unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2024.art63d
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2024
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Blended Counseling in der Familienberatung
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2024
Martina Hörmann
Im Feld der Familienberatung zielen aktuelle Konzepte darauf ab, die Beratung vor Ort mit digitalen Möglichkeiten zu verbinden. Diese Kombination hat Potenzial, denn die Grundidee des Blended Counseling ist es, die jeweiligen Vorteile analoger und digitaler Settings systematisch zu nutzen. Der Beitrag basiert auf zwei Projekten im Feld der Beratung von Familien.
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482 unsere jugend, 76. Jg., S. 482 - 489 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art63d © Ernst Reinhardt Verlag Blended Counseling in der Familienberatung Im Feld der Familienberatung zielen aktuelle Konzepte darauf ab, die Beratung vor Ort mit digitalen Möglichkeiten zu verbinden. Diese Kombination hat Potenzial, denn die Grundidee des Blended Counseling ist es, die jeweiligen Vorteile analoger und digitaler Settings systematisch zu nutzen. Der Beitrag basiert auf zwei Projekten im Feld der Beratung von Familien. 1 von Martina Hörmann Jg. 1963; Dr. phil., Dipl.-Päd., Professorin für Beratung an der Hochschule für Soziale Arbeit Fachhochschule Nordwestschweiz Einführung Familienberatung 2 ist ein etabliertes beraterisches Feld, in dem die Potenziale der Digitalisierung bereits verschiedentlich beschrieben wurden (vgl. Dreier 2022; Wenzel 2018). Wenzel wies darauf hin, dass die Digitalisierung zum einen neue Beratungssettings eröffnet, zum anderen zugleich aber auch zum Thema bzw. Inhalt der Beratung werden kann, wenn beispielsweise Mediennutzung zu Konflikten in Familien führt. Basis all dieser Überlegungen ist der Wandel der Alltagskommunikation in Familien, welcher durch eine veränderte Mediennutzung geprägt ist. In diesem Beitrag werden verschiedene Erkenntnisse aus zwei Forschungs- und Entwicklungsprojekten im Feld der Familienberatung näher erläutert, um auf diesem Weg Potenziale und auch Herausforderungen von Blended Counseling zu verdeutlichen. Das Blended-Counseling-Modell von Hörmann et al. (2019, 10f ) umfasst die Dimensionen der Klient: innen sowie die beratungsfachliche und die organisationale Dimension. Im Projekt mit der Mütter- und Väterberatung in Zürich in den Jahren 2020/ 2021 wurden insbesondere die ersten beiden Dimensionen näher untersucht. Im Entwicklungsprojekt mit den Caritas-Erziehungsberatungsstellen aus Nordrhein-Westfalen (DiCV 2023) wurden alle drei Dimensionen gleichermaßen in den Blick genommen. 3 Eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Leitungspersonen von Erziehungsberatungsstellen, beschäftigte sich in drei Workshops insbesondere mit Aspekten der organisationalen Realisierung von Blended Counseling. Da diese Dimension von Blended Counseling bisher eher wenig betrachtet wurde, wird ihr in diesem Beitrag etwas mehr Raum gegeben. Der Blick auf die (potenziellen) Klient: innen Im Zentrum der ersten Dimension des Blended- Counseling-Modells steht die Frage, welche Klient: innen von einem Blended-Counseling- Prozess profitieren könnten und welche eher weniger. Darüber hinaus werden zu Beginn einer Konzeptentwicklung im Blended Counseling 483 uj 11+12 | 2024 Blended Counseling in der Familienberatung Impactfaktoren beschrieben, also die Nutzenerwartungen und Motive, die konkret mit der Implementierung von Blended Counseling verbunden werden. Dabei können feldübergreifende und feldspezifische Impactfaktoren unterschieden werden (vgl. Hörmann 2022; Hörmann et al. 2023). Wo Blended Counseling in der Beratung von Paaren oder Familien besonders hilfreich sein könnte, sollen exemplarisch die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen. Beratung von hochstrittigen (Eltern-)Paaren Blicken wir beispielsweise auf die Beratung von hochstrittigen (Eltern-)Paaren, also Personen, bei denen das Anliegen durch starke Gefühle (wie Wut oder Trauer) überlagert wird und/ oder die unfreiwillig (z. B. auf Veranlassung des Gerichts) kommen (vgl. DiCV 2023, 12), so zeigt sich der feldspezifische Impactfaktor, mithilfe von Blended Counseling eine Beratung auch bei Hochstrittigkeit zu ermöglichen: So kann ein Start der Beratung im Videosetting sinnvoll sein, denn jede beteiligte Person hat im gemeinsamen digitalen Beratungsraum ihre eigene „Kachel“, was beruhigend wirkend kann, wenn es Paare oder Ex-Paare aufgrund der hochgradig emotionalisierten Situation nicht oder kaum gemeinsam in einem Beratungsraum vor Ort aushalten können. Zudem gibt der Rahmen Videoberatung weitere technische Möglichkeiten, um die Emotionen bei Bedarf zu regulieren und überhaupt in einen Gesprächsmodus zu kommen. Die Beteiligten können den Ton selbstständig leiser machen oder bei Bedarf ganz abschalten - beispielsweise, wenn das Gegenüber (zu) laut wird. So kann über das Videosetting ein Einstieg in die Beratung von hochstrittigen Paaren bzw. Eltern gelingen und es kann schrittweise auch ein Beratungssetting vor Ort in den Blended-Prozess einbezogen werden. Dieses Beispiel zeigt, dass das Videosetting neben eher feldübergreifenden Impactfaktoren wie einer räumlichen Flexibilisierung der Beratung auch gezielt beraterisch genutzt werden kann. Bedarfsorientierte Flexibilisierung von Beratungsprozessen In der Mütter- und Väterberatung werden Familien ab Geburt des Kindes bis zum Alter von 5 Jahren beraten und begleitet. Dabei gibt es unterschiedlich intensive Phasen der Beratung, sodass die beteiligten Berater: innen im Rahmen des Projektes ein Blended Counseling-Szenario 4 mit dem Titel „Digital unterstützte Pause“ entwickelten. „Um mit Familien in Kontakt zu bleiben, bzw. um diesen niedrigschwellige Kontaktmöglichkeiten in den Zwischenphasen zu ermöglichen, werden am Ende einer intensiveren Beratungsphase verschiedene kommunikative Settings angeboten. Dazu zählen insbesondere die Kontaktaufnahme per Messenger sowie die Kurzberatung per mobiler Videokommunikation. Hier sollen die digitalen Kommunikationssettings also gezielt für die Gestaltung der weniger intensiven Begleitphasen genutzt werden. Im Blick sind dabei insbesondere psychisch, physisch und/ oder sozial belastete Eltern, junge Eltern, überforderte und ängstliche Eltern sowie alleinerziehende Elternteile“ (Camenzind et al. 2021, 22). Im Fokus steht die bedarfsorientierte Flexibilisierung eines langjährigen Beratungs- und Begleitprozesses: „Durch niederschwellige Kontaktmöglichkeiten bleiben Beraterin und Familie in Kontakt und können diesen bei Bedarf wieder intensivieren. Ebenso kann das Szenario für die Nachsorge und im Ablöseprozess genutzt werden. Auf diese Weise sollen die Passgenauigkeit von Beratungsangeboten verbessert und die vorhandenen Ressourcen effizient eingesetzt werden. Es sind demzufolge nicht immer relativ aufwändige Face-to-Face-Gespräche notwendig, um miteinander im Kontakt zu bleiben“ (ebd.). Niedrigschwellige Beratung für junge Menschen Durch das Angebot der Erziehungsberatungsstellen sollen auch junge Menschen beraten und unterstützt werden. Teilweise ist für diese 484 uj 11+12 | 2024 Blended Counseling in der Familienberatung Zielgruppe die Hemmschwelle hoch, telefonisch einen Termin zu vereinbaren und dann eine Beratungsstelle aufzusuchen Bei jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen, bei Schul- und Kontaktproblemen oder auch bei jungen Menschen ohne eigenes Anliegen, die also beispielsweise von Eltern oder Lehrkräften an die Beratungsstelle verwiesen werden, kann es deshalb sinnvoll sein, einen niedrigschwelligen Zugang zur Beratung zu ermöglichen, um auf diesem Weg die Hürde für die Inanspruchnahme des Beratungsangebotes zu senken. Hinzu kommt, dass digitale Beratungssettings direkt an der Lebenswirklichkeit von jungen Menschen anknüpfen (Külling et al. 2022). Diese Ausgangslage wurde im Blended-Counseling-Szenario „Beratung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen“ aufgegriffen und weiter ausgearbeitet (vgl. DiCV 2023, 32f ). Die beratungsfachliche Dimension Die beratungsfachliche Dimension von Blended Counseling „umfasst den Beratungsprozess im engeren Sinne, d. h. die beratungsfachlichen Überlegungen sowie die Beratungsperson mit ihren Qualifikationen, Kompetenzen und Umgebungsfaktoren sowie dem methodischen Vorgehen zur Gestaltung des Beratungsprozesses“ (Hörmann et al. 2023, 58). Das Blended-Counseling-Erstgespräch Exemplarisch für diese Dimension werden hier die Überlegungen zu einem Blended-Counseling-Erstgespräch näher betrachtet: Wann und wie wird das Angebot von Blended Counseling den Klient: innen unterbreitet? Dies ist auch von der Gesamtkonzeption des Beratungsangebotes abhängig, also inwieweit der Start des Beratungsprozesses „klassisch“ erfolgt oder bereits über andere Zugangsmöglichkeiten wie beispielsweise Onlineberatung (vgl. Hörmann et al. 2020). Bei einem Blended-Counseling-Erstgespräch 5 empfiehlt es sich, mit der Klientin bzw. dem Klienten folgende Punkte zu klären (vgl. DiCV 2023; Hörmann et al. 2019): ➤ Erste Einschätzung zur Medienaffinität der Klient: innen: Berater: innen sollten ihre Vorannahmen zu den Kommunikationsgewohnheiten ihrer Klient: innen mittels einer strukturierten Abfrage überprüfen ➤ Abfrage bevorzugter Mediennutzung: Welche kommunikativen Settings werden gerne und/ oder oft genutzt? ➤ Verfügbarkeit von Geräten ➤ Verfügbarkeit Internetzugang/ Datenvolumen ➤ Information: Welche Kommunikationsmöglichkeiten bietet die Beratungsstelle an? Ggf. kurze Info zu den Vor- und Nachteilen der verschiedenen Kommunikationsmöglichkeiten sowie zu den jeweiligen technischen Voraussetzungen ➤ Information zur Erreichbarkeit, Antwortfrequenz und -schnelligkeit von Seiten der beratenden Person: Dies ist insbesondere bei asynchroner Kommunikation via Mail, Messenger oder Sprachnachricht von Bedeutung ➤ Sensibilisierung für Vertraulichkeit und Datenschutz ➤ Ggf. Unterstützung bei der Registrierung auf einer datenschutzkonformen Plattform oder Hilfestellung bei der Installation von Tools Die Länge der Liste macht deutlich, dass professionelles Blended Counseling eine angemessene Vorbereitung benötigt und insofern auch voraussetzungsvoll ist. Dies soll dazu beitragen, dass sich die Beteiligten im Beratungsprozess möglichst auf die Inhalte konzentrieren können und dass zudem späteren Überlastungen oder Herausforderungen gezielt vorgebeugt wird (vgl. dazu z. B. den nachfolgenden Abschnitt zur Psychohygiene der Beratenden). In der Beratung von Familien kann sich die Komplexität noch entsprechend erhöhen, wenn die Beteiligten verschiedene digitale Beratungs- 485 uj 11+12 | 2024 Blended Counseling in der Familienberatung settings präferieren. Es gilt zwischen den jeweiligen Vorlieben und beratungsfachlichen Überlegungen zur Wahl eines kommunikativen Settings sorgsam abzuwägen. Auch der gezielte Wechsel eines kommunikativen Settings im Beratungsprozess sollte jeweils beides im Blick behalten. 6 Die organisationale Dimension von Blended Counseling Wie bereits oben angeführt, wurden im Projekt mit den Erziehungsberatungsstellen erstmalig auch organisationale Aspekte für ein Blended- Counseling-Konzept konkretisiert, diskutiert und verschriftlicht (DiCV 2023, 16ff ). In diesem Beitrag werden einige Aspekte 7 näher betrachtet, die bisher im Diskurs noch wenig thematisiert wurden. 8 Medienkompetenz und Qualifikation der Beratenden Nicht nur aus beraterischer Sicht, sondern auch aus der Perspektive der Organisation ist die Qualifikation der Beratenden ein wichtiger Aspekt, um ein professionelles Blended Counseling zu gewährleisten. Das 2023 veröffentlichte Kompetenzmodell für Blended Counseling (Camenzind et al. 2023) umfasst sieben Kompetenzbereiche, die jeweils mit drei bis sechs Kompetenzen konkretisiert werden: 1. Motivation und Bewusstsein für Beratung im digitalen Setting 2. Beratungsbeziehung und Beratungssystem 3. Kommunikative Settings und Konzeption von Blended Counseling 4. Tools und Technik für Blended Counseling 5. Datenschutz und Vertraulichkeit für Beratung im digitalen Setting 6. Reflexion und Evaluation 7. Förderung der Medienkompetenz der Klient: innen Dabei beziehen sich die Kompetenzbereiche 3, 4, 6 und 7 explizit auf Blended Counseling, während die Kompetenzbereiche 1, 2 und 5 sowohl für Blended Counseling als auch für die Beratung im digitalen Setting insgesamt gelten. Das Modell kann sowohl von einzelnen Berater: innen als auch organisational genutzt werden. Aus einem Selbsteinschätzungsbogen zum Kompetenzmodell können sowohl Berater: innen als auch Organisationen Qualifizierungsbedarfe ableiten. 9 Zudem gilt es organisational zu klären, wie auch weniger medienaffine Fachpersonen an die neuen Möglichkeiten herangeführt werden können: Hier wurden mit Mentoringmodellen und Tandemlösungen bereits gute Erfahrungen gemacht (vgl. Hörmann et al. 2019). Auch kann es gestufte Modelle von Qualifikation geben, sodass beispielsweise einige Schlüsselpersonen eine umfangreiche Weiterbildung absolvieren und anschließend innerhalb der Organisation als Multiplikator: innen zur Verfügung stehen für diejenigen, die nur eine kurze Schulung zu Blended Counseling erhalten haben. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass eine Qualifikation zu Blended Counseling beraterisch zwei verschiedene Ebenen thematisiert. Zum einen geht es um die systematische Prozessgestaltung, die in der nachfolgenden Kompetenz konkretisiert wird: „Beratende sind in der Lage, aus verschiedenen kommunikativen Settings jene zu wählen, die zur Bedürfnislage der Klient: innen sowie zur Zielsetzung des Prozesses passen“ (Camenzind et al. 2023, 68). Zum anderen brauchen Berater: innen die Kompetenz, in den jeweiligen kommunikativen Settings Video, Mail, Messenger, Telefon kompetent beraten zu können, d. h. sie sollten in der Lage sein, „sich dem jeweiligen kommunikativen Setting angepasst auszudrücken und auf das Gegenüber zu reagieren“ (ebd.). Zugleich haben verschiedene Evaluationen der Erprobung von Blended Counseling gezeigt (Camenzind et al. 2021; Hörmann et al. 2019), dass es sinnvoll ist, wenn Berater: innen neben dem bewährten Face-to-Face-Setting zunächst nur ein bis zwei 486 uj 11+12 | 2024 Blended Counseling in der Familienberatung weitere Settings zusätzlich anbieten. Dass sich Berater: innen in einem kommunikativen Setting sicher fühlen, ist eine Voraussetzung für gelingendes Blended Counseling. Im Hinblick auf die konkrete Arbeitsorganisation für ein professionelles Blended Counseling gilt es, mehrere Aspekte näher zu betrachten und dazu organisationale Vorgehensweisen festzulegen. Erreichbarkeit und Antwortschnelligkeit Ein wichtiger Teil der organisationalen Dimension sind Klärungen zur Erreichbarkeit und Antwortschnelligkeit, insbesondere bei asynchronen kommunikativen Settings wie Mail und schriftbasiertem Messenger: Wie schnell erhält der Klient bzw. die Klientin eine Antwort? Wann werden asynchrone Anfragen beantwortet? 10 So kann beispielsweise die Nutzung eines Messengers hohe Erwartungen hinsichtlich Erreichbarkeit und Antwortschnelligkeit generieren, da Klient: innen gewohnt sind, dass im Alltag zeitnah eine Antwort erfolgt. Auch wenn Messenger rein technisch betrachtet für eine zeitversetzte Kommunikation konzipiert sind, so werden sie doch häufig quasisynchron genutzt. Insofern ist es wichtig zu verdeutlichen, dass beispielsweise auf eine Nachricht via Messenger an einem Samstagvormittag frühestens am Montag eine Antwort zu erwarten ist. Auch ist es sinnvoll, dass hier in einem Beratungsteam eine Absprache erfolgt, damit die beteiligten Berater: innen diesbezüglich einheitlich agieren. Im Hinblick auf die Antwortschnelligkeit ist eine deutliche Abgrenzung von Krisenberatungsangeboten notwendig, die in der Regel rund um die Uhr ansprechbar sind. Diese Rahmenbedingungen sollten gegenüber (potenziellen) Klient: innen explizit kommuniziert werden, entweder als Erstinformation über die Website oder im Blended-Counseling-Erstgespräch. Im Blended-Counseling-Konzept für die Erziehungsberatungsstellen wurden „einige allgemeine Empfehlungen angeführt, die jeweils in den Erziehungsberatungsstellen vor Ort entsprechend konkretisiert respektive angepasst werden sollten. Bei einer Mailberatung ist es in der Regel üblich, innerhalb von 48 - 72 Stunden werktags zu antworten. Im Blended Counseling kann dies je nach Einschätzung der Situation des Klienten bzw. der Klientin auch entsprechend angepasst werden. Insbesondere für die Messengerkommunikation empfiehlt es sich für die Beratenden, mehrmals in der Woche kürzere Zeitfenster (z. B. 30 - 60 Minuten) für die Beantwortung von Messengeranfragen einzuplanen. Bei einer Messengerkommunikation kann dann den Klient: innen mitgeteilt werden, dass in der Regel am selben Tag geantwortet wird, sofern dieser ein Arbeitstag ist (bei Teilzeitberatenden empfiehlt es sich, zu Beginn eines Blended- Counseling-Prozesses den Klient: innen die eigenen Arbeitstage zu nennen)“ (DiCV 2023, 17). Die Erreichbarkeit ist jedoch auch bei der Nutzung der Chatkommunikation ein Thema. So gibt es die Möglichkeit, eine Chatberatung mit Terminvereinbarung anzubieten oder eine Art Chatsprechstunde vorzuhalten. Von organisationaler Seite sorgsam zu prüfen sind Überlegungen einer Livechat-Beratung, bei der Klient: innen beim Surfen auf einer Beratungswebsite direkt und unmittelbar mit Berater: innen in Kontakt treten können. Diese Variante ist ausgesprochen ressourcenintensiv, wenn Fachpersonen in ausreichender Anzahl kurzfristig verfügbar sein sollen. Zwar gibt es erste Angebote, welche versuchen, dies über die Chatberatung via KI zu gewährleisten, dies gilt es im Hinblick auf die Qualität jedoch noch näher zu untersuchen (vgl. Engelhardt 2023). Arbeitsorganisation: Einsatzplanung und Arbeitsteilung Die Einsatzplanung für synchrone kommunikative Settings wie Video und Telefonberatung ähnelt dem Vorgehen bei der Face-to-Face- 487 uj 11+12 | 2024 Blended Counseling in der Familienberatung Beratung, d. h. in der Regel wird ein Termin vereinbart. Werden Video und Telefon gezielt für ein Kurzberatungsangebot genutzt, so sollten dafür Zeitfenster eingeplant und den Klient: innen kommuniziert werden. Zunächst ungewohnt für Berater: innen kann es sein, zudem auch Zeitfenster für die Beantwortung von Mailberatungs- und Messenger-Anfragen (schriftlich oder via Sprachnachricht) einzuplanen. Diese sind schwieriger planbar, da unklar ist, wann wie viele Anfragen kommen und wie hoch der Zeitbedarf für eine Beantwortung ist. Dreier (2022) thematisierte anschaulich, wie sehr die veränderten Lebenswelten von Klient: innen der Familienberatung auch eine Weiterentwicklung der Angebotsstruktur erfordern. Dies bedeutet beispielsweise, dass Klient: innen, je nach ihren individuellen zeitlichen Belastungen, Beratungsangebote in Randzeiten favorisieren, was für Beratende teilweise eher ungewohnt erscheint. Hier können digitale Formate neue Möglichkeiten generieren, wenn beispielsweise Videoberatung in Randzeiten angeboten wird. Dies kommt den Wünschen der Klientel entgegen und kann zugleich auch Sicherheitsaspekte in Bezug auf die Beratenden berücksichtigen, wenn diese die Beratung in Randzeiten aus dem Homeoffice durchführen können (vgl. Hörmann et al. 2024). Bezogen auf den Umgang mit Abwesenheiten (z. B. aufgrund von Krankheit oder Urlaub) könnten ggf. dieselben Regeln gelten, wie auch bei der Abwesenheit im Rahmen eines Beratungsprozesses, der persönlich vor Ort läuft (DiCV 2023). So könnte beispielsweise ein Tandemkonzept mit gegenseitiger Vertretung bei geplanten Abwesenheiten sowie bei Neuanfragen auch auf Blended Counseling übertragen werden, wohingegen bei längeren Abwesenheiten stärker auch technische Möglichkeiten genutzt werden könnten, z. B. der gemeinsame Zugang zu einem Account oder eine elektronische Abwesenheitsnotiz mit Verweis auf andere Möglichkeiten (ebd.). Psychohygiene der Beratenden Bisher noch wenig im Fokus war die Psychohygiene der Beratenden im Rahmen von Blended Counseling. Zunächst begeistert die Vielzahl der Möglichkeiten, um Beratung flexibler und bedarfsorientierter zu gestalten. Zugleich gilt es jedoch einer Überforderung der Beratenden vorzubeugen. Dies wurde bereits beim Aspekt der Qualifikation mit Blick auf einen schrittweisen Einbezug von kommunikativen Settings in das Blended Counseling beschrieben. In der konkreten Realisierung gilt es, vor allem die bei Klient: innen aus der digitalen Alltagskommunikation möglicherweise abgeleitete Erwartung einer „Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit der Beraterin bzw. des Beraters im digitalen Setting“ zu begegnen. Eine sorgfältige Planung und eine konzeptionelle Fundierung können dazu beitragen, die „Fallstricke“ von Blended Counseling zu vermeiden und die Psychohygiene zu gewährleisten. Sowohl die Angebote in Randzeiten als auch der Wechsel zwischen Homeoffice und Arbeit in der Beratungsstelle sollten auch unter Berücksichtigung von Psychohygieneaspekten geplant werden. „So soll eine gute Balance zwischen Lebensweltorientierung auf der einen Seite und einer Fürsorge des Trägers gegenüber seinen Mitarbeitenden gefunden werden, nicht zuletzt, um der Gefahr von Überlastung und Burnout und somit auch einer ggf. potenziell sinkenden Attraktivität des Arbeitsplatzes vorzubeugen“ (DiCV 2023, 18). Realisierung von Blended Counseling im mobilen Arbeiten Seit der Pandemie haben sich die zeitlichen Anteile der Arbeit im Homeoffice auch bei Beratenden erhöht. Wenngleich es naheliegend wäre, die Planung von digitalen Beratungsgesprächen (z. B. per Video) an der eigenen Wochenplanung hinsichtlich der Arbeitsorte auszurichten, so sollte dies nicht der alleinige Aspekt sein. So hatte beispielsweise ein Beratungstoolanbieter zeitweise ein besonders 488 uj 11+12 | 2024 Blended Counseling in der Familienberatung günstiges Angebot für den sogenannten „Digital Friday“, sodass demzufolge Beratungen im digitalen Setting vor allem an einem Freitag im Homeoffice stattfinden sollten. Da im Blended Counseling eine gute Balance zwischen den Erfordernissen der Klient: innen mit ihren Lebensweltrealitäten und arbeitsorganisatorischen Aspekten gefunden werden sollte, gilt es solche Überlegungen auch immer wieder zu hinterfragen. Dies erfordert jedoch auch eine angemessene Ausstattung, damit Berater: innen eine vertrauliche datenschutzkonforme Beratung sowohl in der Beratungsstelle als auch im Homeoffice anbieten können. „Die Rahmenbedingungen für mobiles Arbeiten sollten in der Regel in der Beratungsstelle oder auf Trägerebene konkretisiert und festgelegt werden. (…) Hier gilt es eine sorgsame Abwägung zwischen den Vorteilen und den Herausforderungen des mobilen Arbeitens vorzunehmen“ (DiCV 2023, 18). Fazit Blended Counseling bietet ein großes Potenzial. Es liegen aus zahlreichen Beratungsfeldern zwischenzeitlich Erfahrungen und Erkenntnisse vor. Dieses Potenzial zu nutzen, mit Herausforderungen professionell umzugehen und die steten Weiterentwicklungen aufgrund der digitalen Transformation proaktiv anzugehen - das bleibt eine Zukunftsaufgabe für Beratende, nicht nur, aber auch in der Familienberatung. Anmerkungen 1 Vgl. Camenzind et al. 2021; Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln (DiCV) 2023 2 Die Projekte waren in der Mütter- und Väterberatung in der Schweiz und in der Erziehungsberatung in Deutschland angesiedelt. Projektübergreifend wird deshalb der etwas umfassendere Begriff der Familienberatung verwendet. Die Erziehungsberatung umfasst dabei auch die Beratung von Jugendlichen. 3 Beide Projekte haben zahlreiche Erkenntnisse generiert, sodass sich ein Blick in die online verfügbaren Schlussdokumente lohnt, da im vorliegenden Beitrag nur einige Aspekte thematisiert werden können. 4 Ein Blended-Counseling-Szenario „dient als konzeptionelle Hintergrundfolie eines Beratungsverlaufs im Blended-Format. Dazu werden vorab verschiedene konzeptionelle Überlegungen diskutiert und schriftlich fixiert. Ein Szenario ist als ‚roter Faden‘ der Konzeption zu verstehen und nicht als konkrete Handlungsanweisung“ (Hörmann et al. 2023, 69). 5 Die Möglichkeit des Blended Counseling und die damit einhergehenden Abklärungen betreffend Medienaffinität, Mediennutzung, Geräteausstattung etc. können auch erst im zweiten oder dritten Gespräch eines Beratungsprozesses thematisiert werden, damit im ersten Gespräch der Kontaktaufbau und die Auftrags- und Zielklärung im Mittelpunkt stehen können. 6 Vgl. dazu die exemplarischen Fallverläufe in Camenzind et al. 2021, die verdeutlichen, „dass die Steuerung des Medienwechsels in einem Zusammenspiel von Wünschen oder Entscheidungen des bzw. der Klient: in und beratungsfachlichen Erwägungen erfolgt“ (Hörmann et al. 2023, 73). 7 Bei der Betrachtung organisationaler Aspekte zeigt sich, dass diese eher beratungsfeldübergreifend sind als die beiden zuvor betrachteten Dimensionen. Entscheidend ist hier eher die Organisationsstruktur: Eine Freiberuflerin stellt andere Überlegungen an als eine kleine Beratungsorganisation und diese wiederum andere als ein großer Wohlfahrtsverband. 8 Die organisationalen Aspekte um technische Lösungen, Datenschutz und Datensicherheit, Ausstattung/ Hard- und Software, Finanzierung, Arbeitsprozesse, Qualitätsmanagement werden in diesem Beitrag aus Platzgründen nicht thematisiert (vgl. dazu DiCV 2023; Hörmann et al. 2019; Hörmann et al. 2023; Silfverberg/ Hörmann i. E.). 9 Der Selbsteinschätzungsbogen wird in elektronischer Form als Anhang zum Buch zur Verfügung gestellt. In einer Paper-Pencil-Version ist er hier erhältlich: https: / / www.blended-counseling.ch/ wp-content/ uploads/ sites/ 56/ 2023/ 07/ HSA_FHNW_Selbstein schaetzungsbogen_Blended-Counseling_2022.pdf, 5. 8. 2024 10 Hier versuchen auch Fachverbände durch gezielte Informationen aufzuklären und die Wissensbasis aufseiten der Adressat: innen zu verbessern (vgl. dazu beispielsweise die„Information für Ratsuchende“ der AG Digitalisierung und Beratung der Deutschen Gesellschaft für Beratung e.V. (2024). Prof. Dr. Martina Hörmann Hochschule für Soziale Arbeit Fachhochschule Nordwestschweiz E-Mail: martina.hoermann@fhnw.ch www.blended-counseling.ch 489 uj 11+12 | 2024 Blended Counseling in der Familienberatung Literatur Camenzind, G., Hörmann, M., Silfverberg, M. (2023): Medienkompetenz Blended Counseling. DGVT-Verlag, Tübingen Camenzind, G., Hörmann, M., Tschopp, D. (2021): Medienkompetenz als Basisvariable für Blended Counseling: Ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt in der Mütter- und Väterberatung. Schlussbericht. Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten Deutsche Gesellschaft für Beratung e.V. (DGfB) (2024): Woran erkenne ich gute Beratung mit digitalen Medien? Eine Information für Ratsuchende. In: https: / / dach verband-beratung.de/ wp-content/ uploads/ 2024/ 03/ 240321_DGfB_Beratungdigital_Woran-erkenneich-gute-Beratung-mit-digitalen-Medien.pdf, 5. 8. 2024 Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln (DiCV) (2023): Blended Counseling in der Erziehungsberatung der Caritas. In: https: / / www.caritasnet.de/ export/ sites/ dicv/ onlineberatung/ .content/ .galleries/ down loads/ C_BlendedCounseling_L3.pdf, 5. 8. 2024 Dreier, R. (2022): Acht Thesen zur Digitalisierung in der Familienberatung und Familienbildung. Unsere Jugend 74, 122 - 129 Engelhardt, E. (2023): Berät bald der Bot! ? Zur Bedeutung von KI-Textgeneratoren in der (Online-)Beratung. Zeitschrift Jugendhilfe (61) 5, 404 - 409 Hörmann, M. (2022): Digital und analog im Mix - neue Potenziale in der Beratung. In: https: / / www. sozialinfo.ch/ digitalisierung/ fokusartikel/ digitalund-analog-im-mix-neue-potenziale-in-der-beratung, 5. 8. 2024 Hörmann, M., Aeberhardt, D., Flammer, P., Tanner, A., Tschopp, D., Wenzel, J. (2019): Face-to-Face und mehr - neue Modelle für Mediennutzung in der Beratung. Schlussbericht zum Projekt. Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten Hörmann, M., Tschopp, D., Wenzel, J. (2023): Digitale Beratung in der Sozialen Arbeit. Kohlhammer Verlag, Stuttgart Hörmann, M., Wüthrich, B., Silfverberg, M. (2024): Potenziale der Distanzberatung und Erfahrungen der RAV mit Distanzberatung. Schlussbericht zur Studie im Auftrag des SECO. Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten Külling, C., Waller, G., Suter, L., Willemse, I., Bernath, J., Skirgaila, P., Streule, P., Süss, D. (2022): JAMES - Jugend, Aktivitäten, Medien - Erhebung Schweiz. Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Silfverberg, M., Hörmann, M. (i. E.): Wegweiser für den digitalen Möglichkeitsraum - beratungsfachliche Kriterien zur Auswahl technischer Lösungen. Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung Wenzel, J. (2018): Familien im Medienzeitalter. Digitalisierung in der Beratungspraxis. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen
