen Menschen das Lernen und spielend-künstlerisches Gestalten zusammen mit anderen ermöglichen. Denn gerade in der Zeit des Krieges zwischen den Kulturen und Religionen, in der Menschen für ihr eigenes Wohlergehen die Ellenbogen ausfahren, kann sich die pädagogische Fachkraft an dieser inneren Haltung orientieren und den jungen Menschen in ihrer veranlagten Lebensfreude antworten - denn sie bekommen all das auf ihre ganz persönliche Art und Weise mit. Geboten ist das Beachten des dreifachen Kontaktes Das Denken der pädagogischen Fachkraft geht von der erlebten Praxis aus und wird durch Reflexion ein bewussteres. Ihre empathische Haltung ist bemüht, dem tief veranlagten Bedürfnis des jungen Kindes zu entsprechen. Bei diesem Dialog ist der dreifache Kontakt zu beachten: 443 uj 10 | 2024 (Sozial-)Pädagogik im Epochenumbruch Der Kontakt ➤ mit sich selbst, ➤ mit dem jungen Menschen und ➤ mit dem Inhalt (siehe Abbildung 1) 5 . Dieser feinfühlende Kontakt geht auf den Psychotherapeuten Carl Rogers zurück. Rogers erkannte drei Aspekte der Haltung, die für hilfreiche zwischenmenschliche Beziehungen charakteristisch sind und die eigenen Ressourcen sowie die Ressourcen des anderen Menschen fördern. Diese Erkenntnis trifft für die Kontakte zwischen den Menschen zu und gewinnt ihre besondere Bedeutung für die kollegiale Zusammenarbeit und Teamarbeit (Krenz/ Klein 2012). Sie ist für die inklusive Praxis höchst aktuell und hat ihre eigene Würde: ➤ sich um empathisches (einfühlendes) Verstehen und uneingeschränkte Wertschätzung des jungen Menschen bemühen, ihn ohne Vorbedingungen akzeptieren, ➤ sich um Klärung der eigenen Gedanken bemühen und sich für den jungen Menschen und seine Bedürfnisse öffnen, um mit ihm in einen wechselseitigen Austausch zu kommen und ➤ sich um eine verständliche und klare Sprache bemühen, die den jungen Menschen zum Mitmachen, Mitdenken und Mitfühlen einlädt. Die drei Momente der Haltung lassen sich nur theoretisch voneinander trennen. Dem ganzheitlichen Handeln der pädagogischen Fachkraft, das die drei Haltungsmomente in sich vereint, liegt ein Menschenbild zugrunde, das die Einzigartigkeit des jungen Menschen bedingungslos achtet. Diese achtsame Haltung zeichnet die Würde der Praxis aus. Prof. em. Dr. Dr. et Prof. h. c. Ferdinand Klein Adalbert-Stifter-Str. 4 a 83043 Bad Aibling E-Mail: ferdi.klein2@gmail.com 5 Die Abbildung geht auf die Psychologen und Pädagogen Langer, Schulz von Thun und Tausch zurück (Klein 2015, 164; Zeichnung: Dina Barghaari). Abb. 1: Der dreifache Kontakt (Ferdinand Klein) 444 uj 10 | 2024 (Sozial-)Pädagogik im Epochenumbruch Literatur Fromm, E. (1980): Die Seele des Menschen: Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen. DVA, Stuttgart Fuchs, T. (2023): Verkörperung und Beziehung. Für einen zeitgemäßen Humanismus. Menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten 46 (6), 8 - 15 Graff, B. (2010): Das neue Profil des Menschen. Süddeutsche Zeitung vom 5./ 6. Juni, 14 Harari, Y. N. (2017): Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen. C. H. Beck, München Harari, Y. N. (2023): 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. 9. Aufl. C. H. Beck, München Janssen, L. P. (2016): Janusz Korczak. Kinderarzt. Hentrich & Hentrich, Berlin Klein, F. (1982): Janusz Korczak und die heute irritierte Heilpädagogik. Fragmente einer humanen Erziehungspraxis. In: Beiner, F. (Hrsg.): Janusz Korczak. Zeugnisse einer lebendigen Pädagogik. Vierzig Jahre nach seinem Tod. Agentur Dieck, Heinsberg, 161 - 170 Klein, F. (2015): Inklusive Erziehungs- und Bildungsarbeit in der Kita: Heilpädagogische Grundlagen und Praxishilfen. 2. Aufl. Bildungsverlag EINS, Köln Klein, F. (2018): Mit Janusz Korczak Inklusion gestalten. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Klein, F. (2022 a): Janusz Korczak. Die Aktualität seiner Pädagogik. Zur Erinnerung an seinen 80. Todestag. Walhalla, Regensburg Klein, F. (2022 b): Mit Janusz Korczak die Heilpädagogik gestalten. BHP, Berlin Klein, F. (2023): Liebe zum Leben ermöglicht die Kunst des Erziehens. Unsere Jugend 75, 129 - 134 Krampen, T. K. G. (2016): Vom Passiv zum Aktiv? Ich- Tabu oder Selbstdarstellung in wissenschaftlichen Texten. Forschung & Lehre 23 (3), 224 - 235 Krenz, A., Klein, F. (2012): Bildung durch Bindung. Frühpädagogik: inklusiv und beziehungsorientiert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Langer, I., Schulz von Thun, F., Tausch, R. (2015): Sich verständlich ausdrücken. 10. Aufl. Ernst Reinhardt, München/ Basel Lempp, R. (2012): Generation 2.0 und die Kinder von morgen. Aus der Sicht eines Kinder- und Jugendpsychiaters. Schattauer, Stuttgart Lewin, A. (1998): So war es wirklich. Die letzten Lebensjahre und das Vermächtnis Janusz Korczaks. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh Meckel, M. (2010): Brief an mein Leben. Erfahrungen mit einem Burnout. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Osten, M. (2003): „Alles veloziferisch“ oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit. Insel, Leipzig/ Frankfurt a. M. Popper, K. R. (1994): Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. Piper, München/ Zürich Prinz, A. (2023): Franz von Assisi. Tierschützer, Minimalist und Friedensstifter. Gabriel in Thienemann- Esslinger Verlag, Stuttgart Liebe Abonnentinnen und Abonnenten, der Bezugspreis der Zeitschrift unsere jugend für private Direktkunden erhöht sich ab 2025 minimal auf € 67,-. Nicht-Private/ Institutionen zahlen ab 2025 für das Jahres-Einzelabonnement € 102,-, jeweils zuzüglich Versandkosten. Wenn Universitäten mit bisherigem Einzelabo auf eine Campuslizenz aufstocken wollen, bitten wir um Nachricht an vertrieb@reinhardt-verlag.de. Als besonderen Service bieten wir eine kostenlose Online-Recherche in den Volltexten aller Fachbeiträge von unsere jugend an, die seit Heft 1/ 2005 erschienen sind. Abonnent: innen können diese Beiträge darüber hinaus als zitierfähige PDF-Datei ohne Zusatzkosten aufrufen und herunterladen (im Abo-Preis inbegriffen). Als Einzel-Abonnent: in nutzen Sie unser Online-Angebot unter www.reinhardt-journals.de. Ihr Ernst Reinhardt Verlag