unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2024.art02d
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Autoritäre Versuchungen
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2024
Esther Lehnert
Spätestens seit der „Heimkampagne“ waren autoritäre und repressive Praxen in Heimerziehung/geschlossener Unterbringung (GU) in die Kritik geraten. Über einen langen Zeitraum und gegen Widerstände wurde das Handlungsfeld demokratisiert und GU grundsätzlich hinterfragt. Seit Kürzerem erfährt die GU jedoch wieder Aufwind. Der Beitrag skizziert die Entwicklung und nimmt diese vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Rechtsrucks in den Blick.
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2 unsere jugend, 76. Jg., S. 2 - 9 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art02d © Ernst Reinhardt Verlag von Prof. Dr. Esther Lehnert Jg. 1966; Erziehungswissenschaftlerin, Dr. phil., Professorin für Geschichte, Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Forschungsschwerpunkte: Gender und Rechtsextremismus, sozialpädagogische Strategien im Umgang mit Rechtsextremismus, Soziale Arbeit im Nationalsozialismus Autoritäre Versuchungen Autoritäre Traditionen in der Praxis der geschlossenen Unterbringung und gesellschaftlicher Rechtsruck Spätestens seit der „Heimkampagne“ waren autoritäre und repressive Praxen in Heimerziehung/ geschlossener Unterbringung (GU) in die Kritik geraten. Über einen langen Zeitraum und gegen Widerstände wurde das Handlungsfeld demokratisiert und GU grundsätzlich hinterfragt. Seit Kürzerem erfährt die GU jedoch wieder Aufwind. Der Beitrag skizziert die Entwicklung und nimmt diese vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Rechtsrucks in den Blick. Es sind in der Regel Berichterstattungen über skandalöse Umstände in (geschlossenen) Heimen, die diese Form der Sozialen Arbeit zum Gegenstand des öffentlichen Interesses machen. Das war bereits in den Berichterstattungen über die „Fürsorgehöllen“ am Ende der Weimarer Republik der Fall und auch die „Heimkampagne“ der 68er-Bewegungen wurde durch mediale Berichterstattungen begleitet. Gleichermaßen schnell verschwand und verschwindet das Thema und damit auch das Handlungsfeld aus dem öffentlichen Interesse. Wie zentral - auch für ein vielfältiges, demokratisches und gewaltfreies Leben aller - ein kontinuierliches gesellschaftliches Interesse für das Handlungsfeld - und damit in erster Linie auch für die dort untergebrachten Kinder und Jugendlichen - wäre, verdeutlichen die Artikel von Antea Mandić und Christian Mohr. Der Heimerziehung allgemein und der geschlossenen Unterbringung (GU) (oder auch freiheitsentziehende Maßnahme/ FM) im Besonderen liegen autoritäre, gewaltförmige und repressive Traditionen zugrunde. Die jeder Sozialen Arbeit inhärente Spannung von Sorge und Kontrolle erhält in diesem Handlungsfeld eine besondere Bedeutung. Ungeachtet wichtiger demokratisierender Entwicklungen gab und gibt es repressive Traditionen („Schwarze Pädagogik“), die auch vergeschlechtlicht sind („sexuelle Gefährdung“). (Auf die grundsätzliche nach wie vor vergeschlechtlichte Dimension von Einweisungspraxen und damit zusammenhängenden Stereotypisierungen vgl. den Artikel von Christian Mohr in diesem Heft und auch Hoops/ Permien 2006, 45ff ). Spätestens mit der Überarbeitung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes/ KJHG 1991 haben 3 uj 1 | 2024 Autoritäre Versuchungen die lang erkämpften Reformen im Kontext der Heimerziehung eine weitreichende juristische Fundierung erhalten und die Heimlandschaft hat sich seit den 1990er-Jahren stark ausdifferenziert: Es gibt u. a. Wohngemeinschaften, betreutes Einzelwohnen, intensivpädagogische Angebote und Unterbringung im Ausland. Insbesondere Wohnformen wie Wohngemeinschaften und betreutes Einzelwohnen sind geprägt durch die Prinzipien Lebensweltorientierung und Lebensnähe. Diese Ausdifferenzierung wurde begleitet von einer Professionalisierung des gesamten Arbeitsfelds. Gleichzeitig wird kritisiert, dass insbesondere die Ausdifferenzierung mögliche Selektionsprozesse verstärke (vgl. Lutz 2020, 183). Einerseits ermöglicht Ausdifferenzierung eine zielgerichtetere Bearbeitung spezifischer Problemlagen und Bedarfe, möglich ist das jedoch immer „um den Preis der Aussonderung“ (Lutz 2020, 186). Seit einigen Jahren ist wiederum Bewegung im Diskurs über geschlossene Unterbringung zu beobachten. Konsens besteht darüber, dass die Forderungen nach einer Ausweitung von GU erneut lauter geworden sind. Die bereits weiter oben im Text erwähnte Heimkampagne gegen die gewaltförmigen Zustände in der Heimerziehung fand in einem spezifischen gesellschaftlichen Klima statt. Um diese Aussage nachzuvollziehen, lohnt ein kurzer Blick auf die damaligen gesellschaftlichen Zustände in der BRD - insbesondere auch die Zustände in der Heimerziehung. Es waren die „68er“, also unterschiedliche soziale Bewegungen, wie die Studentenbewegung, die Frauenbewegung und die „außerparlamentarische Opposition/ APO“, die gegen Ende der 1960er- Jahre grundsätzliche gesellschaftliche Praxen, autoritäre Traditionen, eine gesamtumfängliche Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit infrage stellten und damit auch neue Fragen nach Schuld und Verantwortung für den Nationalsozialismus formulierten. Neben einer Kritik an der imperialistischen Politik der USA in Vietnam und einer grundsätzlichen am kapitalistischen System geriet auch der autoritäre, repressive und gewaltförmige Umgang mit Kindern und Jugendlichen in überwiegend konfessionellen, aber auch staatlichen Heimen in den Blick der sozialen Bewegungen. Es bildeten sich Allianzen zwischen meist jüngeren VertreterInnen der Profession, StudentInnen und Betroffenen der Heimerziehung, die sich auf den (langen) Weg machten, die Zustände im Rahmen der Heimerziehung zu verändern (zur Geschichte der Heimerziehung vgl. u. a. Kappeler 2016). Das damalige gesamtgesellschaftliche Begehren nach einem Mehr an Demokratie erleichterte es, die repressiven, autoritären und demütigenden pädagogischen Praxen anzuprangern und zu skandalisieren und mit sehr langem Atem zu reformieren. Aktuell befinden wir uns in einer anderen Situation. Spätestens mit dem rechtspopulistischen Bestseller des ehemaligen Berliner Finanzsenators und ehemaligen SPD-Politikers Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ von 2010 und dem Einzug der AfD in den deutschen Bundestag 2016 ist ein gesellschaftlicher Rechtsruck zu beobachten. Dieser wirkt sich auch auf die Soziale Arbeit aus (auf diese Auswirkungen und Wechselwirkungen wird auch innerhalb der Disziplin seit Jahren verwiesen, für den Forschungsstand vgl. u. a. Lehnert/ Misbach 2022). Die Forderung nach mehr Autorität und einem harten Durchgreifen findet sich vermehrt auch in der (Fach-)Öffentlichkeit wieder. Die Wahrnehmung, dass verstärkt eine„härtere Gangart“ gegenüber bestimmten Kindern und Jugendlichen gefordert werde, die weniger als Opfer ihrer Lebensumstände, sondern vielmehr als Täter oder auch Täterinnen wahrgenommen werden, findet nicht zuletzt in der rechtspopulistischen Forderung nach Absenkung des Alters für Strafmündigkeit (u. a. durch die AfD) ihren Ausdruck. Im Folgenden wende ich mich dem aktuellen Fachdiskurs zu und setze mich mit den autoritären Versuchungen, also mit der Forderung nach einem Mehr an Autorität und einem härteren Durchgreifen in der Heimerziehung aus- 4 uj 1 | 2024 Autoritäre Versuchungen einander. Hierbei konzentriere ich mich auf den Bereich der GU und beschreibe dort gängige Praxen. Auch wenn die GU zeitweise als „Schmuddelpraxis“ bezeichnet wurde, in der Regel auf der „Hinterbühne“ stattfand (vgl. Lindenberg 2018, 758) und in politisch progressiven Bundesländern abgeschafft worden war, gab es zu jeder Zeit (wenige) andere Bundesländer, die GU praktizierten und die immer auch von den Landesjugendämtern der progressiven Bundesländer in Anspruch für „ausweglose“ Fälle genommen wurden. Düring und Peters verweisen darauf, dass vor dem Hintergrund, dass die Norm der gewaltfreien Erziehung und damit auch der Verzicht auf Zwangsmaßnahmen indessen zum gesellschaftlichen Konsens zählt, die Annahme von „ausweglosen“ oder für alle nicht-geschlossenen Settings zu schwierigen Kindern und Jugendlichen einen Widerspruch zu einer sich als offen und demokratisch verstehenden Kinder- und Jugendhilfe darstellt (vgl. Düring/ Peters im Erscheinen). Eine genaue Angabe über die Zahl der Fälle in der GU erweist sich u. a. aufgrund des Föderalismus und des Fehlens einer für alle Fälle geltenden Dokumentationsverpflichtung als schwierig. Auf die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit, genaue Angaben zur Anzahl von Plätzen und Belegungen innerhalb der GU zu machen, verweisen u. a. auch Hoops und Permien (2006, 22). Düring und Peters führen an, dass die Zahlen der GU 1998 mit 84 ausgewiesenen Plätzen ihren historischen Tiefstand erreicht hatten und eine endgültige Abschaffung als Perspektive auch dadurch möglich schien, dass GU im KJHG nicht vorgesehen ist (vgl. Düring/ Peters im Erscheinen). Spätestens mit dem 11. Kinder- und Jugendbericht von 2002 drehte sich jedoch der Diskurs und die Überweisungen in die GU nehmen seitdem stetig zu. Lindenberg geht davon aus, dass die Tatsache, dass es GU immer gegeben hat, eine Normalisierung und Legitimation von GU erleichtert (vgl. Lindenberg 2018, 759). Auch die Veröffentlichungen der systematischen Kinder- und Menschenrechtsverletzungen rund um die Haasenburg in Brandenburg (vgl. Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg 2013), die letztendlich zur Schließung derselben durch das Brandenburger Ministerium geführt haben, haben wenig an der Renaissance von GU als Mittel der Wahl für bestimmte Kinder und Jugendliche geändert. Bemerkenswert hieran ist auch, dass es vor allem der kontinuierlichen, jahrelangen Berichterstattung - insbesondere in der taz (https: / / taz.de/ Schwerpunkt-Haasenburg-Heime/ ! t5011079/ ) - zu verdanken war (und nicht dem Kinder- und Jugendhilfesystem selbst! ), dass es überhaupt zu einer gründlichen Überprüfung und in Folge zur Schließung von allen Einrichtungen der Haasenburg (drei davon in Brandenburg) gekommen ist. Interessant an dem Abschlussbericht der einberufenen ExpertInnenkommission ist, neben der Dokumentation skandalöser Umstände an allen drei Standorten und damit auch des Versagens aller Kontrollinstanzen, dass in dem Bericht GU als Konzept grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt wird und die VerfasserInnen klar herausarbeiten, dass GU als System strukturell anfällig für Machtmissbrauch ist. So verweisen die VerfasserInnen des Berichts auch darauf, dass die vorherrschenden Bedingungen, Abläufe und Routinen der Haasenburg als üblich in dem System GU zu betrachten sind (vgl. Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg 2013, 121). Außerdem stellen sie die Frage, inwieweit das pädagogische Haasenburg-Konzept - geprägt durch Überstrukturierung, Schematisierung (und damit Entindividualisierung) und unbedingter Strenge - auf vorab (extrem) traumatisierte Kinder und Jugendliche retraumatisierend wirken kann. „Diese ‚Jetzt erst recht‘-Mentalität, die geforderte ‚unbedingte Konsequenz‘ und die scheinbar benötigte Kontrolle über die Kinder und Jugendlichen resultiert dann nicht mehr aus dem vielleicht ursprünglich vorhandenen Schutzgefühl gegenüber diesen Kindern und Jugendlichen, sondern ist unterdrückte Wut gegenüber der Zurückweisung und eigenen 5 uj 1 | 2024 Autoritäre Versuchungen Hilflosigkeit. So könnten manche Teufelskreise innerhalb der Haasenburg GmbH entstanden sein“ (Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg 2013, 114). Bevor ich im Weiteren auf mögliche Ursachen für die verstärkte Forderung nach einem Mehr an Autorität gegenüber bestimmten Kindern und Jugendlichen eingehe, möchte ich im Folgenden aktuelle Konzepte und Methoden der GU darstellen. Gleichzeitig ist es wichtig, darauf zu verweisen, dass es eine klare und eindeutige Trennung zwischen GU und offenen Einrichtungen nicht immer gibt. Hoops und Permien führen hierzu an: „Tatsächlich fanden wir statt der alten Polarisierung zwischen offenen und geschlossenen Settings zwischen diesen Polen in der Jugendhilfe ein Kontinuum von Maßnahmen vor, die von ‚offen‘ über ‚offen mit Freiheitsbeschränkung‘, ‚offen mit Time-out-Raum‘, ‚geografisch geschlossen‘ bis hin zu ‚teilgeschlossen‘ reichen“ (Hoops/ Permien 2006, 28). Welche Charakteristika finden wir nichtsdestotrotz in der GU vor? Zentrales Kennzeichen ist die Möglichkeit von Eingrenzungs- und Abschließvorrichtungen; diese hindern die untergebrachten Kinder und Jugendlichen daran, den abgeschlossenen Bereich für eine bestimmte Zeit zu verlassen. Der Wunsch und möglicherweise Versuch der Entweichung wird von den in der GU tätigen Fachkräften grundsätzlich antizipiert. Die Aufenthaltsdauer wird mit dem Argument begründet, dass nur in einem geschlossenen Setting die notwendige therapeutisch-pädagogische Arbeit geleistet werden kann. Der GU liegen weiterhin Stufenkonzepte zugrunde (vgl. Lindenberg 2018, 745). Diese werden je nach Konzept oder Einrichtung auch als Verstärkersysteme, Tokensysteme oder Ampelsysteme bezeichnet. Grundannahme ist, dass alle Untergebrachten ein Stufenkonzept durchlaufen und dass sie zu Beginn ihres Aufenthaltes grundsätzlich in der untersten Stufe (beispielsweise in der roten Phase der Ampel) unterbracht sind und sich einen Aufstieg selbst erarbeiten müssen. Dieser Aufstieg geht dann einher mit der Vergabe von unterschiedlichen „Privilegien“. Wobei der Begriff „Privilegien“ zwar Verwendung in den jeweiligen Konzepten findet, er aber insofern irreführend ist, als dass es hier nicht um Privilegien im eigentlichen Sinn geht, sondern darum, dass die Kinder und Jugendlichen sich grundsätzliche Kinderrechte erarbeiten können/ müssen. Die Eingangsstufe ist dadurch gekennzeichnet, dass den Kindern und Jugendlichen die eigentlich für alle Kinder und Jugendlichen geltenden Rechte nicht zuerkannt werden. Beispiele können hierfür sein: Isolation, Kontaktbeschränkungen innerhalb und außerhalb der Einrichtung, Verbot digitaler Medien (und des Handys), Körperkontrollen. Lindenberg verweist darauf, dass die Stufenkonzepte - im Gegensatz zum Jugendstrafvollzug - nicht rechtsförmig abgesichert sind und ausschließlich pädagogisch-therapeutischen Begründungen unterliegen (vgl. Lindenberg 2018, 746). Außerdem ist die GU durch einen eng strukturierten Tagesablauf geprägt, der sehr wenig bis keine individuellen Gestaltungsmöglichkeiten bietet und zu dem in der Regel Sport als verpflichtendes Programm gehört. Zusätzlich gibt es in einigen Formen der GU Antiaggressionsmaßnahmen in Form von Begrenzung und/ oder Fixierung und Time-out-Räume. Bezogen auf diese üblichen pädagogischen Praxen der GU merken Düring und Peters kritisch an: „Momente der Verständigung und Überzeugung werden verdrängt und (nahezu vollends) ausgeschlossen. An ihre Stelle treten Kontrolle, Ohnmachtserfahrungen und Überwältigung bzw. Beschämung der ‚Nicht-Erziehenden‘“ (Düring/ Peters im Erscheinen). Im aktuellen Fachdiskurs über die GU finden sich sowohl kritische Stimmen, die das Prinzip der GU grundsätzlich verurteilen, als auch BefürworterInnen der GU. Anzumerken ist hier, dass es wenig empirische Forschung über die 6 uj 1 | 2024 Autoritäre Versuchungen GU gibt. Eine der wenigen Ausnahmen stellt die Studie von Hoops und Permien dar (vgl. Hoops/ Permien 2006). Die beiden Forscherinnen führten im Rahmen einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) über zwei Jahre Interviews mit Fachkräften aus Jugendämtern, Leitungskräften aus Heimen sowie mit Betroffenen oder AdressatInnen - also den Jugendlichen selbst - durch. Zusätzlich haben sie in Jugendämtern und Heimen mehr als 200 Akten analysiert (vgl. Lindenberg 2018, 749). Lindenberg stellt die Relevanz dieser Studie heraus, insbesondere auch durch den Einbezug der AdressatInnen selbst. Im Fachdiskurs identifiziert Lindenberg zwei unterschiedliche Haltungen der GU-BefürworterInnen und ordnet Hoops und Permien der Haltung 1 „Pragmatismus skeptischer Befürworter“ zu. Die tendenziell befürwortende Haltung der Wissenschaftlerinnen Hoops und Permien wird u. a. sichtbar, wenn diese sich für weniger „Skandalisierung“ und mehr „Enttabuisierung“ aussprechen (vgl. Hoops/ Permien 2006, 128). So vertreten sie die Ansicht, dass es (leider) für wenige Kinder und Jugendliche keine Alternative zu einem zeitweiligen Freiheitsentzug gebe - gleichwohl sie auch davon ausgehen, dass gute Alternativen im Vorfeld prinzipiell immer gegeben sind. Auch sind sie sich der immanenten Risikofaktoren im Hilfesystem bewusst und plädieren für eine Perspektive, das Scheitern nicht den Jugendlichen, sondern den Institutionen anzulasten (vgl. ebd., 35). Als Haltung 2 benennt Lindenberg die Einbettung der geschlossenen Unterbringung in den Katalog der Jugendhilfe. Als wichtigen Vertreter dieser Haltung verweist er auf Wiesner. Dieser sehe in der GU keine Strafe oder Abschreckung, sondern eine Leistung (unter anderen) des Kinder- und Jugendhilferechts. Wiesner kritisiere die gängige Praxis, dass besonders schwierige Kinder und Jugendliche in andere Bundesländer oder in Psychiatrien abgeschoben würden. Es sei also die kategorische Ablehnung der GU, die zu einer Desintegration dieser Kinder und Jugendlichen führe - da allein die GU die Grundvoraussetzung für den Aufbau einer pädagogischen Beziehungsebene für diese Kinder und Jugendlichen biete (vgl. Lindenberg 2018, 756). Seit Beginn der Heimkampagne gibt es Fachkräfte und WissenschaftlerInnen, die die GU abschaffen wollen. So wurden in Hamburg und Thüringen Kampagnen gegen die GU umgesetzt (Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung). 2018 fand in Hamburg ein vom Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Hamburg und dem Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung Hamburg organisiertes Tribunal statt. Hier sollte am Beispiel von Stufenmodellen in der geschlossenen Heimerziehung die Unmenschlichkeit und Rechtswidrigkeit derselben nachgewiesen werden (vgl. Kunstreich 2019). In der grundsätzlichen Ablehnung der GU und auch im Rahmen des Tribunals stellte die Einschränkung von Grundrechten für Kinder und Jugendliche in der GU das Zentrum der Kritik dar. Andere KritikerInnen stellen pädagogische und/ oder therapeutisch nachhaltige Wirkungen der GU infrage und beziehen sich hier beispielsweise auf das Stichwort der Umprogrammierung. Sie bezweifeln die Passung von ausschließlich verhaltenstherapeutisch angelegten Konzepten für die Arbeit mit einer sehr anspruchsvollen und herausfordernden Zielgruppe (vgl. weiter oben die Einschätzung der ExpertInnenkommission über die Haasenburg 2013 und auch Düring/ Peters im Erscheinen). Kessl verweist auch darauf, zu welchen fachlich-pädagogischen Einschränkungen das Stufenkonzept in der GU auch bei Fachkräften führt. Er hat sich in einer empirischen Studie der Universität Duisburg-Essen 2011- 2012 mit dem sozialpädagogischen Handeln von Fachkräften auseinandergesetzt und ist der Frage nachgegangen, wie sich das Vorhandensein von Stufenkonzepten in der GU auf das fachliche Handeln auswirkt (vgl. Kessl 2020). In der Analyse kann er zwei Grundmuster fachlichen Handelns herausarbeiten: einerseits eine personen- und situationsorientierte Haltung und 7 uj 1 | 2024 Autoritäre Versuchungen zum anderen eine strukturorientierte Haltung (vgl. ebd., 196). Die personen- und situationsorientierte Haltung sei schwieriger umzusetzen, da Regeln im Kontext von Stufenkonzepten zum pädagogischen Kontrollinstrument werden und die eigentliche Interaktion mit den AdressatInnen folglich oft in Form von Durchsetzung von Kontrolle und Markierung von Grenzen stattfindet (vgl. ebd., 197). Auf diese Weise wird sozialpädagogisches Handeln - und eine Orientierung an der Situation oder an dem jeweiligen Individuum - erschwert: „Fachliches pädagogisches Tun erweist sich im geschlossenen Setting auf Basis der vorliegenden empirischen Befunde als Reduktion auf den Transfer von festgesetzten Regeln und Verhaltensmustern - und damit eher als eine Schließung von Möglichkeiten“ (ebd., 199). Eine andere Kritik an der aktuellen Anordnung von GU besteht darin, dass diese eigentlich die allerletzte Möglichkeit - die ultima ratio - für bestimmte Kinder und Jugendliche sein sollte. Das wiederum steht aber im Widerspruch zu der Beobachtung, dass das Alter der eingewiesenen Kinder und Jugendlichen kontinuierlich sinkt (vgl. Düring/ Peters im Erscheinen). Eine weitere grundsätzliche Kritik an der GU ist, dass erst die Schaffung von GU-Plätzen einen Bedarf schafft. Auch Hoops und Permien (als pragmatische Befürworterinnen) konstatieren in ihrer Studie: „Die Ergebnisse der Erhebung geben Hinweise darauf, dass (…) die These von der ‚Sogwirkung‘ von FM-Heimen nicht ganz von der Hand zu weisen ist“ (Hoops/ Permien 2006, 25). Anders ausgedrückt: je mehr Plätze es in der GU gibt, desto häufiger wird diese angeordnet. Im letzten Teil dieses Artikels möchte ich mögliche Gründe für die Diskursveränderung skizzieren und auf gesellschaftliche Folgen hinweisen. So fragt sich auch Lindenberg bezogen auf die Veränderungen im Fachdiskurs und auf die stetige Zunahme der Anordnungen in die GU: „Warum verlässt die Jugendhilfe einen seit 20 Jahren ausgetretenen Pfad, der dadurch gekennzeichnet war, dass die Geschlossene Unterbringung lediglich auf der Hinterbühne stattfand, während auf der Vorderbühne dem Prinzip der Lebensweltnähe gefolgt wurde? “ (Lindenberg 2018, 758). Er wie auch andere KritikerInnen beziehen die Renaissance der GU auf den Paradigmenwechsel der letzten 30 Jahre: Der Rückbau des versorgenden Wohlfahrtsstaats zu einem aktivierenden Staat mit der Agenda 2010 wurde unter der Maxime „Fördern UND Fordern“ neoliberal gerahmt und legitimiert. Die Anrufung einer Eigenverantwortung erweist sich als besonders folgenschwer für das Handlungsfeld der Heimerziehung, und auch Düring und Peters verweisen auf den 11. Jugendbericht von 2002: „denn er repräsentiert als erster (…) die Verschiebung der Prämissen des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements in Richtung einer ‚aktivierungspädagogischen‘ Reformulierung der Sozialpolitik, (…) indem er durchgreifende (‚intensiv-pädagogische‘ und ‚mehrgeschlossene‘ bis ‚strafend-repressive‘) Maßnahmen fordert“ (Düring/ Peters im Erscheinen). Lindenberg vertritt die These „von der helfenden und strafenden Seite des aktivierenden Staates“ (Lindenberg 2018, 757). Es komme zu einer Aufteilung der AdressatInnen in jene, für die sich eine Förderung lohnt, und die anderen „schweren Fälle“, die nicht mehr gefördert, sondern gefordert werden sollen. Damit einher geht eine Teilung in der Kinder- und Jugendhilfe in AdressatInnen mit und ohne Subjektstatus. Es ist der Heimkampagne und den Reformen der nachfolgenden Jahrzehnte zu verdanken, dass weite Bereiche der Heimerziehung mit der Einführung von Lebensweltorientierung, Lebensweltnähe, Schaffung von Partizipationsmöglichkeiten, Professionalisierung und Ressourcenorientierung demokratisiert worden sind und die AdressatInnen mit ihren Beson- 8 uj 1 | 2024 Autoritäre Versuchungen derheiten endlich als Subjekte wahrgenommen werden. Das gilt jedoch nicht für den Bereich der GU: Hier werden die AdressatInnen wieder Objekte von Erziehung. Auch wenn es BefürworterInnen der GU (z.-B. Hoops und Permien) gibt, die aus ihrer fachlichen Auseinandersetzung und ihrer Forschung darlegen können, dass es durchaus Kinder und Jugendliche gibt, für die sich die GU letztendlich als eine richtige Form der Unterbringung herausgestellt hat, bleibt die Praxis der GU doch immer auch mit der indessen Jahrhunderte alten Tradition von Wegsperren und Ausgrenzung der „Unerziehbaren“ verbunden. Diese Praxis ist mit demokratischen Grundwerten nicht zu vereinbaren. Einen weiteren Grund zur Besorgnis stellt der bereits weiter oben angesprochene gesellschaftliche Rechtsruck dar. Rechtspopulistischen Konzepten ist die Forderung nach Autoritarismus und die Propagierung von (gesellschaftlichen) Feindbildern (sowohl innen als auch außen) mit der dazugehörenden Erzählung von „wir und die anderen“ inhärent. Rechtspopulismus legitimiert eine Lust am Strafen gegenüber allen, die „anders“ sind und es nicht anders verdient haben. Rechtspopulismus negiert zentrale Grund- und Menschenrechte. Eine Akzeptanz von GU - eine pädagogische Praxis, die zentrale Kinderrechte außer Kraft setzt - als einer „normalen“ und üblichen im Handlungsfeld der Heimerziehung spielt dem Rechtspopulismus in die Hände. Besonders vulnerable und häufig traumatisierte Kinder und Jugendliche werden gesellschaftlich immer öfter und mit großer Unterstützung der Medien als gefährlich und weniger als gefährdet - also als Täter oder Täterinnen - konstruiert. Teile der Kinder- und Jugendhilfe lassen sich in ihrer Rolle als ExpertInnen von stark ordnungspolitischen und punitiven Forderungen und Kampagnen instrumentalisieren und liefern hierfür eine pädagogische Legitimation (vgl. Lindenberg 2018, 758). Prof. Dr. Esther Lehnert Alice Salomon Hochschule Berlin Alice-Salomon-Platz 5 12627 Berlin E-Mail: lehnert@ash-berlin.eu Literatur Düring, D., Peters, F. (im Erscheinen): Intensivpädagogik und geschlossene Unterbringung heute. In: Censenbrunn-Benz, A. (Hrsg.): Erziehung durch Gewalt? Intensivpädagogik und Geschlossene Unterbringung - Folgen sozialer Praxis. Metropol, Berlin Hoops, S., Permien, H. (2006): Mildere Maßnahmen sind nicht möglich. Freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1631 b BGB in Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. DJI (Deutsches Jugendinstitut), München Kappeler, M. (2016): Die Berliner Heimkampagne. Ein Beispiel für die Politisierung von Studierenden und PraktikerInnen der Sozialen Arbeit. In: Birgmeier, B., Mührel, E. (Hrsg.): Die „68er“ und die Soziale Arbeit. Soziale Arbeit in Theorie und Wissenschaft. Springer VS, Wiesbaden, 123 - 152 Kessl, F. (2020): Stufenpläne in der „geschlossenen Unterbringung“ - eine Kontextualisierung auf Basis empirischer Einsichten in die Logik fachlichen Tuns in fakultativ geschlossenen Settings. In: Degener, L., Kunstreich, T., Lutz, T., Mielich, S., Muhl, F., Rosenkötter, W., Schwagereck, J. (Hrsg.): Dressur zur Mündigkeit? Über die Verletzung von Kinderrechten in der Heimerziehung. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 193 - 201 Kunstreich, T. (2019): Für eine Heimkampagne 3.0! Ergebnisse des Hamburger Tribunals über die Verletzung von Kinderrechten in der Heimerziehung. Sozial Extra 4, 287 - 289 Lehnert, E., Misbach, E. (Hrsg.) (2022): Soziale Arbeit und Politische Bildung in Zeiten des Rechtsrucks. Perspektiven auf extreme Rechte und Mehrheitsgesellschaft. Schibri, Berlin 9 uj 1 | 2024 Autoritäre Versuchungen Lindenberg, M. (2018): Geschlossene Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe. Darstellung, Kritik politischer Zusammenhang. In: Dollinger, B., Schmidt- Semisch, H. (Hrsg.): Handbuch Jugendkriminalität. Springer, Wiesbaden, 745 - 766, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-19953-5_39 Lutz, T. (2020): Freiheitsentziehung, Zwang und Repression in den Hilfen zur Erziehung. In: Degener, L., Kunstreich, T., Lutz, T., Mielich, S., Muhl, F., Rosenkötter, W., Schwagereck, J. (Hrsg.): Dressur zur Mündigkeit? Über die Verletzung von Kinderrechten in der Heimerziehung. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 282 - 192 Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hrsg.) (2013): Bericht und Empfehlungen der unabhängigen Kommission zur Untersuchung der Einrichtungen der Haasenburg GmbH. Selbstverlag Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Potsdam www.taz.de/ Schwerpunkt-Haasenburg-Heime/ ! t50 11079/ , 9. 8. 2023 a www.reinhardt-verlag.de Der „Grundkurs Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit“ vermittelt die elementaren Kenntnisse des Kinder- und Jugendhilferechts. Er gibt Studierenden einen Überblick über die rechtlichen Regelungen im SGB VIII, die Leistungen und anderen Aufgaben in der Kinder- und Jugendhilfe sowie über deren Trägerstrukturen und Behörden. Behandelt werden die vielfältigen Hilfs- und Förderangebote, u. a. die Förderung der Erziehung in der Familie, Kindertagesbetreuung, Kinder- und Jugendarbeit, Hilfen zur Erziehung und Schutzaufgaben zu Gunsten von Kindern und Jugendlichen. Die 7. Auflage wurde gründlich aktualisiert, u. a. bzgl. des sogenannten Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG). SGB VIII verständlich erklärt Mit 62 Übersichten, 3 Tabellen, 14 Fallbeispielen und Musterlösungen. 7., aktual. Aufl. 2021. 184 Seiten. utb-S (978-3-8252-5782-8) kt
