unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2024.art20d
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2024
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Fachliche Entwicklungsperspektiven der Kinder- und Jugendhilfe und deren Relevanz für die Jugendarbeit
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2024
David Schnell
Führt man die Aspekte bereits heute bestehender, konkreter Herausforderungen im Aspekt des Schutzes junger Menschen mit den entstehenden Anforderungen einer inklusiven Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe zusammen, zeigt sich eine eindeutige Notwendigkeit entsprechender Vorkehrungen.
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142 unsere jugend, 76. Jg., S. 142 - 149 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art20d © Ernst Reinhardt Verlag Fachliche Entwicklungsperspektiven der Kinder- und Jugendhilfe und deren Relevanz für die Jugendarbeit Jugendarbeit als mögliche Achillesferse der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe? Führt man die Aspekte bereits heute bestehender, konkreter Herausforderungen im Aspekt des Schutzes junger Menschen mit den entstehenden Anforderungen einer inklusiven Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe zusammen, zeigt sich eine eindeutige Notwendigkeit entsprechender Vorkehrungen. von Dr. David Schnell Jg. 1994; Leiter eines Kinderheims und wissenschaftlicher Referent am DJI für die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendpolitik Einleitung Fachliche Entwicklungsperspektiven sollten nicht verwechselt werden mit der Kunst des Glaskugellesens. Aus diesem Grund soll im Folgenden aufgezeigt werden, welche bereits heute für konkret benannte Aufgaben identifizierbar sind, deren Bearbeitung zum einen von höchster Relevanz ist, zum anderen allerdings bisher noch ein deutliches Entwicklungspotenzial aufweist. Eine bisher häufig nur unzulänglich angegangene Herausforderung dreht sich um das oberste Prinzip der Kinder- und Jugendhilfe, dem Schutz junger Menschen. Die hierin liegende Problematik liegt in der aktuell nur unzureichenden Abdeckung von Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe mit entsprechend individualisierten und tragfähigen Schutzkonzepten. Weiterführend bedarf es auch keiner Glaskugel, um eine bereits heute bekannte Entwicklungsperspektive, deren Anforderungen die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe bestimmen werden, herauszustellen: die inklusive Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe durch das am 9. 6. 2021 verabschiedete Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Die mit diesem Gesetzesbeschluss einhergehende Reform des achten Sozialgesetzbuches stellt somit u. a. zwei Aspekte zentral in den Vordergrund. So soll zum einen ein besserer Kinder- und Jugendschutz erreicht werden, was in direkter Korrelation zu der eben schon dargestellten Herausforderung steht, und zum anderen werden zukünftig die Hilfen für Menschen mit und ohne Behinderung aus einer Hand gewährleistet. Betrachtet man eben diese beiden Aspekte, zeigt sich die Notwendigkeit, bereits heute die Anforderungen in der Erstellung zieladäquater Schutzkonzepte mit den Herausforderungen der bis zum voraussichtlich 1. 1. 2028 in Kraft tretenden „Großen Lösung“ zusammenzuführen. 143 uj 4 | 2024 Entwicklungsperspektiven der Kinder- und Jugendhilfe in der Jugendarbeit Noch besteht die Möglichkeit, sich entsprechend dieser Entwicklungsperspektive in allen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe aufzustellen. Sollte dies nicht gelingen, steuern eben diese Bereiche in Situationen erhöhter Gefährdungslagen. Dies gilt insbesondere auch für jene Tätigkeitsfelder, die diesbezüglich bisher nicht so prominent im Rampenlicht der Schutzkonzepte stehen, aber gerade dadurch zur Achillesferse der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe werden könnten - wie z. B. Teile der Jugendarbeit. Mangelnde Schutzkonzepte in Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe: Aktuelle Herausforderung Problemaufriss ➤ 30. 5. 2022 (BKA): u 49 Kinder pro Tag sind Opfer von sexueller Gewalt u Laut Polizeilicher Kriminalstatistik hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsdarstellungen weiterverbreiteten, besaßen oder herstellten, seit 2018 mehr als verzehnfacht. Waren es damals 1.373 minderjährige Tatverdächtige, stieg deren Zahl im vergangenen Jahr auf 14.528 ➤ 3. 8. 2022: Missbrauchsskandal im Deutschen Schwimmverband ➤ 21. 12. 2022 (Berlin): Mehrere Jugendliche schlagen 14-Jährige krankenhausreif. Einige filmten die Tat ➤ 21. 12. 2022 (Salzgitter): In Braunschweig steht ein 14-Jähriger vor Gericht, der eine 15-Jährige getötet haben soll Anhand der hier nur schlaglichtartig herausgestellten Vorfälle wird bereits deutlich, dass Gewalterfahrungen nicht eindimensional zu denken sind. So zeigen diese sich als sexuelle Gewalt, als Gewalt unter Gleichaltrigen, über Generationen hinweg, in Institutionen etc. Betrachtet man diesbezüglich die Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfe, gilt es als immanent, dass der Schutz junger Menschen den Kern der gesellschaftlichen Relevanz von Kinder- und Jugendhilfe bildet (vgl. Böllert 2018, 46). Es müssen also pädagogische Antworten gefunden werden. Stand Schutzkonzepte heute Schutzkonzepte sind verpflichtender Bestandteil der Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen stationärer/ familienersetzender Hilfsformen (§§ 27, 34 SGB VIII). Seit dem KJSG wird hierin auch explizit das Pflegekinderwesen nach § 33 aufgeführt, was zuvor nicht der Fall war. Nun gelten die Anforderungen der Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe nach § 79 a also für Einrichtungen ebenso wie für die Formen der Familienpflege, insbesondere zur Erlangung einer Betriebserlaubnis nach § 45 des achten Sozialgesetzbuches. Der Schutz vor Gewalt, unabhängig von wem diese ausgeht, ist darüber hinaus ein Qualitätsmerkmal für den gesamten Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Die Überprüfung dieser Qualitätsmerkmale obliegt den öffentlichen Trägern der Jugendhilfe, wenngleich eine Frist zur Überprüfung hierbei nicht formuliert ist (vgl. Tammen 2022, 1.038). In der Praxis zeigt sich zwar, dass im Rahmen von Betriebserlaubnisverfahren sowie neu zu verhandelnden Entgelten ein Schutzkonzept vorzuweisen ist, jedoch sind länger bestehende Einrichtungen, die bisher kein neues Entgelt verhandelt haben, zwar ebenfalls verpflichtet, ein Schutzkonzept vorzuweisen, allerdings zeigen hierzu geführte Gespräche mit der Heimaufsicht, dass dieser Verpflichtung noch lange nicht alle Einrichtungen nachkommen, manche die Sinnhaftigkeit dessen sogar infrage stellen. Diesbezüglich wurden nun in einigen Regierungsbezirken Bayerns Einrichtungen von ihrer Heimaufsicht aufgefordert, ein solches bis Ende des Jahres 2022 vorzulegen. 144 uj 4 | 2024 Entwicklungsperspektiven der Kinder- und Jugendhilfe in der Jugendarbeit Hebt man hierbei nun den Blick von betriebserlaubnispflichtigen Einrichtungen auf den gesamten Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, wird deutlich, dass die Erstellung eines umfassenden Schutzkonzeptes hier lediglich einen Auftrag und keine explizit rechtliche Verpflichtung darstellt. Dies führt dazu, dass bisher nur wenige Kommunen ein Schutzkonzept von ihren Angeboten und Einrichtungen verlangen, was letztlich auch eine unzureichende Aufarbeitung von Fällen sexueller Gewalt im Rahmen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit bedingt (vgl. Rusack/ Schilling 2022, 154). Betrachtet man den Forschungsstand zu Schutzkonzepten in der Kinder- und Jugendarbeit, muss zum gegenwärtigen Stand konstatiert werden, dass keine flächendeckende und nachhaltige Umsetzung ebendieser gegeben ist, sondern diese zu großen Teilen noch am Beginn ihrer Auseinandersetzungen stehen (ebd., 162ff ). Insbesondere vor dem Hintergrund (sexualisierter) Peer-Gewalt stellt dies die pädagogische Arbeit vor große Herausforderungen. So konstatieren auch Rusack und Schilling (2022) einen diesbezüglichen Aufholbedarf im konkreten Handlungsfeld der Offenen Jugendarbeit. Hierzu haben die KollegInnen des Instituts für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim im März 2022 ein Werk herausgegeben, mit dem sie erstmals darauf hinweisen, dass Schutzkonzepte nicht ausschließlich im Tätigkeitsfeld der Heimerziehung und des Pflegekinderwesens zu verorten sind (wo Schutzkonzepte insbesondere seit 2010 intensiv diskutiert werden), sondern sie formulieren diesen Anspruch auch für die Offene Jugendarbeit und zeigen zugleich auf, dass die hierin liegenden „besonderen Bedingungen und Herausforderungen bisher kaum umfassend reflektiert wurden“ (ebd., 7). Dies gilt umso mehr, da der Schutzauftrag innerhalb pädagogischer Institutionen bislang hauptsächlich hinsichtlich der Generationenbeziehungen diskutiert wurde, und dabei übersehen wird, dass Gewalterfahrungen auch von Peers ausgehen (vgl. Maschke 2020), was insbesondere in der Offenen Jugendarbeit aufgrund der dort häufig geringen Altersunterschiede (Jugendliche als AdressatInnen und als Fachkräfte) von Relevanz ist. Aber auch in Bezug auf Schulen, an denen ebenfalls gewisse Formen der Jugendarbeit stattfinden können, verwies der ehemalige Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, noch im Jahr 2020 darauf: „In keinem Bundesland steht im Landesschulgesetz, dass Schulen verpflichtet sind, Schutzkonzepte einzuführen und anzuwenden“ (Bachner 2020). Ein Blick auf den Bereich der Jugendarbeit im Sport zeigt bereits einige sehr gute Ansätze, wie zum Beispiel die Kampagne „Prävention sexualisierter Gewalt“ im Deutschen Skiverband, jedoch befinden sich diese Entwicklungen ebenfalls noch in den Kinderschuhen. So werden die Fahrten der Sportjugend, die sich dem Bereich des heterogenen Feldes der Jugendarbeit zuschreiben lässt (vgl. Rusack et al. 2022, 156), über öffentliche Gelder bezuschusst (in Rheinland-Pfalz derzeit mit bis zu 500 Euro pro Person) und von SkilehrerInnen des DSV durchgeführt. Im Rahmen dieser Fahrten sollen über die Kampagne „Prävention sexualisierter Gewalt“ nun diesbezügliche Planspiele mit den TeilnehmerInnen gespielt werden - ohne dass die anleitenden Personen über eine fachliche Eignung verfügen, sogar nicht mal ein Führungszeugnis vorlegen müssen. Gute Beispiele Anknüpfend an das Beispiel des Deutschen Skiverbandes zeigen sich darüber hinaus eine Vielzahl an äußerst gelungenen Beispielen, die über immer weiter verbreitete Kampagnen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken. Um nur einen kurzen Einblick zu geben, über welche Projekte explizit oder auch implizit die Jugendarbeit angesprochen werden kann, möchte ich drei beispielhafte Ansätze hier aufführen: 145 uj 4 | 2024 Entwicklungsperspektiven der Kinder- und Jugendhilfe in der Jugendarbeit ➤ Heroes Augsburg: u. a. gefördert durch das Bayerische Staatsministerium des Inneren, für Sport und Integration ➝ Auseinandersetzung mit Themen der Gleichberechtigung und Unterdrückung ➤ Safer Sexting: Kampagne der Landesanstalt für Medien NRW ➝ Jugendliche als (unwissentliche) StraftäterInnen in der Verbreitung von Kinder- und Jugendpornografie ➤ Schieb den Gedanken nicht weg: Kampagne des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ➝ Aufklärung: Es ist mehr als wahrscheinlich, dass es auch in Ihrem Umfeld Kinder, Jugendliche und Erwachsene gibt, die betroffen von sexueller Gewalt sind Diese beispielhaften Ansätze greifen bestehende Problemlagen auf - und sollten dementsprechend zum Schutz der Kinder und Jugendlichen zukünftig auch institutionell fest in der Jugendarbeit verankert werden. So kann, wie gleich noch aufgezeigt wird, die Kinder- und Jugendhilfe gegebenenfalls das erste Mal einen Möglichkeitsraum für Kinder und Jugendliche eröffnen, offen über erlebte Gewalterfahrungen zu sprechen, und ihnen in einer professionellen Begleitung helfen, neue Perspektiven zu gewinnen. Dabei ist die Thematik des Schutzkonzeptes jedoch nicht bloß auf den Schutz vor sexueller Gewalt engzufassen, wie bereits angeführt wurde, sondern soll vielmehr das Ziel der gelebten Partizipation als Entwicklungslinie aufgreifen, um so den Herausforderungen in Bezug auf das Erleben von Selbstwirksamkeit nachzukommen (vgl. Schnell 2023). Kinder- und Jugendhilfe wird inklusiv Hierbei handelt es sich zum einen um eine bereits bekannte Entwicklungsperspektive, zum anderen bildet diese Veränderung der rechtlichen Grundlage gegenwärtig die bedeutendste zukünftige Herausforderung (vgl. Büttner 2022, 15ff ) und kann zugleich „ein entscheidender Auslöser für Entwicklungen und damit auch für Fortschritte in der Kinder- und Jugendhilfe sein“ (Pothmann 2021, 46). Was heißt das - wo geht es hin? Durch die große bzw. inklusive Lösung mit der beschlossenen Reform des SGB VIII stehen entscheidende Veränderungen in vielfacher Hinsicht an, was somit von zentralem Charakter für die Aspekte der Weiterentwicklung innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe ist (vgl. Böllert 2018, 46). Eine entscheidende Herausforderung, die sich unter anderem in dem von mir hier dargestellten Bereich zeigt, ist das Gelingen einer tatsächlich inklusiven Lösung - nicht bloß einer großen Lösung. Zur Ausgestaltung der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe nimmt sich die Arbeitsgruppe „Inklusives SGB VIII“ unter dem Vorsitz der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ekin Deligöz, diesen Herausforderungen an. Ob in den aktuell fünf angedachten Sitzungen die Zeit bleibt, auch auf die zentralen Inhalte der Kinder- und Jugendhilfe, den Schutz und die Förderung junger Menschen, einzugehen, insbesondere auch durch die entstehenden Problemlagen einer inklusiven Jugendarbeit, bleibt abzuwarten. Auch die Kommission Sozialpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft führt daher im Jahr 2023 fünf Fachforen durch, die sich der Thematik der Weiterentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe widmen. Dabei wird in allen Veranstaltungen die inklusive Ausgestaltung des SGB VIII zum Thema gemacht - hierbei dreht es sich um folgende Themen: Hilfen zur Erziehung, Familie, 146 uj 4 | 2024 Entwicklungsperspektiven der Kinder- und Jugendhilfe in der Jugendarbeit multiprofessionelle Kooperation, Jugendhilfeplanung und auch Aspekte der Kinder- und Jugendarbeit. Betrachtet man unter dieser Perspektive synoptisch § 11 des SGB VIII (Jugendarbeit) vor und nach dem KJSG, zeigt sich hier lediglich eine einzige Änderung. Nämlich die Hinzunahme des Satzes: „Dabei sollen die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Angebote für junge Menschen mit Behinderungen sichergestellt werden.“ Die tatsächlichen Auswirkungen der inklusiven Ausgestaltung auf die Jugendarbeit offenbaren sich also nicht unmittelbar im Gesetzestext. Vielmehr braucht es eine Hinzunahme der bereits aufgezeigten Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen, um hierin die Stolpersteine zum Gelingen der inklusiven Lösung, auch für die Jugendarbeit, herausarbeiten zu können. Die Kinder- und Jugendhilfe ist zwar in der Mitte der Gesellschaft angekommen, wie es bereits im 14. Kinder- und Jugendbericht verkündet wurde (vgl. BMFSFJ 2013). Zugleich bedient sie aber mit ihren Angeboten auch die Ränder der Gesellschaft, indem sie Angebote vielfältiger Handlungsfelder im unmittelbaren Kontext von problematischen und belastenden Lebenssituationen im Prozess des Aufwachsens zur Verfügung stellt (vgl. Böllert 2018, 5). Dieses Verhältnis stellt besonders hohe Anforderungen an die agierenden Fachkräfte in ihrer Arbeit, die den Kindern und Jugendlichen in ihren prekären Lebenslagen zur Seite stehen. Unter dem hieran anknüpfenden Schlagwort der Evidenzbasierung gilt es zum Abschluss noch die Bielefelder Evaluation des Bundesmodellprogramms „Wirkungsorientierte Jugendhilfe“ aufzuzeigen, die u. a. die Aspekte der Selbstwirksamkeit, Sicherheit und Obhut sowie Fähigkeiten zur Selbstsorge als Wirkmöglichkeiten herausarbeiten konnte und somit bereits Eckpfeiler für den im Folgenden darzustellenden Handlungsbedarf in der Jugendarbeit einschlägt (vgl. Albus et al. 2010). Handlungsbedarf in der Jugendarbeit: (Übersehene? ) zukünftige Herausforderung Aktuelle Herausforderung und Entwicklungsperspektive in der Kinder- und Jugendhilfe = zukünftige Herausforderung für die Jugendarbeit? Warum stellt die dargelegte Thematik bereits heute ein Problem für die Kinder- und Jugendhilfe dar? Zum einen, wie bereits aufgezeigt, wurde sich im Bereich der Jugendarbeit bisher kaum mit den Herausforderungen der Etablierung individualisierter Schutzkonzepte reflektierend auseinandergesetzt (vgl. Rusack/ Schilling 2022, 7) und zum anderen steht dem eine bereits bestehende Schwierigkeit gegenüber: Die Erfahrung junger Menschen mit (sexualisierter) Peer-Gewalt. Im Rahmen des Forschungsprojektes „SchutzNorm“ vom Bayerischen Jugendring und der HAW Landshut wurde diesbezüglich eine bundesweite Befragung mit jungen Menschen durchgeführt, die aktiv in einem der Felder (Jugendsozialarbeit, Jugendverbandsarbeit, Internationale Jugendarbeit und Offene Jugendarbeit) der Jugendarbeit verortet sind. Zur Verdeutlichung der hier dargelegten Entwicklungsperspektiven der Kinder- und Jugendhilfe und deren Relevanz für die Jugendarbeit möchte ich kurz einzelne Ergebnisse aus der Studie (n = 1.221 Jugendliche ab 15 Jahren) aufzeigen: ➤ 1/ 3 der Befragten geben an, zu sexuellen Handlungen, beispielsweise bei Trinkspielen, gedrängt zu werden (vgl. Herz/ Lips 2022, 40) ➤ „Je häufiger eine bestimmte Form von (sexualisierter) Erfahrung erlebt wird, desto weniger wird diese Erfahrung von Jugendlichen abgelehnt“ (ebd., 42) ➤ SozialarbeiterInnen und andere Personen mit bestimmten Funktionen dienen nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 5,5 % als Ansprechperson für junge Menschen in einer Situation von Grenzüberschreitungen (ebd., 45) 147 uj 4 | 2024 Entwicklungsperspektiven der Kinder- und Jugendhilfe in der Jugendarbeit ➤ 35,6 % würden das Erleben einer grenzverletzenden Person „vielleicht, eher oder sicher für sich behalten“ (ebd., 47) Allein unter Betrachtung dieser vier Ergebnisse lässt sich bereits ein hoher Handlungsbedarf ableiten. Insbesondere unter dem Aspekt, dass 1 / 3 der Befragten Grenzverletzungen wohl für sich behalten werden und zugleich nur 5 % sich in diesbezüglichen Anliegen an SozialarbeiterInnen wenden, zeigt sich eine deutliche Notwendigkeit zur Nachbesserung der bestehenden Angebote mit dem Ziel, zukünftig den Anteil der jungen Menschen ohne geeignete Ansprechperson reduzieren zu können. Nimmt man hierbei noch die Annahme hinzu, dass ein jugendliches Opfer oft sieben Versuche braucht, bis ein Erwachsener es mit seinen Problemen ernst nimmt, verschärft sich die Situation nochmals. Darüber hinaus wird geschätzt, dass 1 - 2 Kinder pro Schulklasse von sexueller Gewalt betroffen sind. Somit wäre es auch bereits heute im Bereich der Jugendarbeit von höchster Relevanz, sich diesbezüglich professionell aufzustellen. Hinzu kommt nun durch die Entwicklungsperspektive der Kinder- und Jugendhilfe (inklusive Ausgestaltung) eine weitere zukünftige Herausforderung: Menschen mit Behinderung sind häufig(er) Opfer sexueller Gewalt. Ohne weiter auf mögliche Ursachen und Folgen einzugehen, möchte ich an der Stelle einige Forschungsergebnisse darstellen, wenngleich Karla Verlinden aufzeigt: „Die (inter-)nationale Forschung zur sexuellen Gewalt an Menschen mit Behinderung steckt noch in den Kinderschuhen und erweist sich insgesamt als noch sehr überschaubar“ (Verlinden 2018, 6). Hier sei vorab noch angeführt, dass „auch scheinbar einvernehmlich vorgenommene sexuelle Handlungen strafbar sind, wenn der/ die Täter/ in diese unter Ausnutzung der fehlenden Einwilligungskompetenz des Opfers […] herbeiführt“ (ebd., 5). ➤ Basile et al. (2016): Eine Telefonumfrage von 17.500 Personen in den USA zeigt ein höheres Risiko, sexuelle Gewalt zu erleiden, wenn (unabhängig vom Geschlecht) eine Behinderung vorliegt ➤ Martin (2006): Eine weitere Telefonumfrage in den USA (n = 5.500) zeigt, dass Frauen mit Behinderung bis zu viermal häufiger als Frauen ohne Behinderung Opfer sexueller Misshandlung werden ➤ Sullivan und Knutson (2000): Befragen Kinder und Jugendliche (n = 50.000) bezüglich erlebter sexueller sowie körperlicher Misshandlungen und zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung eine Prävalenz von 31 % aufweisen, eben solchen Misshandlungen ausgesetzt zu werden, während diese bei Kindern und Jugendlichen ohne Behinderung bei 9 % liegt. Das Risiko, sexuelle Übergriffe zu erleiden, ist bei Heranwachsenden mit einer geistigen Beeinträchtigung vierfach erhöht gegenüber derer ohne geistige Beeinträchtigung ➤ Euser et al. (2016): Eine Untersuchung von niederländischen Heimeinrichtungen für Heranwachsende mit und ohne Behinderung zeigt, dass 10 von 100 Kindern mit geistiger Beeinträchtigung sexuelle Gewalterfahrung erlebt haben, wohingegen „nur“ 3 von 100 Kindern ohne geistige Beeinträchtigung betroffen sind ➤ Spencer et al. (2005): Kinder mit einer Lernbehinderung sind achtmal häufiger von sexueller Gewalt betroffen als diese ohne Beeinträchtigung, zeigt eine 19-Jahres-Kohortenstudie in Großbritannien ➤ Schröttle et al. (2012): In Deutschland sind laut repräsentativer Umfrage 25 % der Frauen mit kognitiver Beeinträchtigung von sexueller Gewalt betroffen, also zweibis dreimal häufiger im Vergleich zum weiblichen Bevölkerungsdurchschnitt Gegenüber diesem Zusammenkommen von einer bereits bestehenden, aktuellen Herausforderung (individualisierte und zielgruppen- 148 uj 4 | 2024 Entwicklungsperspektiven der Kinder- und Jugendhilfe in der Jugendarbeit adäquate Schutzkonzepte in allen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe zu etablieren) sowie der hinzukommenden Entwicklungsperspektive (der inklusiven Ausgestaltung der pädagogischen Angebote), muss sich die Kinder- und Jugendhilfe als Ganzes vorbereiten. Wenn es nicht gelingt, bereits heute entsprechende Maßnahmen, nämlich die Erstellung von Schutzkonzepten als Qualitätsmerkmale (vgl. Rusack et al. 2022, 155ff ), zu ergreifen, verschärft sich die aktuelle Herausforderung zusehenden Auges zukünftig um ein Vielfaches. So habe ich bereits erwähnt, dass die Kinder- und Jugendhilfe häufig Problemlagen an den Rändern der Gesellschaft bedient. Dies zusammengenommen mit der Erkenntnis, dass sexuelle Gewalterfahrungen weitverbreitet sind (1 - 2 Kinder pro Schulklasse), und dem Umstand, dass Menschen mit Behinderung potenziell gefährdeter für sexuelle Übergriffe sind, können bei einer professionell pädagogischen Arbeit zwar gute Erfolge erzielt werden. Zugleich muss aber bedacht werden, dass durch dieses Zusammentreffen eine Gemengelage entsteht, auf die sich die Jugendarbeit vorbereitet haben muss, um den Anspruch und die damit einhergehenden Anforderungen an Professionalität auch weiterhin erfüllen zu können. Dr. David Schnell Nockherstraße 2 81541 München Literatur Albus, S., Greschke, H., Klingler, B., Messmer, H., Micheel, H.-G., Otto, H.-U., Polutta, A. (2010): Wirkungsorientierte Jugendhilfe. Abschlussbericht der Evaluation des Bundesmodellprogramms „Qualifizierung der Hilfen zur Erziehung durch wirkungsorientierte Ausgestaltung der Leistungs, Entgelt und Qualitätsvereinbarungen nach §§ 78 a ff SGB VIII“. ISA Planung und Entwicklung, Münster Bachner, F. (2020): Missbrauchsbeauftragter klagt an: Schulen fehlen Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt. In: https: / / www.tagesspiegel.de/ berlin/ schule/ missbrauchsbeauftragter-klagt-an-schulen-fehlenschutzkonzepte-gegen-sexuelle-gewalt/ 25530754. html, 21. 12. 2022 Basile, K. C., Breiding, M., Smith, S. G. (2016): Disability and risk of recent sexual violence in the United States. American Journal of Public Health 106 (5), 928 - 933 Böllert, K. (2018): Kinder- und Jugendhilfe. Entwicklungen und Herausforderungen einer unübersichtlichen sozialen Infrastruktur. In: Böllert, K. (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Springer VS, Wiesbaden, 3 - 64 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. In: https: / / www.bmfsfj.de/ bmfsfj/ service/ publikationen/ 14-kinder-und-jugendbericht-88912, 24. 4. 2023 Büttner, P. (2022): Die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe der letzten beiden Jahrzehnte. Was wurde entwickelt, was blieb auf der Strecke, worin liegen zukünftige Herausforderungen. Blickpunkt Jugendhilfe 27 (1), 15 - 18 Euser, S., Lenneke, A. R. A., Tharner, A., Van Jzendoorn, M., Bakermans-Kranenburg, M. (2016): The Prevalence of Child Sexual Abuse in Out-of-home Care: Increased Risk for Children with a Mild Intellectual Disability. Journal of Applied Research in Intellectual Disabilities 29 (1), 83 - 92 Herz, A., Lips, A. (2022): Erfahrungen junger Menschen mit (sexualisierter) Peer-Gewalt - Ergebnisse der bundesweiten Online-Befragung. In: Rusack, T., Schilling, C., Lips, A., Herz, A., Schröer, W. (Hrsg.): Schutzkonzepte in der Offenen Jugendarbeit. Persönliche Rechte junger Menschen stärken. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 37 - 56 Martin, J. (2006): The Self in Disability Sport and Physical Activity. In: Prescott, A. P. (eds.): The Concept of Self in Education, Family and Sports. Nova Science Publishers, Hauppauge, 75 - 90 Maschke, S. (2020): Sexualisierte Gewalt Peer-to-Peer - Reflexionen über die Bedeutung der Peers aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive. In: Fuchs, T., Schierbaum, A., Berg, A. (Hrsg.): Jugend, Familie und Generationen im Wandel. Erziehungswissenschaftliche Facetten. Springer VS, Wiesbaden, 83 - 101 149 uj 4 | 2024 Entwicklungsperspektiven der Kinder- und Jugendhilfe in der Jugendarbeit Pothmann, J. (2021): Kinder und Jugendliche stark machen. DJI Impulse (2), 43 - 47 Rusack, T., Schilling, C. (2022): Einleitung. In: Rusack, T., Schilling, C., Lips, A., Herz, A., Schröer, W. (Hrsg.): Schutzkonzepte in der Offenen Jugendarbeit. Persönliche Rechte junger Menschen stärken. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 7 - 14 Rusack, T., Schilling, C., Lips, A., Herz, A., Schröer, W. (2022): Qualitätsstandards für Schutzkonzepte in der Kinder- und Jugendarbeit. In: Rusack, T., Schilling, C., Lips, A., Herz, A., Schröer, W. (Hrsg.): Schutzkonzepte in der Offenen Jugendarbeit. Persönliche Rechte junger Menschen stärken. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 155 - 187 Schnell, D. (2019): Schutzkonzept Arche Noah. In: https: / / www.alpsee-arche-noah.de/ auf-einen-blickfachinformationen/ , 27. 4. 2023 Schnell, D. (2023): Ethische Zielkonflikte im Spannungsfeld der Hilfen zur Erziehung. Möglichkeiten des sozialarbeiterischen Handelns entlang des Ansatzes der „Neuen Menschenrechte“. In: Martin, J. P., Kolbe, S., Hagsbacher, S. (Hrsg.): Neue Menschenrechte. Bd. 3. Gabriele Schäfer, Herne Schröttle, M., Hornberg, C., Glammeier, S., Sellach, B., Kavemann, B., Puhe, H., Zinsmeister, J. (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. BMFSFJ, Berlin Spencer, N., Devereux, E., Wallace, A. (2005): Disabling conditions and registration for child abuse and neglect: a population based study. Paediatrics 116, 609 - 613 Sullivan, P. M., Knutson, J. F. (2000): Maltreatment and disabilities: a population-based epidemiological study. Child Abuse & Neglect 24 (10), 1.257 - 1.273 Tammen, B. (2022): Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Münder, J., Meysen, T., Trenczek, T. (Hrsg.): Frankfurter Kommentar SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe. 9. Aufl. Nomos, Baden Baden, 1.033-1.088 Verlinden, K. (2018): Sexueller Missbrauch an Menschen mit (geistiger) Behinderung - Aktueller Forschungsstand. In: Bienstein, P., Verlinden, K. (Hrsg.): Prävention von sexuellem Missbrauch an Menschen mit geistiger Behinderung. Ausgewählte Aspekte. Eigenverlag der DGSB, Berlin, 5 - 16 - Anzeige -
