unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2024.art28d
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2024
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Fachkräfte? Mangel!
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2024
Gunther Graßhoff
Frederik Näher
Der Fachkräftemangel scheint allgegenwärtig in der Kinder- und Jugendhilfe. Während vor wenigen Jahren noch lediglich die Schwierigkeiten bei der Personalgewinnung in der Kinder- und Jugendhilfe betont wurden, bewegt sich das Feld heute in absoluter Katastrophensemantik. So betitelt die TAZ die Situation in Hamburger Jugendämtern als „eine Art Triage“ (Kutter 2023) und in einer gemeinsamen Pressemitteilung von der AG Weiße Fahnen, dem DBSH und der GEW wird von einem „Kollaps“ (2023) gesprochen. Diese Krisensemantik ließe sich an sehr vielen anderen Stellen wiederholen und weiter ausbuchstabieren. Und es muss festgehalten werden: Ja, die Situation in der Kinder- und Jugendhilfe ist nicht nur im Narrativ der Öffentlichkeit dramatisch, sondern auch im Alltag der Verantwortlichen und vor allem für Kinder und Jugendliche sehr schwierig.Gleichzeitig wollen wir uns nicht einfach einreihen in das Beklagen der Situation, sondern die Gestaltungsmöglichkeiten in der Krise fokussieren. Denn auch wenn gesellschaftliche Ausgangsbedingungen (demografischer Faktor, Expansion der Kinder- und Jugendhilfe) nicht zu verändern sind, gibt es dennoch an unterschiedlichen Punkten Gestaltungsmöglichkeiten bzw. -notwendigkeiten.
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207 unsere jugend, 76. Jg., S. 207 - 214 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art28d © Ernst Reinhardt Verlag Fachkräfte? Mangel! Herausforderungen in der Qualifizierung des Personals in der Kinder- und Jugendhilfe Der Fachkräftemangel scheint allgegenwärtig in der Kinder- und Jugendhilfe. Während vor wenigen Jahren noch lediglich die Schwierigkeiten bei der Personalgewinnung in der Kinder- und Jugendhilfe betont wurden, bewegt sich das Feld heute in absoluter Katastrophensemantik. So betitelt die TAZ die Situation in Hamburger Jugendämtern als „eine Art Triage“ (Kutter 2023) und in einer gemeinsamen Pressemitteilung von der AG Weiße Fahnen, dem DBSH und der GEW wird von einem „Kollaps“ (2023) gesprochen. Diese Krisensemantik ließe sich an sehr vielen anderen Stellen wiederholen und weiter ausbuchstabieren. Und es muss festgehalten werden: Ja, die Situation in der Kinder- und Jugendhilfe ist nicht nur im Narrativ der Öffentlichkeit dramatisch, sondern auch im Alltag der Verantwortlichen und vor allem für Kinder und Jugendliche sehr schwierig. Gleichzeitig wollen wir uns nicht einfach einreihen in das Beklagen der Situation, sondern die Gestaltungsmöglichkeiten in der Krise fokussieren. Denn auch wenn gesellschaftliche Ausgangsbedingungen (demografischer Faktor, Expansion der Kinder- und Jugendhilfe) nicht zu verändern sind, gibt es dennoch an unterschiedlichen Punkten Gestaltungsmöglichkeiten bzw. -notwendigkeiten. von Gunther Graßhoff Jg. 1976; Prof. Dr., Diplom- Pädagoge, Hochschullehrer am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Stiftung Universität Hildesheim 1. Empirische Ausgangslage: das Personal fehlt nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe Auch wenn sozialpolitisch viel von Abbau und Transformation des Sozialstaates die Rede ist, kann die Geschichte der Sozialen Arbeit, auch nach dem sozialpädagogischen Jahrhundert, nur als Expansionsgeschichte gelesen werden. „Soziale Berufe stellen neben den MINT-Berufen eine der Wachstumsbranchen auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland schlechthin dar. Mit einem Zuwachs von knapp 120.000 Beschäftigten in den vergangenen vier Jahren kommen die Sozial- und Erziehungsberufe aktuell auf rund 1,5 Mio. Beschäftigte“ (Fuchs-Rechlin 2018, 699). Es gilt damit nicht nur, einen Generationenwechsel Frederik Näher Jg. 1972; Vorstand KJSH Trägerverbund, Geschäftsführung S&S gGmbH, Geschäftsführung KJHV Berlin-Brandenburg 208 uj 5 | 2024 Herausforderungen in der Qualifizierung des Personals im Feld der Kinder- und Jugendhilfe zu bewältigen, sondern eine massive Expansion auf Angebotsseite und seitens der Fachkräfte zu gestalten. Der soziale Dienstleistungssektor ist der größte Wachstumsmarkt in Deutschland insgesamt. Während wir zwischen 2014 und 2019 in allen Branchen durchschnittliche Wachstumsraten bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten von 11,3 % hatten, stiegen die Zahlen im gleichen Zeitraum für die „Erziehung, Sozialarbeit und Heilerziehungspflege“ um 26,3 % (vgl. Schneiders/ Schönauer 2022, 359), was in der Öffentlichkeit nicht immer wahrgenommen wird. Der Mangel hat damit vielfältige Gründe und weitere bildungs- und sozialpolitische Projekte liegen noch vor uns. So wird alleine der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung nochmals ein weiteres Loch in die nicht vorhandenen Reserven auf dem Arbeitsmarkt reißen (vgl. Graßhoff/ Sauerwein 2021). Mit dem quantitativen Ausbau der Sozialen Arbeit gehen auch qualitative Veränderungen einher. Insgesamt wird aktuell vor allem von dem Fachkräftemangel in unterschiedlichen Feldern der Sozialen Arbeit gesprochen. Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen kann aber auch immer noch von einem Mangel an Anerkennung bzw. Wertschätzung in der Sozialen Arbeit gesprochen werden. Der Mangel an Fachkräften in den unterschiedlichen Feldern der Sozialen Arbeit ist in unserem Verständnis deshalb nicht nur eine Frage, wie weitere Ausbildungsmöglichkeiten und „Nachwuchs“ rekrutiert werden können, sondern auch eine sozial- und professionspolitische Herausforderung. Denn die Rahmenbedingungen bestimmen natürlich erheblich die Attraktivität des Feldes der Sozial- und Erziehungsberufe. 2. Veränderungen in der Ausbildung und Professionalisierung Die Ausbildungslandschaft für Soziale Berufe hat sich in den letzten Jahren verändert. Im Zuge der Modularisierung der Studiengänge im Rahmen des Bologna-Prozesses kam es zu einer Verkürzung des Studiums. Die angehenden Fachkräfte werden immer jünger und haben zunehmend weniger biografische Erfahrung auch jenseits der Studieninhalte. Die Studiengänge sind noch vielfältiger und unübersichtlicher geworden: Neben neuen Disziplinen wie der Kindheitspädagogik sind eine Vielzahl von stark spezialisierten Abschlüssen entstanden, die nicht nur für die Praxis verwirrend sind. Offene Hochschule und Quereinstieg führen dazu, dass die Wege in den Beruf individueller werden. Zentrale Entwicklungen in der Ausbildung für die Kinder- und Jugendhilfe sind vor allem die Veränderung in der Trägerstruktur der Ausbildungsinstitutionen, eine Verkürzung und auf Employability ausgerichtete Ausbildung und eine Diversifizierung in den Zugängen zu Ausbildung und Studium und die damit verbundenen Wege der Professionalisierung. Privatisierung der Träger in der Ausbildung Die Rolle privater Träger in der Ausbildung hat sich in den letzten Jahren massiv verändert (vgl. Meyer/ Braches-Chyrek 2023). Private Träger gehen zunehmend in den Markt der Ausbildung und haben vor allem im Bereich der Fernstudiengänge und der dualen Ausbildung weitgehend Alleinstellungsmerkmal. Die öffentlichen Hochschulen, so muss man das durchaus selbstkritisch resümieren, haben mit Fundamentalkritik (vgl. Otto 2018) den Einstieg in sinnvolle Modelle der Theorie-Praxis-Verzahnung verschlafen. In den Jahren 2022/ 2023 studierten mehr als zwei Drittel der dual Studierenden an privaten Hochschulen, bei den Fernstudiengängen war die Situation zugunsten der privaten Hochschulen noch klarer (vgl. Meyer/ Braches-Chyrek 2023). Employability statt „Bildung“ Im Zusammenhang mit der Modularisierung der Ausbildung wird eine Veränderung in der Zielrichtung der Ausbildung angenommen 209 uj 5 | 2024 Herausforderungen in der Qualifizierung des Personals (vgl. Klomann/ Lochner 2020). Während „früher“ Ausbildung in einem breiteren Sinne „Bildung“ ermöglichte, geht es heute vorwiegend um Employability. Die aktuelle Ausbildungssituation wäre eine Qualifizierung auf den Job und keine ganzheitliche und vor allem kritische Aneignung der Studieninhalte. Diese Form einer Verfallsgeschichte und das Gegenüberstellen eines besseren „Früher“ zu einem schlechteren „Heute“ ist empirisch sicher vielschichtiger. Gleichzeitig bestimmt sie aber den Diskurs und fokussiert auf spürbare Tendenzen, z. B., dass sich natürlich insgesamt die Ausbildung verkürzt hat und nun voll ausgebildete Fachkräfte mit 20 Jahren auf den Arbeitsmarkt kommen, die wenig biografische Erfahrung jenseits des Studiums mitbringen. Offene Hochschulen und Diversifizierung von Hochschulzugängen Über Quereinstieg und neue Wege in Studium und Ausbildung hat sich die Diversität von Studierenden in den letzten Jahren erhöht (vgl. Lange-Vester/ Sander 2016). Diese sozial- und bildungspolitische Errungenschaft wirft die Frage auf, ob die Passungen und Bedingungen des Studierens immer noch stimmig sind. Können nicht gerade für die Soziale Arbeit Fragen diskutiert werden, wie eigentlich die Ausbildungsstrukturen mit dieser Diversität schon konstruktiv umgehen? Dabei meinen wir nicht nur die Inklusion von sog. BildungsaufsteigerInnen an Hochschulen, sondern auch didaktische Fragen (vgl. Kubandt 2024). Professionalisierung in und durch das Studium und die Ausbildung? Quereinstieg und neue Wege in das Feld der Kinder- und Jugendhilfe werfen erneut die Frage auf, wo überhaupt Fachlichkeit konkret entsteht. Blickt man auf die Forschung zur sozialpädagogischen Professionalisierung, so ist die Ausbildung sicher nur ein Teil einer Haltung und Fachlichkeit. Die Bedeutung der Ausbildung sollte aber insgesamt nicht überschätzt werden (Becker-Lenz et al. 2012). Zumindest der Beitrag der Ausbildung zur Bildung einer sozialpädagogischen Haltung bzw. Habitus ist umstritten. Professionelles Handeln soll dazu befähigen, alltägliche Erklärungen und pragmatische Alltagsverständnisse zu überschreiten und gerade nicht auf der Grundlage biografischer Erfahrungen und biografischen Wissens zu handeln. Im Studium soll die Grundlage dafür entwickelt werden, Gegenstände der Sozialpädagogik im komplexen Rahmen reflexiv genutzter Problem-, Wissens- und Methodenbestände der Sozialpädagogik zu interpretieren und zu bearbeiten. Entsprechend liegt der Studienzweck darin, bisherige biografisch grundgelegte Orientierungssysteme in komplexere, neue Problemstellungen und insofern in höherstufige Theorie- und Sinnsysteme zu transformieren. Professionalität erfordert somit die Modifikation biografisch erworbener Modi der Selbst- und Weltkonstruktion (vgl. Koller 2012). Die Distanz zur eigenen Biografie ist ein Kernelement von Professionalität. Biografische Reflexionen müssen eingeübt und biografische Distanz gefördert werden. Empirische Studien weisen in diesem Zusammenhang nur indirekte Wirkungen auf (vgl. Graßhoff/ Schweppe 2023). Insgesamt gibt es damit genug Gründe, die aktuelle Situation resigniert zu beklagen. Es gibt aber auch Möglichkeiten, auf unterschiedlichen Ebenen den Prozess zu gestalten. Hier wollen wir vor allem auf öffentliche und freie Träger blicken und Erfahrungen mit Personalrecruiting und Personalbindung reflektieren. Denn insgesamt scheint hier das Potenzial, vorsichtig formuliert, in sozialwirtschaftlichen Organisationen noch nicht ausgeschöpft. Personalrecruiting Personalrecruiting in Zeiten des Fachkräftemangels stellt RecruiterInnen vor neue Herausforderungen. Reicht es in anderen Branchen, die eigenen Stellenanzeigen so zu platzieren, dass möglichst viele Menschen diese ausgespielt bekommen, auf beispielsweise großen Stellenbörsen wie Indeed und Stepstone, so reichen solche Strategien im Recruiting der Sozialen Arbeit 210 uj 5 | 2024 Herausforderungen in der Qualifizierung des Personals nicht mehr aus oder haben zumindest in Teilen ausgedient. Es geht nicht mehr darum, wer das größte Budget zum Hervorheben der Stellenanzeigen nutzt und damit ganz vorne angezeigt wird, sondern vielmehr müssen RecruiterInnen verstehen, wer die Zielgruppe, also die potenziellen BewerberInnen sind, was sie bewegt, wonach sie suchen und was ihnen wichtig ist. Neue Recruiting-Strategien beziehen sich auf die Nahbarkeit des Trägers, das Erreichen der BewerberInnen im Alltag und die generelle Begeisterung für das Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit. Eben jene Strategien haben für Träger den Vorteil, dass sie deutlich kostengünstiger umzusetzen sind und eng mit der Mitarbeitendenbindung und Personalentwicklung zusammenhängen. Hier geht es darum, die großartige Arbeit, das Fördern von Mitarbeitenden, flache Hierarchien und New-Work-Ansätze im tatsächlichen Arbeitsalltag im Sinne der Personalentwicklung und -bindung zu leben und dies schlichtweg nach außen zu tragen. Mithilfe von Social-Media-Kanälen wie Instagram, TikTok und LinkedIn bieten sich heutzutage kostengünstige Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit. Getreu dem Motto „Gute Arbeit zahlt sich aus“ sind die eigenen Mitarbeitenden auf eben jenen Kanälen die beste Werbung. Wer zufrieden mit seinem Arbeitgeber ist, teilt dies anderen Menschen mit - dies gilt natürlich auch für das Gegenteil. Ist ein Träger nunmehr auf Sozialen Netzwerken aktiv und zeigt transparent, was die Arbeit aus- und spannend macht und wie das Leitbild tatsächlich gelebt wird, so haben Mitarbeitende die Möglichkeit, die Inhalte zu teilen, zu interagieren und weiterzuleiten. Die Präsentation von etwas bereits Vorhandenem (Leitbild, Arbeitsweisen usw.) bedarf zudem keiner ausgeklügelten Marketingstrategie, sondern funktioniert nach der Devise „Wir zeigen, wer wir sind und was wir machen“. Social Mediaaffine MitarbeiterInnen können hier einen wichtigen Beitrag leisten und erfahren durch das Vertrauen und die Verantwortung, bei solchen Kanälen der Öffentlichkeitsarbeit vor oder hinter der Kamera mitzuwirken, Wertschätzung. Legt man den Fokus noch stärker auf die Gewinnung von angehenden Fachkräften oder Personen, die sich aktuell in der Orientierung ihrer Berufswahl befinden, so ist eine weitere Möglichkeit die enge Vernetzung mit Fach- (hoch)schulen, Universitäten und Gymnasien, Gesamtschulen und Realschulen. Hier zeigt sich allerdings ebenso wie bei der Social- Media-Strategie, dass die Begeisterung für das Arbeitsfeld und die Vermittlung dessen stark mit der tatsächlichen Zufriedenheit der Mitarbeitenden, die das Arbeitsfeld vorstellen, abhängt. Um das Thema Personalgewinnung offline weiter voranzutreiben, führen auch unkonventionelle Guerilla-Marketing-Aktionen zum Erfolg. Hier geht es vor allem um das Employer Branding, also darum, den Träger, in diesem Fall die Marke, erlebbar zu machen. Vor Fach(hoch)schulen, in Universitäten und an Fachtagen ist das Antreffen von (angehenden) Fachkräften garantiert. Hier lohnt es sich, nachhaltige, nutzbare Produkte mit Informationsfluss zu verbinden. Bei beispielsweise einem kostenlosen Kaffee in einem wiederverwendbaren, gebrandeten Becher lässt sich in lockerer Atmosphäre über die Herausforderungen und Chancen der aktuellen Kinder- und Jugendhilfe reden. An einen solchen interessanten Austausch erinnern sich die Angesprochenen spätestens dann, wenn sie das nächste Mal ihren neuen Becher nutzen. Später dann, wenn ihnen das Logo, die Farben und weitere Merkmale des Trägers in der Flut der Jobangebote auf Jobportalen oder Social Media wieder begegnen, gibt es hier schon einen Anknüpfungspunkt. Fachlichkeit, Professionalität und Nahbarkeit zahlen sich so aus. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Personalgewinnung in einer erkennbaren Professionalität des Trägers in Verbindung mit gelebten Prinzipien der Sozialen Arbeit auf allen Ebenen stehen muss. Aus dem Vertrauen den Mitarbeitenden gegenüber entsteht Kreativität und es können drei Säulen der Öffentlichkeitsarbeit in Bezug auf die Personalgewinnung aufgebaut 211 uj 5 | 2024 Herausforderungen in der Qualifizierung des Personals werden, die beiden oben genannten offline und online und die dritte Säule der klassischen Personalgewinnung via Stellenanzeigen. Mitarbeitendenbindung Mitarbeitendenbindung beschreibt das „psychologische Band“ (Mathieu/ Zajac 1990, 171) zwischen dem einzelnen Mitarbeitenden und der Organisation oder auch dem Beruf als solchem. Es drückt aus, in welchem Maße der Mitarbeitende sich der Organisation oder seinem Beruf verpflichtet bzw. verbunden fühlt. Es ist der Gradmesser der Beziehung im Hinblick auf die emotionale Beteiligung, die Wertigkeit, die Stabilität, die Wertschätzung und die zeitliche Konstanz (vgl. Felfe 2020, 26). Während Arbeitszufriedenheit eine eher kurzfristige und sich wandelnde Reaktion auf konkrete Arbeitsbedingungen ist, ist Mitarbeitendenbindung oder organisationales Commitment eine sich kontinuierlich entwickelnde und dann stabile affektive Einstellung zur Organisation (vgl. Mowday et al. 1979) oder dem Beruf. Die parallel und in unterschiedlicher Ausprägung vorliegenden drei Untergruppen von Commitment (affektives, normatives 1 und kalkulatorisches 2 ) ergeben hiernach das organisationale Commitment als Ganzes (vgl. Allen/ Meyer 1990, 3). Die einzelnen Untergruppen sind dabei verschieden, haben aber gemeinsam, dass sie die Wahrscheinlichkeit des Austritts der Mitarbeitenden verringern. In diesem Beitrag wird sich weitestgehend auf das affektive Commitment beschränkt, da ihm die höchste Bedeutung für das organisationale Commitment zukommt (vgl. Felfe 2020, 132). Die Organisation bzw. das Feld der Kinder-Jugendhilfe an sich muss sich daher die Frage stellen, wie sie die Wirkfaktoren für diese Bindung (affektives Commitment) akzentuiert und so für die Organisation bzw. den Beruf zum Tragen bringt. Affektives Commitment - emotionale Identifikation Affektives Commitment bezieht sich auf die emotionale Verbundenheit eines Menschen mit seinem Beruf oder seiner Organisation. Es zeichnet sich dadurch aus, dass der Mitarbeitende zu einem hohen Grad Freude, Selbstwertgefühl und Erfüllung durch die Ausübung seiner Arbeit erfährt. Die Basis hierfür bildet eine hohe Identifikation mit den Aufgaben, Zielen und Werten der Organisation oder des Berufes. Mitarbeitende mit einem hohen affektiven Commitment versehen ihre Arbeit nicht in erster Linie wegen des zu erzielenden Einkommens (siehe hierzu unten: kalkulatorisches Commitment), sondern vor allem wegen ihrer sinnstiftenden Funktion und aus Gründen der Selbstverwirklichung und Erfüllung. Kurz gesagt: Sie arbeiten in dem Beruf oder der Organisation, weil sie es wollen (vgl. Allen/ Meyer 1990, 3). Diese Verbundenheit korreliert mit einer erhöhten Resilienz gegenüber Stressoren und einer geringen Neigung, die Organisation oder den Beruf zu wechseln. Die Kinder- und Jugendhilfe hat hier grundsätzlich sehr gute Startvoraussetzungen. Menschen ergreifen den Beruf in der Regel mit klaren Wertevorstellungen. Sie wollen für Kinder und Jugendliche da sein und einen wertvollen Beitrag zu ihrer Entwicklung leisten. Hier schlummert das große Potenzial und das Alleinstellungsmerkmal für das Feld der Jugendhilfe. Menschen ergreifen hier ihren Beruf, um etwas Positives für das Aufwachsen von Kindern und jungen Menschen zu bewirken. Der Sinn der Arbeit steht im Vordergrund der Arbeit und ist oft Teil der eigenen Identität. 1 Normatives Commitment ist eine Verbundenheit, die auf einer gefühlten Verantwortung oder moralisch-ethischen Pflicht zu einer Organisation oder einem Beruf beruht. 2 Kalkulatorisches Commitment ist eine Verbundenheit mit der Organisation oder dem Beruf, welche darauf beruht, dass die Kosten eines Wechsels höher erscheinen als der Nutzen, in einer Organisation zu verbleiben. 212 uj 5 | 2024 Herausforderungen in der Qualifizierung des Personals 1. Lesson learned - Tue Sinnvolles und sprich darüber Organisationen wie auch das Feld der Jugendhilfe müssen Wege finden, den Sinn der Arbeit deutlich und vor allem deutlicher als bisher in die Welt der Arbeitnehmenden zu tragen. Gerade Generation Z und Y (1980 - 2010) bewerten die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit besonders hoch (vgl. Regnet 2022, 9; Weitzel et al. 2020, 9). Wiederkehrende Storys und Interviews aus dem beruflichen Erleben von pädagogischen Fachkräften auf TikTok und Instagram sind hier gute Instrumente, sowohl nach innen in die Belegschaft als auch nach außen die hohe Sinnhaftigkeit der Arbeit zu transportieren (s. o.). Öffentlichkeitswirksame Auszeichnungen mit Pressebeteiligung an Fachkräfte oder Projekte sowie Werbekampagnen im regionalen Verbund wie z. B. www.jugendhilfeinberlin.de sind andere Erfolg versprechende Wege. Ziel muss es sein, aus der ein Defizit beschreibenden Forderungshaltung an die Politik (auch die ist wichtig) in eine Beschreibung der sinnstiftenden und erfüllenden Faktoren der Arbeit in der Jugendhilfe zu kommen. Denn ganz ehrlich: Wer soll sich für ein Berufsfeld entscheiden, in dem es in Positionspapieren und Veröffentlichungen in den letzten Jahren vor allem um die Beschreibung von Mängeln geht. 2. Lesson learned - Sorge dafür, dass es sinnvoll bleibt (oder wieder wird) Die Positionspapiere zu den Mängeln sind dabei durchaus berechtigt. Wir laufen als Jugendhilfe Gefahr, trotz der offenkundigen Sinnhaftigkeit der Tätigkeit genau dieses Hauptargument durch das Erleben der praktischen Arbeit zu verlieren. Pädagogische Fachkräfte verlieren das Erleben der Sinnhaftigkeit, da sie angesichts der täglichen Überforderung gar nicht in die pädagogischen Kontexte kommen, in denen sie sich im Sinne ihrer Profession wirksam erleben. In vielen Gesprächen wird geschildert, dass man sich aus vielfältigen Gründen meist allein im Gruppendienst mit 7 - 10 Kindern befindet. Angesichts insgesamt gestiegener, vielfältiger Bedarfe der Kinder und Jugendlichen ist die pädagogische Fachkraft oft froh, wenn sie die im Dienst auftretenden körperlichen Auseinandersetzungen, Krisen, Konflikte, Dynamiken so weit gehändelt bekommt, dass keine Kindeswohlgefährdungen resultieren. Von an den Bedarfen orientierter, pädagogisch guter Arbeit zum Wohle der Kinder und Jugendlichen fühlen sich diese Fachkräfte weit entfernt. Es benötigt daher einen Schulterschluss von freien und öffentlichen Trägern, der den Arbeitsort Jugendhilfe wieder zu einem Ort werden lässt, in dem Selbstwirksamkeitserfahrungen durch engagierte Fachlichkeit möglich wird. Dies wird nur über mindestens zwei, idealerweise sogar drei Betreuungspersonen in den Kernzeiten gehen (siehe z. B. www.kindeswohl-sh.de). Da gleichzeitig ohnehin bereits zu wenig Fachkräfte verfügbar sind, bedarf es den rechtlich möglichen Einsatz von Nichtfachkräften. Und zwar nicht ersetzend, sondern zusätzlich unter der Leitung einer Fachkraft. Diese Nichtfachkräfte können über entsprechende berufsbegleitende Kompaktkurse wie z. B. der der Paritätischen Akademie in Berlin als QuereinsteigerInnen qualifiziert werden. 3. Lesson learned - Biete Unterstützung und Augenhöhe Affektives Commitment fällt umso höher aus, je höher die wahrgenommene Unterstützung durch die Organisation, die offene und qualitativ hochwertige Kommunikation mit den Vorgesetzten und der Zusammenhalt in der Arbeitsgruppe wahrgenommen wird. Organisationen sollten daher klare Unterstützungssysteme und Regeln für Krisen und fachliche Herausforderungen bereithalten. Die Mitarbeitenden müssen neben klaren Handlungsweisen über die Möglichkeit des Austauschs mit den Vorgesetzten oder anderen unterstützenden Mitarbeitenden verfügen. Bei (kurzfristigem) Ausfall durch Krankheit oder familiäre Ereignisse darf es nicht der Fachkraft im Dienst überlassen bleiben, für Ersatz zu sorgen, sondern es bedarf einer organisationalen Verantwor- 213 uj 5 | 2024 Herausforderungen in der Qualifizierung des Personals tungsübernahme für diese Situationen. Dies können die Vorgesetzten sein, festgelegte Tandemkonstellationen oder Rufbereitschaftspools. Konzepte und Leistungsbeschreibungen sind so zu gestalten, dass die entsprechenden Ressourcen vorhanden sind. Die Kommunikation sollte nicht von Über- und Unterordnungsverhältnissen geprägt sein. Mit Blick auf die Generationen Z und Y wird gerade in sozialpädagogischen Berufen in hohem Maße ein Austausch auf Augenhöhe mit wertschätzendem Feedback, ernsthafter Beteiligung und einer Duz-Kultur empfohlen (vgl. Regnet 2022, 10). Benefits haben dann einen Einfluss auf das organisationale Commitment, wenn sie weitestgehend in Zusammenhang mit Gesundheit stehen. Urban Sports oder vergleichbare Angebote haben in Großstädten z. B. eine deutliche Auswirkung auf das organisationale Commitment. Gute Erfahrungen wurde auch mit seitens der Organisation organisierten Yogakursen gemacht. Bonus- oder Ermäßigungsprogramme scheinen hingegen weniger Auswirkung zu haben. Auch eine Altersvorsorge mit nennenswerten Arbeitgebendenbeiträgen hat einen deutlichen Einfluss sowohl auf das affektive als auch das kalkulatorische Commitment. Prof. Dr. Gunther Graßhoff E-Mail: grasshof@uni-hildesheim.de Frederik Näher E-Mail: f.naeher@kjsh.de Literatur AG Weiße Fahnen, DBSH Berlin, GEW Berlin (2023): „Die Berliner Jugendhilfe befindet sich im Kollaps“. In: https: / / www.gew-berlin.de/ presse/ detailseite/ agweisse-fahnen-dbsh-berlin-gew-berlin-die-berlinerjugendhilfe-befindet-sich-im-kollaps, 29. 2. 2024 Allen, N. J., Meyer, J. P. (1990): The measurement and antecedents of affective, continuance and normative commitment to the organization. Journal of Occupational Psychology 63, 1 - 18, https: / / doi.org/ 10.1111/ j.2044-8325.1990.tb00506.x Becker-Lenz, R., Busse, S., Ehlert, G., Müller-Hermann, S. (Hrsg.) (2012): Professionalität Sozialer Arbeit und Hochschule: Wissen, Kompetenz, Habitus und Identität im Studium Sozialer Arbeit. Springer VS, Wiesbaden Felfe, J. (2020): Mitarbeiterbindung. 2. Aufl. Hogrefe, Göttingen Fuchs-Rechlin, K. (2018): Beschäftigungsbedingungen in sozialen Berufen im Spiegel der amtlichen Statistik. In: Graßhoff, G., Renker, A., Schröer, W. (Hrsg.): Soziale Arbeit. Springer VS, Wiesbaden, 699 - 711 Graßhoff, G., Sauerwein, M. N. (Hrsg.) (2021): Rechtsanspruch auf Ganztag. Zwischen Betreuungsnotwendigkeit und fachlichen Ansprüchen. Beltz Juventa, Weinheim/ München Graßhoff, G., Schweppe, C. (2023): Erziehungswissenschaftliche Biografieforschung und Sozialpädagogik. In: Nittel, D., von Felden, H., Mendel, M., Kilinc, M. (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung und Biographiearbeit. Beltz Juventa, Weinheim, 300 - 312 Klomann, V., Lochner, B. (2020): Qualifizierung in der Sozialen Arbeit. Soziale Arbeit studieren, praktizieren, beforschen und lehren. Sozial Extra 5, 260 - 264 Koller, H.-C. (2012): Bildung anders denken: Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Kohlhammer, Stuttgart Kubandt, M. (2024): Zwischen Querschnittsdimension und De-Thematisierung: Diversity und Gender im Rahmen fachschulischer Qualifizierungen. In: Göddertz, N., Karber, A. (Hrsg.): Wege zu einer Didaktik der Sozialpädagogik - Perspektiven für die berufliche Bildung. Budrich, Opladen Kutter, K. (2023): „Eine Art Triage“. Hamburgs Jugendämter sind überlastet. In: https: / / taz.de/ Hamburgs- Jugendaemter-sind-ueberlastet/ ! 5911198/ , 29. 2. 2024 Lange-Vester, A., Sander, T. (2016): Soziale Ungleichheiten, Milieus und Habitus im Hochschulstudium - Zur Einführung. In: Lange-Vester, A., Sander, T. (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Milieus und Habitus im Hochschulstudium. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 7 - 24 Mathieu, J. E., Zajac, D. M. (1990): A review and metaanalysis of the antecedents, correlates, and consequences of organizational commitment. Psychological Bulletin 180, 171 - 194, https: / / doi.org/ 10.1037/ 0033- 2909.108.2.171 214 uj 5 | 2024 Herausforderungen in der Qualifizierung des Personals Meyer, N., Braches-Chyrek, R. (2023): Privatisierungstendenzen in der Sozialen Arbeit. Empirische Befunde zu den Qualifizierungsangeboten in der Sozialen Arbeit. Soziale Passagen 15, 510 - 530, https: / / doi. org/ 10.1007/ s12592-023-00477-1 Mowday, R. T., Steers, R. M., Porter, L. W. (1979): The measurement of organizational commitment. Journal of Vocational Behavior 14, 224 - 247, https: / / doi. org/ 10.1016/ 0001-8791(79)90072-1 Otto, H. U. (2018): Dual - Ende oder Wende des Studiums der Sozialen Arbeit. neue praxis 3, 297 - 299 Regnet, E. (2022): Arbeitgeberattraktivität im Wandel: Von der Generation Y zur Generation Z. Erwartungen an den Beruf und eigene Leistungsbereitschaft. Hochschule Augsburg, https: / / doi.org/ 10.23779/ 00 10 Schneiders, K., Schönauer, A.-L. (2022): Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft: Empirische Befunde zu Ursachen und Handlungsbedarfen. In: Gehrlach, C., von Bergen, M, Eiler, K. (Hrsg.): Zwischen gesellschaftlichem Auftrag und Wettbewerb. Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement. Springer VS, Wiesbaden, 355 - 370 Weitzel, T., Laumer, S., Maier, Ch., Oehlhorn, C., Pflügner, K., Weinert, C. H., Wirth, J. (2020): Generation Z - die Arbeitnehmer von morgen. In: https: / / www.unibamberg.de/ fileadmin/ uni/ fakultaeten/ wiai_lehr stuehle/ isdl/ Recruiting_Trends_2020/ Studien_2020_ 05_Generation_Z_Web.pdf, 22. 2. 2024 www.jugendhilfeinberlin.de, 29. 2. 2024 www.kindeswohl-sh.de, 29. 2. 2024 a www.reinhardtverlag.de Es ist nicht leicht, gesund zu bleiben. Besonders ArbeitnehmerInnen aus dem sozialen Sektor lei den oft unter körperlichen oder psychosozialen Beschwerden. Nicht nur ihnen kommt betrieb liches Gesundheitsmanagement (BGM) zugute, sondern auch den Unternehmen selbst, weil BGM das Wohlbefinden der MitarbeiterInnen erhö hen und die Produktivität und Attraktivität des Arbeitgebers steigern kann. Dieses Buch zeigt anhand von Unternehmensbeispielen Schrittfür Schritt den Aufbau eines systematischen BGM auf. Dabei verknüpfen die AutorInnen Fachwis sen über Gesundheit, Stress, Suchtprävention, bewegungsundgesundheitsförderlicherArbeit und Führung - interdisziplinär mit wirtschaft lichen Grundlagen. Gesundheit zahlt sich aus Ruth Haas / Silke Reblin Bio-psycho-soziales betriebliches Gesundheitsmanagement für Sozial- und Gesundheitsberufe 2021. 247 Seiten. 38 Abb. 12 Tab. utbM (9783825255794) kt
