eJournals unsere jugend 76/11+12

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2024.art61d
111
2024
7611+12

Inklusive Familien- und Erziehungsberatung aus der Perspektive der Wirksamkeitsforschung

111
2024
Sonja Heidenblut
Christian Walter-Klose
Dieser Beitrag zeigt anhand der Erkenntnisse der Wirksamkeitsforschung, welche Fähigkeiten Erziehungs- und Familienberater:innen nutzen können, um ein positives Arbeitsbündnis mit ihren Klient:innen aufzubauen. Dabei wird untersucht, inwieweit diese Fähigkeiten im Kontext von Behinderung und Inklusion besonders reflektiert und ausgeweitet werden müssen.
4_076_2024_11+12_0004
461 unsere jugend, 76. Jg., S. 461 - 470 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art61d © Ernst Reinhardt Verlag von Dr. Sonja Heidenblut Universität zu Köln, Lehrstuhl Beratung in sonderpädagogischen und inklusiven Arbeitsfeldern Inklusive Familien- und Erziehungsberatung aus der Perspektive der Wirksamkeitsforschung Dieser Beitrag zeigt anhand der Erkenntnisse der Wirksamkeitsforschung, welche Fähigkeiten Erziehungs- und Familienberater: innen nutzen können, um ein positives Arbeitsbündnis mit ihren Klient: innen aufzubauen. Dabei wird untersucht, inwieweit diese Fähigkeiten im Kontext von Behinderung und Inklusion besonders reflektiert und ausgeweitet werden müssen. 1. Familien- und Erziehungsberatung und Wirksamkeitsforschung Familien- und Erziehungsberatung ist ein niederschwelliges und kostenfreies Angebot auf der Grundlage des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII), das allen Familien sowie Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen offensteht (Kühnl 2024; bke 2022; Walter 2020). Neben präventiv-informierender und kooperativ-vernetzender Arbeit sind Beratung und Therapie Kernaufgaben der Beratungsstellen (Berg 2019). Erziehungs- und Familienberater: innen begleiten ihre Klient: innen in schwierigen Lebenssituationen und unterstützen in Fragen des familiären Zusammenlebens, der Erziehung und der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sie helfen bei der Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme und nutzen dazu ein breites Spektrum an psychotherapeutischen, pädagogischen und gemeinwesenbezogenen Methoden (Berg 2019). Die Teams der Beratungsstellen sind interdisziplinär aufgestellt und gehören der Psychologie, der Sozialen Arbeit, der Heilpädagogik und ihren Nachbardisziplinen an (Kühnl 2024). In der Regel haben die Mitarbeitenden eine Zusatzausbildung als Erziehungs- oder Familienberater: in oder eine andere psychotherapeutische Zusatzausbildung und bilden sich regelmäßig zu aktuellen Themen fort (bke 2022). 1.1 Wirksamkeitsforschung Im deutschsprachigen Raum gibt es einige Ergebnisse dazu, dass Erziehungsberatung wirkt. Arnold, Macsenaere und Hiller (2018) konnten Prof. Dr. Christian Walter-Klose Universität zu Köln, Lehrstuhl Beratung in sonderpädagogischen und inklusiven Arbeitsfeldern 462 uj 11+12 | 2024 Inklusive Beratung aus Sicht der Wirksamkeitsforschung zeigen, dass Beratung das familiäre Zusammenleben fördert, das psychische Wohlbefinden verbessert und die Erziehungskompetenzen stärkt. Die Frage, was diese positiven Veränderungen bewirkt, ist weniger untersucht. Dabei benennen bisherige Studien hauptsächlich eine hohe Klient: innenzufriedenheit als Faktor (Roesler 2017; Berg 2019). In einer österreichischen Untersuchung, in der Klient: innen und Berater: innen zu ihrer Einschätzung des Prozesses befragt wurden, gaben beide Gruppen eine gelungene Beratungsbeziehung als wichtigsten Aspekt an (Kapella et al. 2022). Zum besseren Verständnis von Beratungsprozessen werden ergänzend auch Ergebnisse der Psychotherapieforschung genutzt (z. B. Berg 2019; Kühnl 2024). Einer der ersten Vertreter der Prozessforschung war Carl Rogers (McLeod 2014; Rogers 2007). Eine zentrale Schlussfolgerung seiner Arbeit ist, dass eine tragfähige Beziehung zwischen Therapeut: in und Klient: in entscheidend für den Behandlungserfolg ist. Diese kann seiner Einschätzung nach (nur) dann aufgebaut werden, wenn Therapeut: innen ihren Klient: innen mit Kongruenz, Empathie und bedingungsloser Anerkennung begegnen (ebd.). Der Einfluss einer positiven Arbeitsbeziehung auf den Therapieerfolg hat sich in nachfolgenden Studien, die den therapeutischen Prozess aus unterschiedlichen theoretischen und methodischen Blickwinkeln untersucht haben, immer wieder bestätigt (Flückiger et al. 2024). Da dieser Faktor sich nicht durch spezifische Techniken erklären lässt, hat sich ein Forschungszweig entwickelt, der die allgemeinen Wirkfaktoren von Psychotherapie anhand schulübergreifender Modelle beschreibt. Therapie wird dabei als Prozess verstanden, der Klient: innen dabei hilft, „sich besser zu fühlen und sich in ihrer Lebensumgebung durch angemessene Anpassung besser zurechtzufinden“ (Wampold et al. 2018, 80). 1.2 Das CARE-Modell der psychischen Gesundheit In diesem Beitrag nutzen wir zum Verständnis von Beratungsprozessen eine an das Setting der inklusiven Erziehungs- und Familienberatung angepasste Version des CARE-Modells nach Flückiger et al. (2024, siehe Abb. 1). Das Modell berücksichtigt diejenigen Aspekte des therapeutischen Settings, die auf der Grundlage metaanalytischer Untersuchungen maßgeblich zum Therapieerfolg beitragen. Dieser wird als ein umfassender Zustand psychischen Wohlbefindens verstanden, der neben dem Rückgang von Symptomen die „Förderung von […] persönlichen Werten, Fähigkeiten und Fertigkeiten und der psychosozialen Partizipation“ (Flückiger et al. 2024, 34) einschließt. Als theoretischer Rahmen ist das Modell zur Beschreibung aller Prozesse geeignet, in denen Klient: innen Unterstützung durch professionelle Helfer: innen erfahren (Wampold / Flückiger 2023). Da es hier zur Beschreibung von Beratungsprozessen genutzt wird, werden im Folgenden die Begriffe „Berater: in“ und „Beratung“ anstatt der Begriffe „Therapeut: in“ und „Therapie“ verwendet. Kern des CARE-Modells ist die Überlegung, dass Veränderungen in Beratungsprozessen durch ein positives Arbeitsbündnis zwischen Berater: innen und ihren Klient: innen angestoßen werden. Da Forschungsergebnisse zeigen, dass es vor allem interpersonale Fähigkeiten der Berater: innen sind, die entscheidend zum Gelingen dieses Bündnisses beitragen, werden diese in einem ersten Schritt genauer beschrieben (Wampold/ Flückiger 2023). Gemeint sind einerseits Eigenschaften wie Empathie, Verständnis und Natürlichkeit, wie schon Rogers (2007) sie als Voraussetzung gelingender Beziehungen versteht. Andererseits werden sprachliche Äußerungen benannt, mit denen Berater: innen ihre Kompetenz und ihr Vertrauen in den Behandlungsprozess deutlich machen sowie die Fähigkeit, mit Klient: innen auf der Metaebene über den Prozess sprechen zu können. 463 uj 11+12 | 2024 Inklusive Beratung aus Sicht der Wirksamkeitsforschung Abb. 1: Das CARE-Modell nach Flückiger et al. (2024), angepasst an das Setting der inklusiven Erziehungs- und Familienberatung (Sonja Heidenblut) Förderung von Wohlbefinden Förderungen von Kompetenzen Stärkung des familiären Zusammenlebens Förderung psychosozialer Teilhabe Minderung von Leiden Akzeptanz unveränderlicher Aspekte UNTERSTÜTZEND Empathie Natürlichkeit Akzeptanz Respekt Kulturelle Sensibilität ÜBERZEUGEND Kompetentes Auftreten Grundwissen zu Behinderung und Inklusion PROZESSGESTALTEND Bedürfnisse erkennen Ziele anpassen Metakommunikation Barrieren abbauen Adaptive Auftragsklärung CARE ERWARTUNGEN SPEZIFISCH Gemeinsame Hoffnung Engagement Wirkungswege Kompetenzen der Beratenden Beratungsergebnis Gelingendes Arbeitsbündnis Gemeinsame Exploration 464 uj 11+12 | 2024 Inklusive Beratung aus Sicht der Wirksamkeitsforschung Auf der Grundlage eines gelungenen Arbeitsbündnisses können Veränderungen über drei Wirkungswege erzielt werden. Der erste Weg fußt auf der echten emotionalen Beziehung zwischen Berater: in und Klient: in. Diese bewirkt, dass die Klient: innen sich angenommen fühlen, was ihnen die Affektregulation erleichtert und Gefühle von Einsamkeit, Scham und Isolation reduziert. Der Wirkungsweg der Erwartungen entsteht durch den Glauben daran, dass Beratung den Klient: innen konstruktive Sichtweisen auf ihre Problemlage und neue Bewältigungsstrategien ermöglicht (Wampold/ Flückiger 2023; Flückiger et al. 2024). Dabei ist es hilfreich, wenn Berater: innen die erwünschte Richtung der Veränderung gemeinsam mit ihren Klient: innen aushandeln. Der dritte Wirkungsweg beruht darauf, dass Klient: innen sich auf die spezifischen Handlungen und Methoden im Beratungsprozess einlassen können und sich für ihre Veränderung engagieren. Über die drei Wirkungswege kann eine gemeinsame Exploration der Beratungsthemen stattfinden, mit dem Ziel, den Leidensdruck der Klient: innen zu reduzieren und ihr Wohlbefinden zu stärken. 2. Familien- und Erziehungsberatung im Kontext von Behinderung und Inklusion In der Familien- und Erziehungsberatung wird der Blick in den letzten Jahren zunehmend auf die Aspekte Behinderung und Inklusion gerichtet (bke 2022; Walter-Klose 2017), wobei spezifische Adaptionserfordernisse für die Beratungssituation und den -prozess herausgestellt werden (Walter-Klose 2024; Walter 2020). Diese Entwicklung lässt sich sowohl auf die UN- Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung zurückführen als auch auf das daraufhin verabschiedete Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG), das Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe verankert. Dies bedeutet einerseits, Behinderung und ihre Auswirkungen auf das Leben von Kindern, Jugendlichen und Familien in den Blick zu nehmen und andererseits, das Beratungsangebot an die Bedarfe und Kompetenzen von Menschen mit Behinderung anzupassen. 2.1 Leben im Kontext Behinderung Der Begriff der Behinderung bezeichnet nach dem Sozialgesetzbuch IX eine Person-Umwelt- Relation, die sich auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auswirkt. So werden Menschen mit Behinderung in § 2 (1) SGB IX definiert als „Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“. Demnach erfährt ein Mensch einerseits körperbezogene bzw. psychische Funktionsbeeinträchtigungen (z. B. nicht sehen können, nicht auf einem alterstypischen Niveau lernen können), andererseits wird er aufgrund einer nicht angepassten Umwelt in seinen gesellschaftlichen Möglichkeiten eingeschränkt. Beispielsweise kann ein Kind mit Beeinträchtigung die gewünschte Schule oder ein Freizeitangebot nicht besuchen, wenn dies durch Vorurteile, Barrieren, fehlende Hilfen oder eine mangelnde Berücksichtigung gesundheitsrelevanter Bedarfe verhindert wird. Familien mit einem Mitglied mit Behinderung sind mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, die den Alltag und das Familienleben erschweren können. Dies können einerseits allgemeine Erschwernisse wie die Symptombelastung oder Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen sein, andererseits müssen immer wieder phasenspezifische Anforderungen wie die Bewältigung der Diagnose oder die richtige Wahl von Schule und Beruf (Walter- Klose 2017; Walter 2020) bewältigt werden. Medizinische oder therapeutische Behand- 465 uj 11+12 | 2024 Inklusive Beratung aus Sicht der Wirksamkeitsforschung lungsnotwendigkeiten (z. B. aufgrund einer Bewegungsbeeinträchtigung) können ebenso Teil des Alltags werden wie herausfordernde Verhaltensweisen im Kontext seltener genetischer Syndrome. Auch stellt sich für die Erziehungsberechtigten die Frage, wie eigene private und berufliche Ziele unter den erschwerten Bedingungen erreicht werden können und wie ein Familienleben gestaltet werden kann, das allen Familienmitgliedern gerecht wird. Familien mit einem Mitglied mit Behinderung haben daher erhöhte Unterstützungsbedarfe (z. B. Retzlaff 2010), die regional unterschiedlich von vielfältigen Diensten erfüllt werden können (Walter-Klose 2017). Dabei bestehen durch die behinderungsspezifischen Hilfen zwar viele schulische, heilpädagogische, therapeutische und rehabilitative Angebote, diese sind aber nur in eingeschränkten Zeiträumen wie der Frühförderung gleichwertig zum Leistungsspektrum der Familien- und Erziehungsberatung. 2.2 Inklusion in der Familien- und Erziehungsberatung Mit Inklusion wird seit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention und ihrer Ratifizierung durch die Bundesregierung im Jahr 2008 ein gesellschaftlicher Wandel angestoßen, der die gleichwertige Einbeziehung der Menschen in ihrer Vielfalt fordert. Inklusion kann definiert werden als „ein menschenrechtlich begründeter Prozess der Anpassung und Ausrichtung eines Angebots, einer Institution oder eines Lebensbereiches im Hinblick auf ein visionäres Ziel, nach dem alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit jederzeit vollkommen gleichberechtigt und gleichwertig behandelt werden, so dass sie ihr Leben weitestgehend selbstbestimmt in der Gesellschaft leben können“ (Walter-Klose 2022, 309). Im Kontext von Behinderung bedeutet dies, sowohl Umweltbarrieren in allen Lebensbereichen abzubauen als auch vorhandene Kompetenzen von Menschen in den Blick zu nehmen und bei der Umwelt- und Angebotsgestaltung zu berücksichtigen. Dabei sind Einrichtungen gefordert, sich für Menschen mit Behinderung (und den mit ihnen in Beziehung stehenden Menschen) zu öffnen und sich auf sie einzustellen. In diesem Sinne hat Inklusion das Potenzial, Behinderung zu reduzieren, indem Barrieren in der Umwelt abgebaut und bislang nicht zugängliche Angebote geöffnet werden. Familien- und Erziehungsberatung kann eine gute Unterstützungsmöglichkeit für Familien mit einem Angehörigen mit Behinderung sein. Sie kann dabei helfen, einen Umgang mit Alltagsbelastungen, Erziehungsfragen und familiären Konflikten zu finden und Herausforderungen wie Diskriminierung und mangelnder Teilhabe zu begegnen (Walter 2020). Aus diesem Grund betonte Kassebrock bereits im Jahr 2000, dass nicht nur vonseiten der Familien ein Beratungsbedarf besteht, sondern auch, dass die dafür notwendigen Voraussetzungen grundlegend in den Familien- und Erziehungsberatungsstellen vorhanden sind. Gleichermaßen argumentierten die Leiter: innen von Erziehungs- und Familienberatungsstellen in der Studie von Walter-Klose (2017), die die Beratung von heterogenen Klient: innengruppen als grundlegenden Auftrag ihrer Arbeit herausstellten. Dabei berichteten mehr als 70 % der Beratungsstellen über Beratungserfahrung mit psychischen Störungen, chronisch-somatischen Erkrankungen, Sprach- und Sprechstörungen oder Körperbehinderungen. Allerdings gaben weniger als die Hälfte der teilnehmenden Beratungsstellen Erfahrung mit Sinnesbeeinträchtigungen oder komplexen Mehrfachbehinderungen an. Die Anliegen der Eltern betrafen sowohl Themen der Familien-, Lebens- und Beziehungsgestaltung als auch soziale Probleme, Verhaltensauffälligkeiten und Schul- und Leistungsprobleme der Kinder und Jugendlichen. Zudem suchten Eltern Beratung zum Umgang mit Diskriminierung und zum Umgang mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in der Familie. 466 uj 11+12 | 2024 Inklusive Beratung aus Sicht der Wirksamkeitsforschung Für eine zielgruppengerechte Beratung benannten die Teilnehmenden der Studie die Notwendigkeit, das Methodenspektrum zu erweitern, die Beratungssituation anzupassen und die eigene Haltung zum Thema Behinderung und Inklusion zu reflektieren (ebd.). 3. Anpassungserfordernisse an inklusive Beratung unter Berücksichtigung des CARE-Modells Menschen mit Behinderung sind in erster Linie Menschen, und Familien mit einem Angehörigen mit Behinderung in erster Linie Familien. So trivial diese Aussage erscheint, so macht sie doch deutlich, dass die im CARE-Modell beschriebenen Wirkungswege von Beratung gleichermaßen im Kontext von Behinderung und Inklusion gelten müssen. Gleichzeitig können in der Arbeit mit diesen Familien zwischenmenschliche Barrieren (z. B. in Form von negativen Einstellungen oder Vorurteilen) entstehen, die das Eingehen einer positiven Arbeitsbeziehung erschweren. Um dem entgegenzuwirken, ist es notwendig, dass Berater: innen verstehen, was interpersonelle Beratungskompetenzen im Kontext von Behinderung bedeuten und dass sie ihre Fähigkeiten dementsprechend weiterentwickeln. 3.1 Der CARE-Pfad Für den Aufbau einer echten emotionalen Beziehung benötigen Berater: innen Fähigkeiten wie Empathie, Verständnis und Natürlichkeit. Diese erfordern im Umgang mit Klient: innen mit Behinderung und deren Familien eine Reflexion der eigenen Haltung. So zeigen beispielsweise die Ergebnisse einer türkischen Studie (Yılmaz et al. 2023), dass Schulberater: innen, die nicht für die inklusive Arbeit geschult wurden, Klient: innen mit Behinderung oft Mikroaggressionen entgegenbringen, d. h. sie nehmen sie tendenziell als fragiler und unselbstständiger wahr und neigen dazu, sie zu bevormunden, ihre Herausforderungen zu bagatellisieren oder ihre Privatsphäre zu missachten. Ähnliche Phänomene beobachtete Tröster (1988) in Gesprächen mit Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen, in denen eine freundliche zugewandte verbale Kommunikation z. T. von (unbewussten) nonverbalen Signalen der Ablehnung begleitet wurde. Auch im Kontext der Psychotherapie beschreibt Heil (2019) abwertende Reaktionen, die aufgrund der Angst, „selbst einmal behindert zu werden“ (ebd., 18), aufgrund von Mitleid oder aufgrund einer (scheinbaren) Bewunderung dafür entstehen können, dass die Klient: innen „Dinge hinbekommen, die man nie für möglich gehalten hätte“ (ebd., 19). Um solchen Impulsen entgegenzuwirken, ist es wichtig, sich mit den eigenen Einstellungen, Ängsten und Widerständen gegenüber Menschen mit Behinderung auseinanderzusetzen. Hier kann ein erster Schritt sein, die Berührungspunkte mit Behinderung, die z. B. bereits im eigenen Kolleg: innen- oder Bekanntenkreis bestehen, für einen vielfältigeren Blick auf die individuellen Lebenskontexte zu nutzen. Über Begegnung und Kontakt können vereinfachende Zuschreibungen aufgelöst und negative Einstellungen korrigiert werden (Pettigrew/ Tropp 2011). Es kann erlebt werden, dass Menschen mit Behinderung vielfältige Interessen und Kompetenzen haben, die für die Beratungsarbeit genutzt werden können. Familien- und Erziehungsberater: innen sind es gewohnt, sich auf unterschiedliche Klient: innen emotional einzulassen, diese zu verstehen und hilfreiche Beratungsbeziehungen zu gestalten. Im Kontext von Behinderung sind diese Fähigkeiten ebenso beratungsfördernd, jedoch berichten Berater: innen, dass die Schwere und Menge der Belastungen Gefühle von Frustration, Trauer sowie Hilf- und Hoffnungslosigkeit auslösen können (z. B. Walter-Klose 2017). Vor allem das Mitfühlen schmerzhafter Lebenssituatio- 467 uj 11+12 | 2024 Inklusive Beratung aus Sicht der Wirksamkeitsforschung nen, die durch Beratung nicht veränderbar sind (z. B. durch eine eingeschränkte Lebensperspektive der Kinder), kann belastend sein. Hier müssen Berater: innen bereit sein, die damit einhergehenden Gefühle gemeinsam mit ihren Klient: innen auszuhalten, anstatt in eine schützende, bagatellisierend unterstützende oder (übergriffig) fürsorgende Haltung zu verfallen. Dabei kann der Respekt vor der Resilienz des Gegenübers hilfreich sein oder, wie Walter (2020, 266) dies zusammenfasst, die Fähigkeit, demütig zu sein und gleichzeitig zu staunen. Auch das kognitive Verstehen der Lebenssituation der Klient: innen kann eine größere Herausforderung sein, da es erfordert, dass Berater: innen Erfahrungen in einen kulturellen Kontext einordnen (Körner 1998; Clark/ Butler 2020) und ihren eigenen Erfahrungshintergrund reflektieren können (Barkham et al. 2021). Für (nicht behinderte) Berater: innen ist es dabei wichtig, sich bewusst zu machen, dass ihre eigene Erfahrungswelt sich erheblich von der von Familien, in denen Kinder mit Behinderung leben, unterscheiden kann. So ist deren Alltag nicht nur von einem hohen Versorgungsbedarf der Kinder geprägt, sondern auch vom Umgang mit Barrieren, der Auseinandersetzung mit Behörden sowie zahlreichen Terminen mit sozialen und medizinischen Einrichtungen, die Menschen ohne Behinderung häufig nicht bekannt sind (Walter-Klose 2017; Walter 2020, 99ff ). Exklusive Einrichtungen und Hilfesysteme tragen nachhaltig zu dieser Trennung der Lebenssysteme bei. Zur Überwindung dieser Trennung benennt Walter (2020) die Notwendigkeit, mit den Familien in Kontakt zu kommen und ihre Lebenssituationen kennenzulernen. Dabei ist es hilfreich, wenn Berater: innen sich ein Grundwissen zu den verschiedenen Behinderungsformen und ihren Auswirkungen aneignen und sich mit Einrichtungen der Behindertenhilfe vernetzen. Für den Beziehungsaufbau ist es aber vor allem entscheidend, die eigenen Wissenslücken zu erkennen und die Klient: innen als Expert: innen ihrer eigenen Situation anzuerkennen. Diese Haltung des Verstehens sollte sich auch in der organisatorischen Gestaltung des Beratungssettings zeigen. So kann für die Familien bereits der Weg zur Beratungsstelle eine Herausforderung sein, wenn z. B. der Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln erschwert ist oder wenn für den Beratungstermin eine Kinderbetreuung organisiert werden muss. Beratungsstellen können hier schon bei der Terminvereinbarung besondere Bedarfe im Umgang mit Barrieren erfragen und entsprechende Adaptionen vornehmen. Dennoch können behinderungsspezifische Symptome dazu führen, dass Termine kurzfristig abgesagt werden müssen. In diesem Fall ist es hilfreich, wenn Berater: innen dies nicht als Widerstand gegen die gemeinsame Arbeit interpretieren, sondern ihren Klient: innen durch flexible Angebote wie digitale oder aufsuchende Beratung oder das kurzfristige Umlegen von Terminen entgegenkommen. 3.2 Der Erwartungspfad Bei Familien, in denen Kinder mit Behinderung leben, besteht oft Skepsis gegenüber Einrichtungen, die nicht spezifisch auf ihre Problemlagen zugeschnitten sind, da häufig erlebt wird, dass Vorschläge, „Tipps“ und Hilfestellungen der eigenen Lebenslage nicht gerecht werden. Daher ist es empfehlenswert, bereits auf der Internetseite der Beratungsstelle sprachlich und/ oder mit Fotos zu verdeutlichen, dass mit der Beratung aller Familien auch ausdrücklich Menschen mit Behinderung angesprochen werden (Walter 2020). Auch wenn dieses Herausstellen in einer inklusiven Beratungslandschaft überflüssig werden kann, ist es aktuell zu empfehlen, um Erwartungen zu passgenauer Hilfe zu aktivieren. Weiterhin kann das Vertrauen der Familien durch eine barrierefreie Gestaltung der Beratungsstelle sowie durch Texte in einfacher Sprache gefördert werden. Im direkten Kontakt kann eine positive Erwartungshaltung durch die Verständigung über geeignete Kommunikationswege und Beratungsmethoden sowie durch eine adaptive 468 uj 11+12 | 2024 Inklusive Beratung aus Sicht der Wirksamkeitsforschung Auftragsklärung entstehen (ebd.). Auch Äußerungen, die zeigen, dass die Berater: innen über ein Grundwissen zu Behinderungen verfügen und dass sie Inklusion als grundlegende Haltung ihrer Arbeit verstehen, sind hilfreich. 3.3 Der spezifische Pfad Berater: innen begegnen in Gesprächen mit Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen neuen Themen bzw. bekannten Themen in neuen Dimensionen. Beispielsweise haben die Ablösung vom Elternhaus und das Bedürfnis nach Autonomie für Jugendliche mit einer lebenslangen Abhängigkeit eine andere Bedeutung, wenn sie Wege suchen (müssen), den eigenen Willen mithilfe von Assistenzen umzusetzen (z. B. Walter 2020, 147). Auch existenzielle Themen werden relevant, z. B. wenn Personen mit einer tödlichen progredienten Erkrankung über die Gestaltung ihres Lebens nachdenken wollen. In der Bearbeitung solcher Themen sind Normvorstellungen zu gelungenen Entwicklungsprozessen und gesunden Familiensystemen oft nicht förderlich, da sie mitunter Bewältigungsstrategien und Verhaltensweisen pathologisieren, die zum Funktionieren der Klient: innen notwendig sind (ebd.). Das bedeutet, dass die Berater: innen ihr Vorgehen und die Ziele der Beratung immer wieder an den Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Familie ausrichten müssen. Dabei kann es aufgrund der Heterogenität der Beeinträchtigungen schwierig sein einzuschätzen, welche Methoden hilfreich sind und welche Verhaltensziele umgesetzt werden können. Geeignete Methoden und Ansätze für die inklusive Familienberatung werden von Walter (2020) beschrieben und aus dem Bereich der Psychotherapie im Kontext von Menschen mit Lernschwierigkeiten bzw. sogenannter geistiger Behinderung ausgeführt (z. B. Hermes 2023; Stahl 2015). Auch lassen sich die Erkenntnisse aus der Heil- und Sonderpädagogik nutzen, z. B. für Themen wie Biografiearbeit oder die persönliche Zukunftsplanung. Hier liegt ein weiteres Feld der Forschung und Entwicklung in den nächsten Jahren (Walter-Klose 2024). 3.4 Wege zu einer inklusiven Familien- und Erziehungsberatung Die Überlegungen auf der Grundlage des CARE- Modells spiegeln die Notwendigkeit inklusiver Familien- und Erziehungsberatung wider, wie sie in empirischen Studien der Inklusionsforschung herausgearbeitet wurde (Walter-Klose 2017; 2024). Für die Anpassung der Beratungsstellen erscheint dabei ein fünfstufiges Vorgehen sinnvoll. Ein erster Schritt ist das Öffnen des Angebotes für Menschen mit Behinderung und ihre Familien. Dabei ist die Entwicklung einer wertschätzenden Haltung bedeutsam, die sich an den Kompetenzen der Menschen orientiert und Kommunikation und Austausch fördert. Zweitens sollten Menschen mit Beeinträchtigung aktiv in die eigene Arbeit einbezogen werden, z. B. durch das Einholen von Klient: innen-Feedback, durch die Zusammenarbeit mit Selbsthilfeverbänden und durch Vernetzungen mit dem System der Behindertenhilfe. Drittens kann die Kooperation mit Fachkolleg: innen aus dem Bereich Behinderung und Inklusion die Entwicklung des Beratungsteams fördern, z. B. durch Fort- und Weiterbildungen oder die Anstellung von mit Behinderung erfahrenen Mitarbeitenden. In einem vierten Schritt ist eine barrierefreie Gestaltung der Beratungsstelle bedeutsam. So kann beispielsweise über die flexible Anpassung von Räumlichkeiten und Kommunikationsmodalitäten bereits durch die Umgebung eine Willkommenskultur für Menschen mit Behinderung geschaffen werden. Der fünfte Schritt ist die Anpassung der Beratungssituation an die Kompetenzen und Beeinträchtigungen des Gegenübers. Hier können z. B. Assistenzen für Gebärdensprache oder eine einfache Sprache die inklusive Arbeit sowohl im Einzelsetting als auch bei Gruppenangeboten ermöglichen (Walter-Klose 2024). 469 uj 11+12 | 2024 Inklusive Beratung aus Sicht der Wirksamkeitsforschung 4. Fazit Mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung wurde der inklusive Wandel der Gesellschaft angestoßen. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Erziehungs- und Familienberatung zu einem Unterstützungssystem für alle Menschen. Um dieser Anforderung gerecht zu werden, ist es hilfreich, wenn Beratungsstellen sich über ihr Potenzial für die inklusive Arbeit bewusst werden und ihr Angebot an die Bedarfe von Familien mit Angehörigen mit Behinderung anpassen. Eine besondere Ressource ist dabei die Fähigkeit der Berater: innen, mit Menschen unterschiedlicher Altersstufen und den damit verbundenen sprachlichen, kognitiven, wahrnehmungsbezogenen und sozio-emotionalen Voraussetzungen zu arbeiten. Zudem kann der Austausch mit Erziehungs- und Familienberatungsstellen, die bereits erfolgreich in der inklusiven Arbeit sind, Impulse, Bestätigung und Hilfen für den Prozess des Systemwandels bieten. Im Bereich der Heil- und Sonderpädagogik finden sich vielfältige Systeme, in denen Konzepte und Methoden für die Beratung von Familien und Kindern entwickelt und angewendet wurden. Hier können sich Erziehungs- und Familienberatungsstellen und Einrichtungen der Behindertenhilfe durch Vernetzung und Kooperation gegenseitig auf dem Weg in die inklusive Arbeit unterstützen. Dr. Sonja Heidenblut Prof. Dr. Christian Walter-Klose Universität zu Köln Herbert-Lewin-Str. 2 Brieffach: 18 50931 Köln E-Mail: Sonja.Heidenblut@uni-koeln.de Christian.Walter-Klose@uni-koeln.de Literatur Arnold, J., Macsenaere, M., Hiller, S. (2018): Wirksamkeit der Erziehungsberatung. Ergebnisse der bundesweiten Studie Wir.EB. Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau Barkham, M., Lutz, W., Castonguay, L. G. (Hrsg.) (2021): Bergin and Garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change. JohnWiley & Sons, Hoboken (New Jersey) Berg, M. (2019): Die Wirksamkeit systemischer Beratung. V&R unipress, Göttingen Bundeskonferenz Erziehungsberatung (bke) (2022): QS 22 - Qualitätsprodukt Erziehungsberatung. BMFSFJ, Berlin Clark, A. J., Butler, C. M. (2020): Empathy: An Integral Model in Clinical Social Work. Social Work 65 (2), 169 - 177 Flückiger, C., Willutzki, U., grosse Holtforth, M., Wampold, B. E. (2024): Psychotherapie wirkt - Zugewandter Blick in die Zukunft einer modernen, kollaborativen Behandlung. Psychotherapie 69 (4), 33 - 39 Hermes, V. (2023): Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten. Das Praxishandbuch mit systemisch-ressourcenorientiertem Hintergrund. Hogrefe, Bern Kapella, O., Rille-Pfeiffer, C., Lorenz, T., Geserick, C., Buchebner-Ferstl, S. (2022): Studie zur geförderten Familienberatung in Österreich: Klient*innen-Berater*innen-Beziehung und subjektiv wahrgenommene Wirkung aus der Perspektive von Klient*innen und Berater*innen. Österreichisches Institut für Familienforschung an der Universität, Wien Kassebrock, F. (2000): Behinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der Erziehungsberatung. In: Körner, W., Hörmann, G. (Hrsg.): Handbuch der Erziehungsberatung. Bd II. Hogrefe, Göttingen, 77 - 90 Körner, J. (1998): Einfühlung: Über Empathie. Forum Psychoanalyse 14, 1 - 17 Kühnl, B. (2024): Beratung nach § 28 SGB VIII. Jugendhilfe 62 (2), 132 - 138 McLeod, J. (2014): Counselling - Eine Einführung in Beratung. dgvt Verlag, Tübingen Pettigrew, T. F., Tropp, L. R. (2011): When groups meet: The dynamics of intergroup contact. Psychology Press, New York 470 uj 11+12 | 2024 Inklusive Beratung aus Sicht der Wirksamkeitsforschung Retzlaff, R. (2010): Familien-Stärken. Behinderung, Resilienz und systemische Therapie. Klett-Cotta, Stuttgart Roesler, C. (2017): Hohe Klientenzufriedenheit bei begrenzter Problemreduktion. Ein Überblick über die Wirkungsforschung zur Erziehungsberatung und eine empirische Untersuchung des „Diskrepanzphänomens“. Familiendynamik 42 (3), 220 - 231 Rogers, C. R. (2007): The necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change. Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training 44 (3), 240 - 248 Stahl, S. (2015): So und so. Beratung für Erwachsene mit so genannter geistiger Behinderung. Lebenshilfe- Verlag, Marburg Tröster, H. (1988): Interaktionsspannungen zwischen Körperbehinderten und Nichtbehinderten. Verbales und nonverbales Verhalten gegenüber Körperbehinderten. Hogrefe, Göttingen Walter, A. (2020): Inklusive Erziehungs- und Familienberatung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Walter-Klose, C. (2017): Inklusion in der Erziehungsberatung? Aktuelle Situation und Perspektiven des Beratungsangebotes für Familien mit einem Kind mit Behinderung. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (2), 127 - 144 Walter-Klose, C. (2022): Behinderung und Inklusion. In: Department of Community Health (Hrsg.): Community Health: Grundlagen, Methoden, Praxis. Beltz Juventa, Weinheim, 301 - 312 Walter-Klose, C. (2024): Beratung im Kontext Inklusion und Behinderung. Jugendhilfe 62 (2), 105 - 111 Wampold, B. E., Flückiger, C. (2023): The alliance in mental health care: conceptualization, evidence and clinical applications. World Psychiatry 22, 25 - 41 Wampold, B. E., Imel, Z. E., Flückiger, C. (2018): Die Psychotherapiedebatte - Was Psychotherapie wirksam macht. Hogrefe, Göttingen Yılmaz, O., Sart, H., Sakız, H., Albayrak-Kaymak, D. (2023): School counselors’ microaggressions towards students with disabilities in inclusive schools. Current Psychology 43 (11), 9583 - 9590