unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2024.art23d
4_076_2024_4/4_076_2024_4.pdf41
2024
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Selbstorganisierte Zusammenschlüsse
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2024
Ahlke Bitting
Die kommunale Praxis und die Intention der reformierten Gesetzgebung gehen nicht immer Hand in Hand. Im Zuge der SGB-VIII-Reform 2021 wurden die AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe in ihrem Recht gestärkt, selbstorganisierte Zusammenschlüsse zu bilden. Die Träger brauchen jetzt eine Strategie, wie sie Beteiligung umsetzen. Drei Gelingensbedingungen machen diesen Wandel möglich.
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167 unsere jugend, 76. Jg., S. 167 - 178 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art23d © Ernst Reinhardt Verlag Selbstorganisierte Zusammenschlüsse Neue Beteiligungsrechte umsetzen und kommunale Infrastrukturen gemeinsam gestalten Die kommunale Praxis und die Intention der reformierten Gesetzgebung gehen nicht immer Hand in Hand. Im Zuge der SGB-VIII-Reform 2021 wurden die AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe in ihrem Recht gestärkt, selbstorganisierte Zusammenschlüsse zu bilden. Die Träger brauchen jetzt eine Strategie, wie sie Beteiligung umsetzen. Drei Gelingensbedingungen machen diesen Wandel möglich. von Ahlke Bitting Jg. 1994; B. A. Soziale Arbeit, M. A. Kindheitswissenschaften und Kinderrechte, Jugendhilfeplanerin im Landkreis Hildesheim, Fachplanung Erziehungshilfen, Nebentätigkeit als freie Dozentin Debatten im Reformprozess Schon die Debatten um den § 4 a SGB-VIII im Reformprozess waren nicht frei von Widerspruch. Der § 4 a SGB-VIII definiert selbstorganisierte Zusammenschlüsse als Gruppen von Leistungsberechtigten sowie Ehrenamtlichen, die die AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe unterstützen und begleiten. Dies umfasst Formen der Selbsthilfe und Selbstvertretungen sowohl innerhalb von Einrichtungen als auch im Rahmen gesellschaftlichen Engagements. Dementsprechend wurden auch die Rechtsgrundlagen der Jugendhilfeausschüsse und der Arbeitsgemeinschaften öffentlicher und freier Träger erweitert (§§ 71, 78 SGB-VIII). Diese Gremien sollen mit selbstorganisierten Zusammenschlüssen zusammenarbeiten. Das wirft viele Fragen auf. Zusammenschlüsse von AdressatInnen auch in Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB-VIII und in den Jugendhilfeausschuss einzubeziehen, ist den meisten öffentlichen Trägern fremd. Auch in der Praxis der Fallarbeit scheinen Schutz- und Beteiligungsrechte teilweise paradox gegensätzliche Anforderungen zu sein. Dazu kommt die Frage, wie in Zeiten von Personalmangel und Überlastung auch noch neue Beteiligungsstrukturen aufgebaut werden sollen. Der Gesetzestext des § 4 a SGB-VIII wurde bewusst offen formuliert. Der unbestimmte Rechtsbegriff „selbstorganisierte Zusammenschlüsse“ wurde im Reformprozess vom Bundesrat mit der Forderung nach einem Landesrechtsvorbehalt bemängelt (vgl. BT-Drucks. 19/ 27481, 2). Damit sollte mehr Rechtssicherheit sowie die Möglichkeit, Qualitätsstandards zu etablieren, geschaffen werden (vgl. ebd.). Ähnlich kritisch äußerte sich die Bundesvereinigung kommunaler Spitzenverbände in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf. Sie befürchtete einen „Wildwuchs“ selbstorganisierter Zusammenschlüsse (vgl. Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände 2021, 2). Daher wurde eine Nachweispflicht für selbstorganisierte Zu- 168 uj 4 | 2024 Selbstorganisierte Zusammenschlüsse sammenschlüsse gefordert, mit der sie belegen, dass sie „eine nennenswerte Zahl von Betroffenen organisieren und auch insgesamt dafür Sorge tragen, dass sie den notwendigen Anforderungen genügen“ (ebd.). Die Bundesregierung wies beide Forderungen ab. Es sei den Ländern unbenommen, Konkretisierungen vorzunehmen, die im Einklang mit geltendem Recht stehen (vgl. BT-Drucks. 19/ 27481, 45). Auch die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) äußerte sich zur Kritik am Gesetzentwurf. Es sei charakteristisch für Selbstorganisationen, keine klare Form zu haben (vgl. AGJ 2021, 16). Eine weitere „rechtstechnokratische Veränderung“ könnte zur Folge haben, dass es für die AdressatInnen nicht mehr ersichtlich sei, dass sie gemeint sind (vgl. ebd.). In der Forderung nach einer „juristisch-formalen Definition“ sieht die AGJ den Versuch, sich einer „uferlosen Inanspruchnahme“ der Rechtsnorm und unbequemer Gruppen zu erwehren (vgl. ebd.). Aus dem § 4 a SGB-VIII gehe zudem keine „unmittelbare Förderpflicht“ hervor, sondern vielmehr eine „Infrastrukturverpflichtung“ (vgl. ebd.). Die internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) folgert, dass es nicht darum gehe, den Zusammenschlüssen etwas zuzugestehen (vgl. Dionisius et al. 2023, 3). Vielmehr müsse die Jugendhilfe ihre Verfahren für eine weitere Demokratisierung öffnen. Selbstvertretungen „müssen nicht beweisen, dass sie in die bisherigen Kinder- und Jugendhilfestrukturen passen“ (ebd.). Es sei die Jugendhilfe, die aktiv werden müsse, geltendes Recht umzusetzen. § 4 a Selbstorganisierte Zusammenschlüsse zur Selbstvertretung (1) Selbstorganisierte Zusammenschlüsse nach diesem Buch sind solche, in denen sich nicht in berufsständische Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe eingebundene Personen, insbesondere Leistungsberechtigte und Leistungsempfänger nach diesem Buch sowie ehrenamtlich in der Kinder- und Jugendhilfe tätige Personen, nicht nur vorübergehend mit dem Ziel zusammenschließen, Adressatinnen und Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe zu unterstützen, zu begleiten und zu fördern, sowie Selbsthilfekontaktstellen. Sie umfassen Selbstvertretungen sowohl innerhalb von Einrichtungen und Institutionen als auch im Rahmen gesellschaftlichen Engagements zur Wahrnehmung eigener Interessen sowie die verschiedenen Formen der Selbsthilfe. (2) Die öffentliche Jugendhilfe arbeitet mit den selbstorganisierten Zusammenschlüssen zusammen, insbesondere zur Lösung von Problemen im Gemeinwesen oder innerhalb von Einrichtungen zur Beteiligung in diese betreffenden Angelegenheiten, und wirkt auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit diesen innerhalb der freien Jugendhilfe hin. (3) Die öffentliche Jugendhilfe soll die selbstorganisierten Zusammenschlüsse nach Maßgabe dieses Buches anregen und fördern. Aber reichen die bisherigen Beteiligungsrechte aus dem SGB-VIII nicht aus? Ein Blick auf verschiedene Begründungen für Beteiligung zeigt die Notwendigkeit, die Rechtsgrundlage und die Praxis der Beteiligung auszubauen. Dazu lohnt ein Blick auf drei Begründungslinien der Beteiligungsrechte: Die Qualität der Praxis steigt in Verbindung mit der Zufriedenheit der AdressatInnen, es gibt ein Recht auf Beteiligung und Beteiligung ist demokratietheoretische Notwendigkeit. Beteiligung ist Qualitätsmerkmal Der Reformprozess des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes von 2018 bis 2021 wurde vom Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) wissenschaftlich begleitet. Im Ergebnis zeigte sich, dass „sich nur weniger als die Hälfte der Adressatinnen und Adressaten bisher ‚auf Augenhöhe‘ mit den professionell Tätigen im Hilfesystem wahrnimmt“ (Feist-Ortmanns/ Macsenaere 2020, 85). Im Bereich der Partizipation in der Hilfeplanung sahen 95 % der AdressatInnen Änderungsbedarf (vgl. ebd., 37). Der Prozentsatz steht in einem 169 uj 4 | 2024 Selbstorganisierte Zusammenschlüsse interessanten Kontrast zu den befragten Fachkräften, die nur zu 40 % einen Änderungsbedarf sahen (vgl. ebd.). Diese Schieflage ist ein Aufruf, die Qualität unserer Beteiligungspraxis zu überdenken. Der Begriff der Qualität ist Teil der Kinder- und Jugendhilfe als soziale personenbezogene Dienstleistung (vgl. Klatetzki 2018, 1260). Die Qualität einer Dienstleistung kann nur unter Einbeziehung der AdressatInnen beurteilt werden (vgl. Schnurr 2022, 18). Dass Beteiligung als Qualitätskriterium die Zufriedenheit der AdressatInnen tatsächlich steigert, lässt sich empirisch belegen. Unter anderem beurteilen AdressatInnen in Kinderschutzfällen den gesamten Fallverlauf positiver, je besser sie informiert und beteiligt wurden (vgl. Feist-Ortmanns/ Macsenaere 2020, 44). Im Zuge der Reform durch das Bundeskinderschutzgesetz 2012 trat der § 79 a SGB-VIII in Kraft. Öffentliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe wurden im Rahmen ihrer Gesamtverantwortung zur Qualitätsentwicklung verpflichtet. Dies wurde damit begründet, dass die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe „personenbezogene soziale Dienstleistungen sind, die im Gegensatz zu Geldleistungen gesetzlich nicht abschließend definierbar sind und deren konkreter Inhalt erst im Einzelfall unter aktiver Beteiligung der Leistungsadressaten bestimmt werden kann“ (BT-Drucks. 17/ 6256, 72). Beteiligung ist also gleichzeitig ein Qualitätskriterium und elementare Voraussetzung, damit eine Jugendhilfeleistung überhaupt erbracht werden kann. Beteiligung ist ein Recht Das Recht auf Beteiligung war von Anfang an Teil des SGB-VIII. Ein Blick auf die bestehenden Beteiligungsrechte verdeutlicht, warum der § 4 a SGB-VIII eine notwendige Ergänzung ist. Schon in der ersten Fassung 1990/ 91 wurde Kindern und Jugendlichen unter anderem das Recht auf Beteiligung an sie betreffenden Entscheidungen zugeschrieben (§ 8 SGB-VIII). Die öffentliche Jugendhilfe muss Kinder und Jugendliche zudem „in geeigneter Weise“ auf ihre Rechte hinweisen (vgl. ebd.). Das wohl relevanteste Element der Beteiligungsstrukturen der Jugendhilfe ist das Hilfeplangespräch nach § 36 SGB- VIII. Gerade durch die partizipative Hilfeplanung wurden AdressatInnen zu MitgestalterInnen auf Augenhöhe im Gegensatz zur eher fremdbestimmten Hilfegestaltung nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz. In späteren Reformen wurden zudem die Beteiligungsrechte von jungen Menschen und Familien bei Einschätzungen von Kindeswohlgefährdungen gestärkt (§ 8 a Abs.-4 Nr.-3 SGB-VIII). Für stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe wurden Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren zur Voraussetzung für den Erhalt einer Betriebserlaubnis (§ 45 Abs.-2 Nr.-3 SGB-VIII). Die Fachkräfte der Einrichtungen erhielten zudem das Recht auf Beratung durch den überörtlichen Träger der Jugendhilfe zu Verfahren der Beteiligung (§ 8 b Abs.-2 Nr.-2 SGB-VIII). Beteiligung ist außerdem Teil der Jugendhilfeplanung. Der planerische Bedarf ist „unter Berücksichtigung der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen und der Erziehungsberechtigten“ festzustellen (§ 80 Abs.-1 Nr.-2 SGB-VIII). Im März 1992 wurde zudem die UN-Kinderrechtskonvention von Deutschland ratifiziert (vgl. bpb 2019). Diese sichert Kindern und Jugendlichen Rechte in drei Bereichen zu (vgl. Netzwerk Kinderrechte 2023). Neben elf Artikeln zu Schutzrechten und zwölf Artikeln zu Förderrechten befassten sich drei Artikel der Konvention mit Beteiligungsrechten (vgl. ebd.). Die Beteiligungsrechte umfassen das Recht des Kindes, sich eine Meinung zu bilden, diese frei zu äußern und angehört zu werden, das Recht auf Informationsfreiheit und Zugang zu Informationen sowie das Recht auf Zugang zu Medien und kindgerechten Formaten in Massenmedien. Durch das SGB-VIII und die UN-Kinderrechtskonvention haben Kinder und Jugendliche also das Recht, mit ihrer Meinung an Prozessen zur Entscheidungsfindung teilzunehmen und damit auch auf Entscheidungen Einfluss zu nehmen. 170 uj 4 | 2024 Selbstorganisierte Zusammenschlüsse Diese Rechte beziehen sich insbesondere im SGB- VIII primär auf den Einzelfall. So werden AdressatInnen beispielsweise im Hilfeplangespräch in Bezug auf die Ausgestaltung des eigenen Fallverlaufs beteiligt. Der § 4 a stärkt nun im Gegensatz dazu die AdressatInnen der Jugendhilfe in ihrem Recht, sich in Zusammenschlüssen zu organisieren und gemeinsam ihre Interessen fallübergreifend zu vertreten. Dies hebt das Recht auf Beteiligung auf eine übergeordnete Ebene. Ebenen der Jugendhilfe Die Jugendhilfe kann in drei Ebenen gedacht werden. Die Fall-Ebene entspricht der Mikro- Ebene, die Meso-Ebene umfasst die Einrichtungen der Jugendhilfe. Die Makro-Ebene besteht aus dem Jugendhilfeausschuss, Arbeitsgemeinschaften und der Jugendhilfeplanung (vgl. Hinken 2019, 11). Bisher lag der Fokus der Beteiligungsrechte auf der Mikro-Ebene. Ein Beispiel dafür ist die Hilfeplanung. Beteiligung auf der Meso-Ebene findet unter anderem durch die Gruppen-Abende in stationären Einrichtungen statt. Wenn sich AdressatInnen nun organisieren und ihre Interessen auch in übergeordneten Gremien und Arbeitsgruppen vertreten, entspricht dies der Beteiligung auf der Makro- Ebene. Die Rückmeldungen, die Träger durch die Zusammenschlüsse erhalten, betreffen somit nicht mehr nur einzelne fallführende Fachkräfte, sondern die Beteiligungsstrukturen eines gesamten Trägers oder einer gesamten Kommunalverwaltung. Das Jugendhilfedreieck, welches die Hilfeplanung ausmacht, wird durch den § 4 a SGB-VIII auch auf übergeordneter Ebene Abb. 1: Das Jugendhilfedreieck auf zwei Ebenen (Eigene Darstellung) AdressatInnen § 4 a SGB VIII Öffentlicher Träger Freie Träger Übergeordnete Ebene Jugendhilfeausschuss, Arbeitsgemeinschaften Fall-Ebene Hilfeplangespräch § 36 SGB VIII 171 uj 4 | 2024 Selbstorganisierte Zusammenschlüsse abgebildet. Wurden in Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB-VIII und in Jugendhilfeausschüssen bisher die Strukturen der Jugendhilfe durch Fachkräfte und Professionelle gestaltet, können nun durch den § 4 a SGB-VIII auch Gruppen von AdressatInnen an diesen Gesprächen in diesen Gremien teilnehmen. Damit sind zum einen Träger zu einer gewissen Offenheit aufgefordert. Nach meinen persönlichen Erfahrungen kommen Fachkräften bisweilen Zweifel an der Beteiligungsfähigkeit der AdressatInnen, insbesondere in Bezug auf formelle Kontexte wie Ausschüsse oder Gremien. Diese Überlegungen können zum Anlass genommen werden, sich zunächst zu vergegenwärtigen, dass den meisten Fachkräften bei näherem Hinsehen gleich mehrere AdressatInnen einfallen, bei denen sie keinen Zweifel haben, dass diese in der Lage wären, eine Interessensvertretung zu gründen. Zudem können kommunale Jugendhilfestrukturen den § 4 a SGB-VIII zum Anlass nehmen, kritisch zu hinterfragen, ob die oben genannten Gremien in einer Art und Weise hochschwellig gestaltet werden, dass es eines gewissen Könnens bedarf, daran teilzunehmen. Zudem ist die Teilnahme an Gremien im Kontext einer Interessensvertretung nur ein Teil des § 4 a SGB-VIII. Der Gesetzestext spricht ebenso von Selbsthilfe und gegenseitiger Unterstützung. Ist es unsere Aufgabe als Jugendhilfeträger, unsere AdressatInnen dabei zu unterstützen, sich zu einer Beteiligungsfähigkeit hin zu entwickeln? Dies ist eine demokratietheoretische Frage. Beteiligung ist demokratisches Prinzip Dass soziale personenbezogene Dienstleistungen wie die Kinder- und Jugendhilfe öffentlich bereitgestellt werden, ist ein wesentliches Element demokratischer Gesellschaften wie unserer (vgl. Schnurr 2018, 1131). So vielfältig wie unsere AdressatInnen sind auch ihre Ansprüche auf Leistungen. Gleichzeitig liegt es in der Natur der Sache, dass es stets politisch umstritten sein wird, wie die Ressourcen gerecht verteilt werden und die Leistungen ausgerichtet sein sollen (vgl. ebd.). Daher müssen Bürgerinnen und Bürger demokratischer Gesellschaften die Möglichkeiten und das Recht haben, auf die Ausgestaltung der Leistungen Einfluss zu nehmen (vgl. ebd.). In Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe gilt dies nicht nur in Bezug auf die Ausgestaltung des eigenen Fallverlaufs, sondern auch für die Einflussnahme auf die Infrastruktur der Leistungen (vgl. BMFSFJ 1994, 584, 586). Erst wenn alle Bereiche einer Gesellschaft an demokratischen Prinzipien ausgerichtet sind, ist eine Gesellschaft „wirklich demokratisch“ (Pluto 2022 a, 73). Daher muss auch das System der Kinder- und Jugendhilfe in sich demokratisch organisiert werden (vgl. ebd.). Damit werden nicht nur die Entscheidungsbefugnisse der Bürgerinnen und Bürger erweitert, es wird zudem die Demokratie selbst stabilisiert (vgl. Schnurr 2018, 1132). Gerade Kinder und Jugendliche gestalten nicht nur heute, sondern auch zukünftig die demokratische Gesellschaft (vgl. Pluto 2022 a, 73). Die Kinder- und Jugendhilfe hat den Auftrag, dafür Lerngelegenheiten zu bieten (§ 11 Abs.-3 Nr.-1 SGB-VIII). Durch den praktischen Diskurs über öffentliche Angelegenheiten und die Teilnahme an Entscheidungsfindungen entsteht durch „praktizierte Partizipation im eigentlichen Sinne erst die Freiheit und das demokratische Gemeinwesen“ (Schnurr 2018, 1128). In der Verwirklichung von Beteiligungsrechten war die Kinder- und Jugendhilfe bislang „nicht besonders erfolgreich“ (Thurm/ Redmann 2023, 15). In einer Beteiligungswerkstatt des Zukunftsforums Heimerziehung gaben AdressatInnen an, kaum Möglichkeiten zu sehen, ihre Beteiligungsrechte einzufordern, wenn diese nicht verwirklicht wurden (vgl. Knuth 2020, 11). Auch die Studie im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Reformprozesses zum KJSG 172 uj 4 | 2024 Selbstorganisierte Zusammenschlüsse stellte fest, dass insbesondere Eltern fremduntergebrachter Kinder sich nur gering partizipiert fühlten (vgl. Feist-Ortmanns/ Macsenaere 2020, 41). Beteiligungsrechte bilden ein Gegengewicht zu einer paternalistischen und erwachsenenzentrierten Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Schröer 2022, 41). Der § 4 a SGB- VIII stärkt das Recht, auch auf infrastruktureller Ebene zu partizipieren. Dabei sind die Professionellen dazu eingeladen, „Interessensvertretungen nicht als Störfaktoren für einen reibungslosen Verwaltungsablauf zu betrachten, sondern sie für den konstruktiven Dialog zu nutzen“ (Wiesner/ Wapler SGB- VIII § 4 a Rn.-1 - 3). Die Gelingensbedingungen Wie können Kommunalverwaltungen und Arbeitsgruppen der Jugendhilfe die neuen Beteiligungsrechte nach § 4 a SGB-VIII umsetzen? Hier ist es zunächst wichtig, zwei Begriffe aus § 4 a Abs.- 1 SGB-VIII zu beachten. Es geht um Selbstorganisationen im Sinne von Interessensvertretung und um Selbsthilfe. Bei der Selbstorganisation sind drei Strukturelemente kommunaler Jugendhilfe angesprochen: Jugendhilfeausschüsse, Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB-VIII und die Jugendhilfeplanung. Diese sollen mit Selbstvertretungen zusammenarbeiten (§ 4 a Abs.-3 SGB-VIII, § 78 SGB-VIII, § 71 SGB-VIII). Die Interessensvertretung spricht also Beteiligung auf der übergeordneten Ebene kommunaler Jugendhilfegestaltung an. Die Selbsthilfe kann als Appell an die Fachkräfte auf der Ebene von Einrichtungen und Einzelfällen gelesen werden. Sie sind aufgefordert, AdressatInnen dazu anzuregen, sich mit anderen Leistungsberechtigten und Ehrenamtlichen zusammenzuschließen und Selbsthilfe zu organisieren. Daraus kann sich eine Interessensvertretung entwickeln, die auch in Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB-VIII und in Jugendhilfeausschüssen ihre Anliegen einbringt. Auch für die Jugendhilfeplanung sollten selbstorganisierte Zusammenschlüsse Ansprechpartner sein, um Bedarfe zu identifizieren und sie unter Einbeziehung der AdressatInnen zu decken. Im Rahmen meiner Masterarbeit habe ich drei Gelingensbedingungen empirisch hergeleitet, die zur Umsetzung des § 4 a SGB-VIII beitragen. Die Herleitung basiert auf sechs Interviews mit zwei CareleaverInnen 1 , die in Selbstvertretungen aktiv sind, zwei CareleaverInnen, die bisher keine Berührung mit Selbstvertretungen hatten, einer Fachkraft in leitender Funktion eines öffentlichen Trägers der Jugendhilfe, die bereits mit Selbstorganisationen zusammengearbeitet hat, und einer Fachkraft in gleicher Funktion, die diese Erfahrung noch nicht gemacht hat. Das Datenmaterial habe ich mit der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz und Rädiker (2022, 104ff ) ausgewertet. Aus den Kernerkenntnissen der Analyse habe ich in Verbindung mit bestehender Theorie und Forschung die folgenden drei Gelingensbedingungen abgeleitet: Information, Haltung und Struktur. Sie können eine Initialzündung für erste Konzepte sein und als Evaluationskriterien dienen. Information Die erste Gelingensbedingung ist die Information. Der Begriff der Information beinhaltet in dieser Gelingensbedingung drei Aspekte: (1) Information als Wissen über Rechte und Möglichkeiten, (2) Information als Erfahrungswissen, welches das Verständnis von Beteiligung prägt und (3) Information im Sinne von Aus- und Fortbildung. Information ist die erste Stufe der Partizipationspyramide nach Straßburger und Rieger (2019). Aufseiten der Fachkräfte bedeutet dies, die 1 CareleaverInnen sind Personen, die einen Teil ihres Lebens in der stationären Jugendhilfe oder in Pflegefamilien verbracht haben. 173 uj 4 | 2024 Selbstorganisierte Zusammenschlüsse AdressatInnen transparent zu informieren und ihnen Zeit zu geben zu reagieren (vgl. ebd., 24). Auf der Seite der BürgerInnen wird die Stufe eins damit definiert, dass BürgerInnen sich über anstehende und getroffene Entscheidungen informieren, indem sie beispielsweise an Versammlungen teilnehmen, Protokolle lesen oder die Medien verfolgen (vgl. ebd., 29). Kommunalverwaltungen sind eingeladen zu reflektieren, wie verständlich die Termine und Tagesordnungspunkte für Jugendhilfeausschüsse der Bevölkerung kommuniziert werden und wie einladend diese Information aufgemacht ist. Dasselbe gilt für die Protokolle der Sitzungen und die Wahrnehmbarkeit der Teilnahme. Eine familienfreundliche Variante ist die Live-Video- Übertragung, die der Bevölkerung die Möglichkeit gibt, von zu Hause aus Sitzungen zu verfolgen und Fragen zu stellen. Das Gleiche gilt für Sitzungen von Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB-VIII. Der § 4 a SGB-VIII kann als Anregung gelesen werden, selbstorganisierte Zusammenschlüsse über Sitzungstermine und Tagesordnungen zu informieren. Die Gelingensbedingung der Information lässt sich auch aus der Studie von Marion Moss zur Beteiligung in der Heimerziehung ableiten. In einer Befragung zur Relevanz von Beteiligungsmöglichkeiten ordnete der Großteil der befragten jungen Menschen das Hilfeplangespräch als wichtigsten Kontext ein. Möglichkeiten der organisierten Interessensvertretung wie die Wahl von GruppensprecherInnen und -räten nahmen den vorletzten Platz ein. Hier gibt Moos (2012, 30) zu bedenken, dass diese Möglichkeiten zur Beteiligung den meisten Befragten unbekannt waren. Passend dazu fordert das BMFSFJ in den aktuellen Qualitätsstandards für Kinder- und Jugendbeteiligung das Vorliegen „adressat*innenorientierte(r) und möglichst barrierefreie(r) Informationen zur Beteiligung und zu […] Rechten“ (BMFSFJ 2023, 93). Doch Information allein reicht nicht. Es ist laut Liane Pluto (2022 b, 7) fatal, nur die Möglichkeit von Beteiligung zu nennen und darauf zu vertrauen, dass junge Menschen von allein aktiv werden. Information als Erfahrungswissen entsteht durch die Teilnahme an Beteiligungsformaten. Die Analyse des Datenmaterials zeigte, dass die jungen Menschen und die Fachkraft, die bereits Erfahrungen in der Selbstvertretung oder Zusammenarbeit mit Selbstvertretungen hatten, über viel mehr Wissen über Beteiligungsmöglichkeiten und -rechte verfügten als die anderen drei Befragten. Dieses Wissen formte auch ihr Verständnis von Beteiligung. Wer Erfahrungen in der Beteiligung im Sinne der oberen Stufen der Partizipationspyramide gemacht hatte, forderte auch Beteiligung im Sinne dieser Stufen ein. Auf diesem Erfahrungswissen kann aufgebaut werden und Strukturen können gemeinsam weiterentwickelt werden. Dieser Aspekt ist eine Einladung an die professionell Tätigen in Jugendhilfestrukturen, Beteiligung auf den übergeordneten Ebenen mutig anzugehen. Partizipation ist ein Lernprozess für alle Beteiligten. Sowohl die Fachkräfte als auch die AdressatInnen wachsen an Gelegenheiten, Erfahrungswissen zu sammeln. Der dritte Aspekt der Information ist die Aus- und Fortbildung. Die interviewten Fachkräfte betonten beide die Relevanz der Curricula der Studiengänge und Ausbildungen als Grundlage für gelingende Partizipation. Damit sind nicht nur die pädagogischen Ausbildungen und Studiengänge gemeint. Für gelingende Beteiligung in kommunalen Strukturen ist die Ausbildung der Verwaltungsfachkräfte ebenso relevant. Wenn Beteiligung und ihre Umsetzungsmöglichkeiten sowie die Bedeutung von Kinderrechten für alle Bereiche der Kommunalverwaltung vermittelt werden, eröffnet dies ganz neue Perspektiven. „wenn jemand aus der verwaltung erkennt dass er/ dass es teil seiner aufgabe ist als mitarbeiter in der verwaltung vielleicht auch als beamter […] dann kommt da ein ganz anderer drive rein. Und ich denke genau kinderrechte und methoden der partizipation müssen auch in die verwaltungsausbildungen rein“ (aus dem Interview mit der Fachkraft mit Beteiligungserfahrung, Absatz 27) (Bitting 2023, 55) 174 uj 4 | 2024 Selbstorganisierte Zusammenschlüsse Um diese Gelingensbedingung der Information zu erfüllen, können Träger also ihre AdressatInnen proaktiv über Beteiligungsrechte und -möglichkeiten informieren. Dazu können Materialien wie Flyer und Broschüren dienen, aber auch Erklärvideos und weitere online verfügbare Materialien sowie Links zu informativen Internetseiten. Dabei ist zu beachten, die Sprache an die Zielgruppe anzupassen, damit die Informationen allgemein verständlich sind (vgl. IGfH 2023, 12). Öffentliche Träger können AdressatInnen direkt informieren oder auch mit freien Trägern einen entsprechenden Handlungsstandard festlegen, zum Beispiel in Qualitätsentwicklungs-, Leistungs- und Entgeltvereinbarungen. Zudem ist es hilfreich, Gelegenheiten zu schaffen, Erfahrungswissen zu sammeln. Förderlich ist außerdem, dass öffentliche wie freie Träger ihr Personal zu Beteiligungsrechten und -möglichkeiten fortbilden. Haltung Die zweite Gelingensbedingung umfasst den Aspekt der Haltung. Nach Colla und Krüger ist Haltung eine „Fähigkeit zur Kontrolle der eigenen Kräfte“ (2013, 44). Zudem zeigt sich Haltung in der Fähigkeit, „angemessen, begründet und […] fachlich reflektiert handeln zu können“ (ebd.). Eine meiner InterviewpartnerInnen, die als Adressatin der Jugendhilfe bereits Erfahrung in der Selbstvertretung gemacht hat, erklärte sich ihre Erfahrung, in Jugendhilfeausschüssen nicht beteiligt zu werden, damit, dass Fachkräfte die Fähigkeiten der AdressatInnen mit einer paternalistischen, stigmatisierenden Haltung abwerten. Sie fügte ihre Erfahrung hinzu, dass in Hilfeplangesprächen nur auf ihre Defizite eingegangen wurde und nicht darauf, sie zu beteiligen oder über ihre Rechte aufzuklären. Es lässt sich hier hinterfragen, inwiefern die Fachkräfte, mit denen die Adressatin diese Erfahrung gemacht hat, ihr Handeln reflektierten und begründen würden. „wir werden ja oft jetzt nicht abgestempelt aber voll oft hat man ja die meinung ach ja die leute die können allen nix in der jugendhilfe so und die wollen sich nicht beteiligen und also sozusagen sone stigmatisierung über uns“ (aus einem der Interviews mit einer Careleaverin mit Erfahrung in der Selbstvertretung, Absatz 47) (Bitting 2023, 53) Colla und Krüger führen hierzu die Marginalisierung und Entwertung an, die AdressatInnen der Sozialen Arbeit in der Gesellschaft erfahren. Sie schlussfolgern, dass es Haltung erfordert, „nicht den Möglichkeiten zur Machtausübung […] zu verfallen, sondern auf Augenhöhe mit den Adressaten nach Lösungen zur Aufhebung der gesellschaftlich angelegten, sie entwertenden Diskrepanzen zu suchen“ (2013, 45). Diese Anforderung an die Haltung der Fachkräfte resoniert mit den Forderungen der vier befragten AdressatInnen. „man ist ja auch motivierter sich zu beteiligen ähm wenn man erstmal das so beigebracht bekommt […] dass man sich beteiligen kann und wenn man auch merkt die menschen […] sind auch bereit ähm auf meine wünsche einzugehen die ich stellvertretend für junge menschen in jungehilfeeinrichtungen habe“ (aus einem der Interviews mit einer Careleaverin mit Erfahrung in der Selbstvertretung, Absatz 53) (Bitting 2023, 49) Eine beteiligungsfördernde Haltung ist nach Straßburger und Rieger davon gekennzeichnet, dass Fachkräfte die Interessen und Ziele der AdressatInnen zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit machen (2019, 38). Eine expertokratischpaternalistische Haltung kommt dagegen zum Ausdruck, wenn Fachkräfte die Expertise anderer Fachkräfte ernster nehmen als die Lebensweltexpertise der AdressatInnen. Zudem wird in dieser Haltung ein reibungsloser Ablauf von Verfahren der Relevanz von Beteiligung vorgezogen (vgl. ebd., 39). 175 uj 4 | 2024 Selbstorganisierte Zusammenschlüsse Um Haltungen zu forcieren, können Träger intern Leitbilder unter Einbeziehung der gesamten Belegschaft erarbeiten. Ein gelebtes Leitbild mit entsprechender Evaluationsroutine kann Haltungen weiterentwickeln und festigen. Zudem können Haltungen in Qualitätsentwicklungsvereinbarungen und Leistungsangeboten formuliert werden. Träger können außerdem mit AdressatInnen proaktiv und selbstkritisch in den Austausch gehen und erfragen, ob und inwiefern sie bei Fachkräften wahrnehmen, dass eine partizipative Haltung gelebt wird. Auch Jugendhilfeausschüsse und Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB-VIII können für sich ein Leitbild oder eine ausformulierte Grundhaltung erarbeiten. Aus diesen Überlegungen können sich naheliegende und mit wenig Aufwand umsetzbare erste Schritte im Bereich der Information ergeben. Struktur Die dritte Gelingensbedingung der Struktur wird im Venn-Diagramm mit folgender Aussage dargestellt: „Beteiligung ist strukturell verankert“. Mit der strukturellen Verankerung wird laut Straßburger und Rieger der Schritt von Vorstufen zur Beteiligung zu „echter Beteiligung“ gemacht (2019, 18). Echte Beteiligung liegt dann vor, wenn ein Recht auf Beteiligung umgesetzt wird und diese Umsetzung nicht vom Wohlwollen der Professionellen abhängt (vgl. ebd.). Dieser Definition entspricht auch die Forderung der Adressatin mit Vorerfahrung in der Selbstvertretung. Ihr ist wichtig, dass AdressatInnen „wirklich richtig mitbestimmen so echte partizipation […] mitreden und mitspracherecht haben“ (aus einem der Interviews mit einer Careleaverin mit Erfahrung in der Selbstvertretung, Absatz 5) (Bitting 2023, 56) Die Rechtsnorm zur strukturellen Verankerung von Selbstvertretungen in der Kinder- und Jugendhilfe ist durch den § 4 a SGB-VIII gegeben. Auch die Rechtsnormen zu Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB-VIII und der Jugendhilfeausschuss nach § 71 SGB-VIII wurden entsprechend ergänzt. Die Etablierung von Selbstorganisationen in diesen Kontexten weiter voranzutreiben, geht über die bloße Einhaltung des geltenden Rechts hinaus. Die strukturelle Verankerung trägt zur Demokratisierung des Sozialstaates und der Kinder- und Jugendhilfe bei und fördert zugleich die Stabilität der Demokratie selbst (vgl. IGfH 2023, 16; Schnurr 2018, 1132). Trägern ist zu empfehlen, die neugeschaffenen rechtlichen Vorgaben in ihren örtlichen Strukturen umzusetzen. Freie und öffentliche Träger sollten sich gemeinsam darauf verständigen, bewusst Plätze für Selbstvertretungen in ihren Arbeitsgemeinschaften vorzusehen, auch wenn dies mit gewohnten Routinen bricht. Ebenso sollten Jugendhilfeausschüsse die Beteiligung von Selbstvertretungen in ihre Verwaltungsabläufe einbeziehen. Damit sind auch organisatorische Aspekte zu beachten. Beteiligung in bestehenden Strukturen muss AdressatInnen auch zeitlich möglich sein (vgl. IGfH 2023, 12). Eine Teilnahme an Sitzungen in den Abendstunden kann für Personen mit Sorgeverantwortung schwierig sein. Ebenso ist bei Veranstaltungen an Werktagen zu bedenken, dass AdressatInnen aufgrund von Berufstätigkeit, Ausbildung, Studium oder Schulbesuch zeitlich gebunden sein könnten. Zudem ist es essenziell, Selbstvertretungen Ressourcen zur eigenen Organisation und zur Teilhabe an etablierten Kontexten der Entscheidungsfindung zur Verfügung zu stellen. Beispiele guter Praxis Strukturen der Selbstvertretung von CareleaverInnen und jungen Menschen in stationären Hilfen sind der Careleaver e.V. und Heimräte. Während Heimräte noch trägerintern und damit auf der Meso-Ebene arbeiten, setzen sich Landesheimräte auf der Makro-Ebene noch 176 uj 4 | 2024 Selbstorganisierte Zusammenschlüsse über die kommunale Kinder- und Jugendhilfe hinaus für ihre Interessen ein (vgl. Landesheimrat Hessen 2022). Der Careleaver e. V. wurde 2014 gegründet. Der Gründung ging ein Forschungsprojekt der Universität Hildesheim zum Thema der weiterführenden Bildung für CareleaverInnen ohne familiäre Unterstützung voraus. Der Verein legt seinen Schwerpunkt auf die Vernetzung von CareleaverInnen untereinander. Neben bundesweiten Treffen gibt es aktive Regionalgruppen (vgl. Careleaver e.V. 2022, 4). CareleaverInnen der Regionalgruppe Berlin sind als beratende Mitglieder Teil der Jugendhilfeausschüsse Kreuzberg-Friedrichshain, Mitte und Tempelhof-Schöneberg (vgl. ebd., 8). Weitere bereits etablierte Zusammenschlüsse sind Jugendverbände, Jugendräte und SchülerInnenvertretungen (vgl. IGfH 2023, 16). Diese vertreten aber eher allgemeine Interessen von jungen Menschen und haben in der Regel keinen Schwerpunkt auf den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere nicht auf den Bereich der Hilfen zur Erziehung. Umfangreiche Selbstvertretungen gibt es auch von Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Eine Lücke wurde in einer Expertise der IGfH in der Selbstvertretung von Eltern, deren Kinder in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe oder in Pflegefamilien leben, festgestellt (vgl. ebd.). Im Landkreis Hildesheim hat ein Kindsvater, der ambulante Hilfen zur Erziehung in Anspruch nimmt, eine Initiative auf Basis des § 4 a SGB-VIII gegründet. Unter dem Titel „Gemeinsam für das SGB-VIII“ wurde ein Aufruf zur Gründung einer Interessensgemeinschaft gestartet. Das Ziel der Initiative ist es, mit Trägern der Jugendhilfe ins Gespräch zu kommen und Verbesserungsnotwendigkeiten aus Perspektive der AdressatInnen aufzuzeigen. Die Anforderung, selbstorganisierte Zusammenschlüsse nach § 4 a Abs.-3 SGB-VIII anzuregen und zu fördern, erfüllt das Jugendamt zudem durch das Angebot, Besprechungsräume des Landkreises für Treffen der Initiative zu nutzen. Fazit Der § 4 a SGB-VIII definiert selbstorganisierte Zusammenschlüsse von AdressatInnen bewusst offen und mit wenig formal-juristischen Anforderungen. Öffentliche Träger der Jugendhilfe sind zur Kooperation verpflichtet und sollen die Zusammenschlüsse anregen und fördern. Diese neuen Beteiligungsrechte stärken Selbsthilfe und Selbstvertretung. Dabei kann Selbsthilfe als gegenseitige Unterstützung auf der Fall- Ebene gesehen werden. Träger können AdressatInnen anregen, sich zur Selbsthilfe zusammenzuschließen. Die Selbstvertretung spricht Interessensvertretung auf der infrastrukturellen Ebene kommunaler Kinder- und Jugendhilfe an. Die §§ 71 und 78 SGB-VIII zum Jugendhilfeausschuss und zu Arbeitsgemeinschaften wurden um die Zusammenarbeit mit selbstorganisierten Zusammenschlüssen nach § 4 a SGB-VIII ergänzt. Damit wurde Beteiligung im SGB-VIII auf die infrastrukturelle Ebene gehoben. Beteiligung fand bisher hauptsächlich in der Hilfeplanung und damit auf der Ebene des Einzelfalls statt. Damit Beteiligung auf der infrastrukturellen Ebene gelingt, können Träger sich an drei Gelingensbedingungen orientieren: Information, Haltung und Struktur. Sie können reflektieren, mit welchen Formaten sie Informationen über Beteiligungsrechte und -möglichkeiten zur Verfügung stellen. Der § 4 a SGB-VIII kann zudem ermutigen, Gelegenheiten für neues Erfahrungswissen zu schaffen. Förderlich ist zudem eine Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung. Gehört dies in den Teams des allgemeinen Sozialen Dienstes zum Alltag und zum Selbstverständnis, ist es für einen Jugendhilfeausschuss möglicherweise eine neue Erfahrung, sich mit einer gemeinsamen partizipativen Haltung zu befassen. Auch Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB-VIII können den § 4 a SGB-VIII zum Anlass nehmen, über ihre Haltung zu diskutieren. Die dritte Gelingensbedingung umfasst die Strukturen. Träger können AdressatInnen anregen, miteinander durch Zusammenschlüsse neue Strukturen zu schaffen. Gleich- 177 uj 4 | 2024 Selbstorganisierte Zusammenschlüsse zeitig können eigene Strukturen kritisch hinterfragt werden. Ein Beispiel ist die Einladungsroutine für Gremien und Arbeitsgemeinschaften. Der § 4 a SGB-VIII kann zudem dazu anregen, selbstorganisierte Zusammenschlüsse proaktiv zu Sitzungen einzuladen. Schlussendlich sind die neuen Beteiligungsrechte ein weiterer Schritt zur Demokratisierung der Kinder- und Jugendhilfe sowie eine Aufforderung an die Träger, neue Wege zu gehen und Beteiligungsstrukturen auch auf der übergeordneten Ebene auszubauen. Ahlke Bitting Am Neuen Teiche 64 31139 Hildesheim E-Mail: Ahlke.Bitting@gmail.com Literatur Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) (2021): Kurz vor dem Zieleinlauf - Weiterentwicklungschancen im SGB-VIII nutzen. 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