unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2024.art21d
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2024
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Tabuisierte Zukünfte in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe
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2024
Olivia Jonas
Linda Ortleb
Anke Giesen
Mögliche Zukünfte werden in der Gegenwart angelegt. Werden sie nicht bewusst gestaltet, überrollen sie Systeme, auch das der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe. Ein sich beschleunigender Wandel und der Anspruch an gesellschaftliche Transformation scheinen insbesondere dieses System zu überfordern und führen nicht selten zur Stagnation. Die AkteurInnen im System handeln rein reaktiv, laufen den Entwicklungen hinterher und kommen nicht „vor die Welle“.
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150 unsere jugend, 76. Jg., S. 150 - 157 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art21d © Ernst Reinhardt Verlag Tabuisierte Zukünfte in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe Organisationale Herausforderungen für das Entstehen innovativer Führungskonzepte in den Jugendämtern Mögliche Zukünfte werden in der Gegenwart angelegt. Werden sie nicht bewusst gestaltet, überrollen sie Systeme, auch das der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe. Ein sich beschleunigender Wandel und der Anspruch an gesellschaftliche Transformation scheinen insbesondere dieses System zu überfordern und führen nicht selten zur Stagnation. Die AkteurInnen im System handeln rein reaktiv, laufen den Entwicklungen hinterher und kommen nicht „vor die Welle“. von Olivia Jonas Jg. 1976; Diplom-Pädagogin, Master of Organizational Psychology, Systemischer Coach, Studierende im Masterstudiengang Zukunftsforschung, kommissarische Fachbereichsleiterin für Hilfen zur Erziehung, Eingliederungshilfe und Dienste der Jugendämter im Sozialpädagogischen Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg (SFBB) Aus dem Gespräch mit einer Führungskraft aus dem Jugendamt: „Das Interesse, als Pflegeeltern ein Kind aufzunehmen, nimmt seit Jahren lokal ab. Die Strukturen sind unattraktiv und fußen auf ein antiquiertes Verständnis von Familie, geprägt von einer tradierten Rollenteilung der Pflegeeltern. Bei besonders ,belasteten‘ Pflegekindern erhält die Pflege- Linda Ortleb Jg. 1962; Diplom-Kommunikationswirtin, Diplom-Sozialpädagogin FH, Master of Arts of Advanced Professional Studies of Social Work, Fortbildungsreferentin für die Bereiche Kinderschutz und familiengerichtliches Verfahren im SFBB Dr. Anke Giesen Jg. 1964; Kultur- und Erziehungswissenschaftlerin, Fortbildungsreferentin für die Bereiche Kinderschutz und Zusammenarbeit mit Familien im SFBB 151 uj 4 | 2024 Tabuisierte Zukünfte in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe person eine zusätzliche Förderung, die in dem Moment wegfällt, in dem die Pflegepersonen besonders gut und erfolgreich gearbeitet haben, das Kind seine Verhaltensauffälligkeiten aufgeben konnte und damit der zusätzliche Förderbedarf nicht mehr zugesprochen wird. Es ist nicht gewünscht, dass die betreuende Pflegeperson nebenbei einer mehr als geringfügigen beruflichen Tätigkeit nachgeht. Die Wohnverhältnisse (das Pflegekind hat Anspruch auf ein eigenes Zimmer) müssen natürlich auch angemessen sein. Der Anteil der Sozialversicherungsbeiträge für diese Aufgabe ist marginal, was in der Konsequenz bedeutet, dass die Pflegeperson mit dem Eintritt in den eigenen Ruhestand in die Altersarmut entlassen wird.“ Die Situation ist seit Jahrzehnten bekannt, die parallelen Klagen der Fachkräfte auch. Aktive strukturelle Veränderungsprozesse sind dennoch nicht erkennbar. Das Wissen darum, dass mögliche Zukünfte dennoch immer gestaltbar sind, bietet an dieser Stelle eine Erleichterung. Die Zukunft, die wir in der Gegenwart gestalten, wird die sein, die das System der Kinder- und Jugendhilfe in den nächsten Jahren prägt. Zukunft im Plural macht uns handlungsfähig, wenn die Notwendigkeit erkannt wird, dass es nicht nur eine schicksalhafte Zukunft gibt. Mögliche, wahrscheinliche, plausible sowie wünschenswerte Zukünfte dieses Systems müssen aktiv identifiziert werden, um sich daran im Handeln zu orientieren. Dazu braucht es alternative Konzepte, insbesondere Führungskonzepte, die neue soziale Praktiken in der Organisation Jugendamt möglich machen. Dabei wird an dieser Stelle der Blick auf die organisationalen Strukturen der Jugendämter und die dort etablierten Denkverbote und -gebote (organisationale Tabus) gelegt. Damit soll deren Einfluss auf die Entwicklungen von innovativen Führungskonzepten dargestellt werden. Letztlich wird ein Umgang mit Tabuisierungen, der bewusstes Zukunftgestalten ermöglicht, in ersten Ansätzen formuliert. 1. Gegenwärtige Trägerstrukturen der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe Die Organisation der Kinder- und Jugendhilfe ist maßgeblich durch das SGB- VIII bestimmt. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe zeichnet als besonderes Strukturmerkmal die „Zweigliedrigkeit“ aus, die Verkoppelung von Verwaltung mit einem politischen Ausschuss (Jugendhilfeausschuss). Beide Institutionen zusammen haben die Gesamtzuständigkeit einschließlich der Planungsverantwortung inne. Sie sind somit zum einen für die Infrastrukturgestaltung in der Kinder- und Jugendhilfe verantwortlich, zum anderen haben sie die Funktion eines Gewährleistenden für die Einlösung individueller Rechtsansprüche auf Leistungen (vgl. Merchel 2020). Die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe muss sich fortlaufend mit neuen gesellschaftlichen Herausforderungen und damit einhergehenden neuen gesetzlichen Grundlagen befassen. Sie muss auf sich ausdifferenzierende Biografie-, Sozialisations- und Erwerbsverläufe, sich verändernde Familienstrukturen und sich wandelnde gesellschaftliche Lebensbedingungen und Krisen Antworten geben. Ihre Bedeutung hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Das Gesamtbudget der Kinder- und Jugendhilfe hat sich seit 2009 mehr als verdoppelt (vgl. Mühlmann 2023, 17 - 23). Auf dieser fiskalischen Grundlage sind die Jugendämter in Zusammenarbeit mit den überwiegend gemeinnützigen, zivilgesellschaftlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe gefordert, einerseits Betreuungs-, Bildungs- und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche bereitzuhalten, andererseits gezielte Unterstützung für Familien sowie Schutz für Kinder und Jugendliche in Notsituationen zu gewährleisten. Damit sind Anpassungsleistungen an die sich fortlaufend verändernden Rahmenbedingungen notwendig, was beispielsweise Organisationsformen, Prozessabläufe oder auch konzeptionelle Ansätze betrifft (vgl. Trenczek 2023). 152 uj 4 | 2024 Tabuisierte Zukünfte in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe In den Jugendämtern der Bundesrepublik Deutschland herrscht seit vielen Jahren ein erheblicher Personal- und Kostendruck. Es besteht bundesweit ein Mangel an Fachkräften und eine hohe Fluktuationsdynamik (vgl. Mühlmann 2023, 17 - 23). Entsprechend müssen alternative Strategien zur Gewinnung und Einarbeitung von Mitarbeitenden entwickelt werden. Verschärfend wirkt sich eine veraltete digitale sowie angesichts der „wachsenden Aufgaben“ nicht zeitgemäße infrastrukturelle Arbeitssituation aus. Gleichzeitig steigen die Kosten für Hilfsleistungen kontinuierlich an und führen zu einem ständigen Rechtfertigungsdruck gegenüber Politik und Gesellschaft (vgl. Statistisches Bundesamt 2020). Infolgedessen müssen sich die Jugendämter der Herausforderung stellen, trotz knappen Personals und hoher Fallzahlen eine qualitative Beratung zu gewährleisten, Hilfen und Dienstleister rechtzeitig und effizient zu koordinieren und Prozesse und Strukturen agil zu gestalten. Viele routinemäßige Prozesse sind historisch gewachsen und legitimiert. Viele Jugendämter haben ihre Strukturen und Prozesse immer wieder ad hoc an die jeweils aktuellen neuen gesetzlichen Anforderungen angepasst. Diese kleinen Umstrukturierungen bringen selten eine echte Transformation mit sich und ermöglichen es der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe nicht, vom Reagieren in das Gestalten überzugehen. So ist zum Beispiel das Fach- und Finanzcontrolling sowie auch die Jugendhilfeplanung häufig rein reaktiv ausgerichtet. Viele Jugendämter arbeiten deshalb seit Jahren in verschiedenen „Notmodi“. Vor dem Hintergrund der knappen Ressourcen werden lediglich noch Kinderschutzfälle bearbeitet, während viele andere Bereiche vernachlässigt oder nur oberflächlich behandelt werden. Familien erhalten kaum oder keine Beratung. So bleiben sie von den sich beschleunigenden Entwicklungen überrollt. In den Jugendämtern begegnen wir hoch qualifizierten Fachkräften mit großer Bereitschaft, sich zu engagieren. Doch der Anspruch, Menschen helfen zu können, mit dem HochschulabsolventInnen ihre Arbeit im Jugendamt aufnehmen, scheitert allzu oft an den Widrigkeiten der Realität (vgl. Walter/ Christ 2021). Annika von Walter und Dr. Friedemann Christ beschreiben sehr eindrücklich die Notwendigkeit einer Reform der Jugendämter (vgl. Walter/ Christ 2021). Im Folgenden soll daher der Blick auf Tabus und deren Einfluss auf Führungsstrukturen gerichtet sein. Als Steuerungsebene setzen Führungskräfte die Rahmenbedingungen für Reformen und unterliegen gleichzeitig einer dauerhaften Reflexions- und Entwicklungspflicht. 2. Organisationale Tabus in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe In der öffentlichen Verwaltung in Deutschland erfolgt die Koordination bisher in der Regel über ein hierarchisches System der Über- und Unterordnung. Dieses zeichnet sich vor allem im Bereich der Ministerial- und Kommunalverwaltung durch einen hohen Grad an Formalisierung, ein hohes Maß an Zentralisierung und eine starke Spezialisierung aus. Entsprechend sind Führungskonzepte routinemäßige Prozesse, die historisch gewachsen und seit Jahren wenig strategisch reflektiert und weiterentwickelt wurden. Angesichts gesellschaftlicher Transformationsprozesse wird der Ruf nach sozialen Innovationen aus Richtung der technologischen Eliten, der Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung stärker. Ihre Potenziale werden zur Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen, wie z. B. der Inklusion, des Klimawandels oder der Bekämpfung von Armut benötigt. Auf der Basis der Erneuerung sozialer Praktiken und Organisationsformen haben sich zahlreiche Initiativen herausgebildet, die soziale Bedürfnisse befriedigen und gesellschaftliche Herausforderungen angehen wollen und so zum gesellschaftlichen Wandel beitragen. Eine Erneuerung in Richtung partizi- 153 uj 4 | 2024 Tabuisierte Zukünfte in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe pativer sozialer Praktiken sollte auch in den oft tradierten, stabshierarchischen Führungsstrukturen der Jugendämter sichtbar werden. Bisher ist festzustellen, dass innovative Bedarfe eher starren, tabuisierenden Systemen gegenüberstehen. Neue soziale Praktiken können daher nur auf Grundlage einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit diesen Tabus und tradierten Konzepten etabliert werden. 2.1 Exkurs - Der Tabu-Begriff Unser Sprachgebrauch gibt in Bezug auf Tabus eine metaphorisch martialische Sprache vor: sie müssen „verletzt“ oder „gebrochen“ werden. So ergibt sich ein enger Bezug zu Zerstörung, Schmerz und Verboten. Über Tabus wird selten offen reflektiert, sie sind im gesellschaftlichen Unbewussten angesiedelt und wirken eher verdeckt und indirekt. In ihrer Verbindlichkeit werden sie oft erst über die öffentliche Reaktion bei ihrer Infragestellung sichtbar. Tabus, deren Konstruktion und auch Dekonstruktion sowie der zugehörige Diskurs sind immer wieder gesellschaftlich verhandelt worden. Jedoch bleibt insbesondere im Kontext eines schnelleren Wandels und allgemeiner gesellschaftlicher Beschleunigung (vgl. Rosa 2012, 71) zu überprüfen, ob sich parallel auch die Zeitabstände, in denen Tabugrenzen verhandelt werden, verkürzen. Im Rahmen aktueller Tabudiskurse, die zum Beispiel medizinische und technische Entwicklungen begleiten, werden ethische Grenzen ausgehandelt. Im Zuge der Pandemieentwicklung wurden Tabugrenzen wie das Einschränken der Bewegungsfreiheit immer wieder auf privater und gesellschaftlicher Ebene thematisiert. Andere Tabus, wie die Aufhebung der Aussonderung im Rahmen einer inklusiven Schulbildung, scheinen in der deutschen Bildungslandschaft dauerhaft verfestigt (vgl. Koenig/ Strasser 2022, 80). Auch im organisationalen Alltag des Jugendamtes sind Tabus omnipräsent und beeinflussen alltägliche soziale Praktiken. Während in einigen Bereichen Tabus aufgebrochen werden, werden sie in anderen Sphären verschärft. In manchen Tabudiskursen werden begangene Tabubrüche thematisiert. Im Folgenden soll dies an Beispielen aus der Praxis verdeutlicht werden. Angesichts beschleunigter gesellschaftlicher Tabudiskurse könnte vermutet werden, dass auch die Organisation Jugendamt dieser Beschleunigung unterliegt. Ein genauerer Blick in das System „Jugendamt“ und die besondere Beschaffenheit seiner Organisation sowie die dahinterliegenden Tabus erscheint zwingend, um einen möglichen Einfluss auf Dynamiken des Wandels zu verstehen und diesen beschreiben zu können. Auf die Historie der öffentlichen Verwaltung in Deutschland kann an dieser Stelle nicht genauer eingegangen werden. Der Blick in die Geschichte der Institutionalisierung der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe ist für das Verstehen des Entstehungsprozesses von möglichen Tabus zwar notwendig, würde hier aber den Rahmen sprengen. James Cook stieß vor mehr als zweihundert Jahren auf seinen Reisen in die Südsee auf das Phänomen Tabu in der Kultur der dortigen Inselbevölkerung. Reiseerzählungen und -berichte trafen damals auf eine Faszination für „das Exotische“ und der Begriff Tabu war fest mit der Begegnung mit dem Anderen verbunden (vgl. Kremendahl 2018, 347). Spätestens jedoch mit Sigmund Freuds Buch „Totem und Tabu“ (Freud 2012, Kap. 2) und seiner Beschreibung der Ambivalenz der Gefühlsregungen hatte man das Phänomen der Tabuisierung auch in der eigenen Kultur entdeckt, das in Bezug auf die tabuisierten Inhalte mit einer enormen gesellschaftlichen Thematisierungshemmung einhergeht. Aber auch auf der Handlungsebene und sogar auf der Wahrnehmungsebene sind Tabus zu finden. Es handelt sich um Meidegebote (vgl. Hasselmann 2020, 2) einer Gemeinschaft, bei deren Missachtung der soziale Ausschluss befürchtet wird. Sie ordnen und begrenzen das soziale Zusammenleben, indem sie Sagbarkeits-, Zeigbarkeits- und Machbarkeitsgrenzen in allen sozialen Praktiken etablieren. Sie legen fest, was von Mitgliedern 154 uj 4 | 2024 Tabuisierte Zukünfte in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe einer Gruppe an Gedanken, Handlungen, Gefühlen und Themen zugelassen wird und was nicht, was zu einer Gesellschaft gehört und was nicht. Schröder bezeichnet Tabus und Tabuisierungen auch als ein Herrschaftsmittel, durch das soziale und politische Kontrolle ausgeübt wird (vgl. Schröder 1998, 1). Seine Tabu-Beschreibungen sind auch dialektisch zu verstehen. So stehen sie einerseits für das Hemmen von öffentlicher Kommunikation, da sie nicht oder nur eingeschränkt offen angesprochen werden. Tabuisierte Inhalte werden nicht oder ungern zum Thema gemacht und können einen objektiven und transparenten Diskurs erschweren. Andererseits bieten sie aber auch die Möglichkeit, Kommunikation zu ersetzen bzw. zu erleichtern (vgl. ebd.). In dieser Deutung scheinen sie die Funktion eines „Common Sense“ zu übernehmen. Sie bilden eine unausgesprochene Realität, die gesellschaftliche und organisationale Kommunikation erleichtern kann, da es in diesem Kontext keine Erklärungen für Verhalten benötigt. Tabus sind in diesem Sinne natürlich, praktisch und zugänglich sowie verständlich - Eigenschaften, die als solches auch dem Common Sense zugeschrieben werden (vgl. Geertz 1987, 277). Entsprechend können Tabus einen öffentlichen Dialog ausbremsen oder sogar ein unausgesprochenes gesellschaftliches und organisationales Verständnis ermöglichen. 2.2 Tabu - Typologien Organisationale Tabus können hinsichtlich der Beschreibung wie folgt differenziert werden (vgl. Schröder 1998, 6): ➤ Objekttabus (tabuisierte Gegenstände, Institutionen und Personen) ➤ Tattabus (tabuisierte Handlungen) Objekt- und Tattabus werden begleitet und abgesichert durch: ➤ Kommunikationstabus (tabuisierte Themen) ➤ Worttabus (tabuisierter Wortschatz) ➤ Bildtabus (tabuisierte Abbildungen) Kommunikations-, Wort- und Bildtabus werden des Weiteren gestützt durch: ➤ Gedankentabus (tabuisierte Vorstellungen) ➤ Emotionstabus (tabuisierte Emotionen) Zum Beispiel wird die Gewährung von sozialräumlich orientierten, optimal dem individuellen Bedarf angepassten Maßnahmen selten umgesetzt. Hier scheint das Denken jenseits des Paragrafenkataloges des SGB-VIII nach wie vor tabu zu sein. Das Jugendamt als Organisation ist stabshierarchisch definiert (vgl. Weber 1972). Führungshandeln jenseits der pyramidalen Struktur, die durch das jeweilige Organigramm von oben nach unten verbildlicht ist, scheint unvorstellbar. 2.3 Führungsstrukturen und Tabus Inwiefern lässt sich der Tabubegriff für eine Analyse von Führungsstrukturen und -konzepten nutzen? Dies lässt sich exemplarisch anhand ausgewählter Tabus verdeutlichen. So stellt das Eingangsbeispiel über die Situation der Vergütung von Pflegeeltern anscheinend ein Tabu dar. Warum schaffen es Führungsstrukturen der Jugendämter nicht, für ein seit Jahren bekanntes Dilemma eine Lösung herbeizuführen? Organisationale Führungskonzepte sind in den Jugendämtern bisher weniger transformational und systemisch ausgerichtet. Das Mindset der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe zeigt sich im Umgang mit transformationalen Führungskonzepten eher planerisch. Die grundlegende Organisationskultur und -struktur wird an folgenden Aufzählungen deutlich (vgl. Pforte/ Schwencke 1973, 175): ➤ konkret - nicht abstrakt ➤ zuständigkeitsbegrenzt und ressourcenorientiert - nicht ressortübergreifend und problemorientiert ➤ vollzugsorientiert - nicht kontemplativ und suchend 155 uj 4 | 2024 Tabuisierte Zukünfte in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe ➤ eindeutig - nicht komplexitätserweiternd ➤ detailliert, segmentiert - nicht global und umfassend ➤ kurz- und mittelfristig - nicht langfristig ➤ systemstabilisierend - nicht systemüberwindend Beispielhafte aktuelle Analysen von Strategiepapieren der Bundes-, Landes- und Kommunalebene in öffentlichen Verwaltungen der letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass diese Denk- und Handlungsstruktur auch aktuell noch dominiert. Folgende Erkenntnisse zur Beschaffenheit strategischer Ausrichtung der öffentlichen Verwaltung der letzten zehn Jahre lassen sich aus den ausgewählten analysierten Dokumenten herausfiltern (vgl. Schilling/ O’Neill 2020, 315 - 317): ➤ Kurzfristigkeitsorientierung ➤ Sicherheits- und Planbarkeitsorientierung ➤ Status-Quo-Orientierung ➤ Defensiv-Orientierung ➤ Kompetenzorientierung Schophaus fasst die Beschaffenheit beispielhafter Zukunftsbilder aus öffentlichen Verwaltungen folgendermaßen zusammen (vgl. Schilling/ O’Neill 2020, 330): ➤ Entwicklung auf Schienen (nur in eine Richtung denken) ➤ Mehr Desselben (Sicherheit durch Wiederholung) ➤ Digitalisierung der Vergangenheit (Papierakte wird zur E-Akte) ➤ Kommunaler Flaschenhals (keine Entscheidung ohne „oberste“ Verantwortungsebene) ➤ Zukunft als „Aufholjagd“ (den Entwicklungen hinterherrennen) Zukünfte von Verwaltungen werden innerhalb des Spannungsfeldes aus Defensive und Kontrollbedürfnis sowie Veränderungswunsch und Innovationspotenzial gedeutet (vgl. Schilling/ O’Neill 2020, 332). Zukunftsbilder sind hier stark von Defensivität und Zurückhaltung geprägt. Sie bewegen sich innerhalb gegebener Strukturen und bleiben im Kontext der Meidungsgebundenheit (vgl. Hasselmann 2020, 7). Sie erhalten den Systemalltag und stiften Sinn, indem sie klar aufzeigen, was es gilt, gemeinsam zu vermeiden. Das Phänomen Unsicherheit als möglicher Treiber für Entwicklung ist durchgängig negativ besetzt. Die planerischen Strategien innerhalb des Systems bleiben durch den legislativen Rhythmus und die zähen Prozesse der Gesetzgebungsverfahren geprägt. Seine Vertreter schaffen es kaum, darüber hinaus zu denken. So gleicht die Auseinandersetzung mit Zukünften und innovativen Führungskonzepten in der öffentlichen Verwaltung noch immer einer Aufholjagd. So ist die sich gerade vollziehende Ruhestandswelle der Boomer-Generation seit Jahrzehnten bekannt. Dennoch werden Strategien zur Bewältigung erst mitten im Geschehen entwickelt. 2.4 Tabus in öffentlichen Verwaltungen Bezug nehmend auf die vorangegangene Definition von Tabus können, zusammengefasst aus den beispielhaften Texturen, der Beschaffenheit von Zukunftsbildern, folgende fünf Tabus formuliert werden: ➤ Kurzfristigkeitsorientierung - Tabu, langfristig zu planen ➤ Sicherheits- und Planbarkeitsorientierung - Tabu, Unsicherheiten als gewinnbringend wahrzunehmen ➤ Status-Quo-Orientierung - Tabu, fehlerfreundlich zu sein ➤ Defensiv-Orientierung - Tabu, mutig zu sein ➤ Befugnisorientierung - Tabu, Kompetenz über Rolle und Funktion zu stellen Führungskräfte mit antizipierenden Führungskonzepten müssen sich aber den Herausforderungen einer langfristigen Planung mit Mut zur Unsicherheit und hoher Fehlertoleranz stellen. Das verlangt von ihnen eine starke Reflexion der eigenen Rolle, bei deren Ausübung weniger Positionen als Kompetenzen in den Fokus gerückt werden. 156 uj 4 | 2024 Tabuisierte Zukünfte in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe Durch neue Führungskonzepte kann das Jugendamt in der Bewältigung dieser Herausforderungen unterstützt werden. Führungshandeln bedeutet Reflexion und Dekonstruktion von Tabus, nicht zwingend Systemerhaltung. Diese Form zu reflektieren, wird in partizipativen, weniger in tradierten Organisationen ermöglicht. 3. Zum Umgang mit Tabus - Soziale Innovationen und die Erneuerung von sozialen Praktiken in der Führungsstruktur eines Jugendamtes Nur im bewussten Umgang können Tabus die Reflexion von Organisationen ermöglichen, anstatt sie zu hemmen. Ein Umgang mit organisationalen Tabus ist abhängig vom Mut, aus den bereits gegebenen Denk- und Handlungsstrukturen, insbesondere Führungsstrukturen herauszutreten und sie reflektiv zu dekonstruieren. Es wird ein Modell des transformativen Wandels benötigt, das neue, partizipative Führungskonzepte im Rahmen des Nachdenkens über wünschenswerte Zukünfte entstehen lässt. Dabei gilt es, die Aufmerksamkeit nicht nur auf die systemischen Muster der Organisationen zu lenken, sondern auch deren latente Anteile und zugrunde liegende Annahmen ins Bewusstsein zu heben (vgl. Koenig/ Strasser 2022, 81). Eine Sensibilisierung der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe für partizipative, inklusive Methoden und Führungsstrukturen unterstützt maßgeblich eine Dekonstruktion von hemmenden Tabus. Dabei meint Dekonstruktion nicht Kritik (vgl. Belsey 2013, 117) im Sinne der Kritik am System selbst, sondern die Eröffnung der Option, dass veränderte, alternative Möglichkeitsräume das bestehende System bereichern und dadurch hemmende Tabu-geprägte Strukturen und Denkmuster dekonstruiert werden können. Ein weiterer Ansatz zum Umgang mit Tabus ist das Antizipieren dieser, das Betrachten ihres Lebenszyklus und ihrer Beschaffenheit (vgl. Schäfer/ Steinmüller 2022, 334). Führungskräfte können in einer alternativen Rolle Tabus im System sichtbar machen. So sind stetige Veränderungen weniger als eine Störquelle zu bewerten denn als ein zu betrachtender Einflussfaktor. Die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe wird nicht immer „vor die Welle“ kommen. Dennoch kann das System durch Mut zur Partizipation, den Abbau von positionsorientierten Strukturen in der Hierarchie und einen lustvollen Umgang mit Unsicherheit vielleicht sicherer schwimmen. Olivia Jonas, Linda Ortleb und Dr. Anke Giesen Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg (SFBB) Königstr. 36 B 14109 Berlin E-Mail: olivia.jonas@sfbb.berlin-brandenburg.de linda.ortleb@sfbb.berlin-brandenburg.de anke.giesen@sfbb.berlin-brandenburg.de Literatur Belsey, C. (2013): Poststrukturalismus. Philipp Reclam jun., Stuttgart Freud, S. (2012): Gesammelte Werke. Totem und Tabu. S. Fischer, Frankfurt am Main Geertz, C. (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Suhrkamp, Frankfurt am Main Hasselmann, K. (2020): Hidden Dimensions - Zur Latenz und Aktualität tabuartiger Normen. Wilhelm Fink, Paderborn Koenig, O., Strasser, R. (2022): Inklusive Zukünfte antizipieren. In: Koenig, O. (Hrsg.): Inklusion und Transformation in Organisationen. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 77 - 95 Kremendahl, K. (2018): Vom Anderen in den Reiseberichten des Kapitäns James Cook. Eine Funktionsanalyse des Tabus. In: Berndt, F., Fulda, D. (Hrsg.): Die Erzählung der Aufklärung. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2015 in Halle a. d. Saale. Felix Meiner, Hamburg, 347 - 355 157 uj 4 | 2024 Tabuisierte Zukünfte in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe Merchel, J. (2020): Trägerstrukturen und Organisationsformen in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Böllert, K. (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Springer VS, Wiesbaden, 93 - 113 Mühlmann, T. (2023): Personal in Jugendämtern und im ASD im Jahr 2020 - Entwicklungstrends und länderbezogene Daten. KomDat 3 (22), 17 - 23 Pforte, D., Schwencke, O. (1973): Ansichten einer zukünftigen Futorologie. Carl Hanser, München Rosa, H. (2012): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. 9. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main Schäfer, K., Steinmüller, K. Z. A. (2022): Gefühlte Zukunft. Springer Fachmedien, Wiesbaden Schilling, E., O’Neill, M. (2020): Frontiers in Time Research - Einführung in die interdisziplinäre Zeitforschung. Springer Fachmedien, Wiesbaden Schröder, H. (1998): Tabus, interkulturelle Kommunikation und Fremdsprachenunterricht. Deutsch als Fremdsprache 35 (4), 195 - 198 Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2020): Ausgaben für Kinder- und Jugendhilfe von 2009 bis 2019 verdoppelt. In: https: / / www.destatis.de/ DE/ Presse/ Pressemittei lungen/ 2020/ 12/ PD20_504_225.html, 2. 11. 2023 Trenczek, T. (Hrsg.) (2023): Inobhutnahme. Krisenintervention und Schutzgewährung durch die Kinder- und Jugendhilfe. Sozialwissenschaftliche Grundlagen und rechtliche Regelungen. Handbuch. 4 Aufl. Boorberg, Stuttgart/ München Walter, A. v., Christ, F. (2021): Das inklusive Kinder- und Jugendhilferecht ins Leben bringen. Nachrichtendienst des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. 12, 583 - 589 Weber, M. (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. J. C. B. Mohr, Tübingen
