eJournals unsere jugend 76/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2024.art35d
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2024
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Inklusive Kinder- und Jugendhilfe umsetzen

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2024
Claudia Völcker
Melanie Schindhelm
Die Diakonissen Speyer haben sich als Jugendhilfeträger bereits im Jahr 2018 damit auseinandergesetzt, wie eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe praktisch umgesetzt werden kann. Gemeinsam mit vier interessierten Kommunen und mit wissenschaftlicher Unterstützung des ism entstand dadurch das Konzept für BeST-Wohnen. Im Jahr 2023 eröffnete das Angebot und bietet seitdem jungen Menschen aus den Rechtskreisen des SGB VIII und des SGB IX einen Ort zum Wohnen.
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266 unsere jugend, 76. Jg., S. 266 - 272 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art35d © Ernst Reinhardt Verlag von Claudia Völcker Jg. 1972; M. A. Personalentwicklung, Diplom-Sozialpädagogin, Leitung Kinder- und Jugendhilfe Diakonissen Speyer, Projektleitung BeST-Wohnen Melanie Schindhelm Jg. 1981; M. A. Erziehungswissenschaften, Systemische Beraterin (DGSF), Bereichsleitung Diakonissen Speyer, Projektleitung BeST-Wohnen Inklusive Kinder- und Jugendhilfe umsetzen Erfahrungsbericht eines Jugendhilfeträgers am Beispiel BeST-Wohnen (Befähigung zur Selbstbestimmung und Teilhabe im Wohnen) Die Diakonissen Speyer haben sich als Jugendhilfeträger bereits im Jahr 2018 damit auseinandergesetzt, wie eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe praktisch umgesetzt werden kann. Gemeinsam mit vier interessierten Kommunen und mit wissenschaftlicher Unterstützung des ism entstand dadurch das Konzept für BeST-Wohnen. Im Jahr 2023 eröffnete das Angebot und bietet seitdem jungen Menschen aus den Rechtskreisen des SGB VIII und des SGB IX einen Ort zum Wohnen. Die Ausgangsbasis Die Diakonissen Speyer sind ein großes traditionelles sozial-diakonisches Unternehmen, das in der Pfalz und darüber hinaus Einrichtungen in den Bereichen Krankenpflege, Altenpflege, Behindertenhilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Hospiz- und Palliativversorgung sowie Bildung betreibt. Insgesamt arbeiten ca. 5.000 Beschäftigte für die Menschen, die in den Einrichtungen betreut und versorgt werden. Die Fachrichtungen Eingliederungshilfe (SGB IX) und Kinder- und Jugendhilfe unter einem Dach zu haben, hat sich sehr begünstigend auf den im folgenden beschriebenen Prozess ausgewirkt. Im Jahr 2018 hat sich die Kinder- und Jugendhilfe der Diakonissen Speyer dazu entschlossen, bei der Aktion Mensch Fördermittel für das Praxisentwicklungskonzept „Inklusive Wohnformen“ zu beantragen. Die Angebotsentwicklung erfolgte dabei sowohl unter Beteiligung von Jugend- und Sozialämtern aus vier Kommunen als auch unter Einbezug der potenziellen Zielgruppe und deren Eltern entlang der formulierten Bedarfslagen. Wissenschaftliche Unterstützung erhielt das Projekt durch zwei Mitarbeiterinnen des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ism). Aufgrund von Verzögerungen durch die Coronapandemie, aber auch aufgrund der Komplexität der Thematik wurde ein Folgeantrag gestellt, der ebenfalls bewilligt wurde, sodass insgesamt ein Projektzeitraum von fünf Jahren durch die Aktion Mensch möglich wurde. Neben der konzeptionellen Entwicklung des neuen Wohnan- 267 uj 6 | 2024 Inklusive Kinder- und Jugendhilfe umsetzen gebots wurden im Rahmen der Projektlaufzeit auch inklusive Planungs- und Kommunikationsstrukturen zwischen Jugend- und Eingliederungshilfe in den Blick genommen, und das sowohl innerhalb der Verwaltungen der vier beteiligten rheinland-pfälzischen Kommunen als auch innerhalb des Trägers Diakonissen Speyer sowie zwischen öffentlichem und freiem Träger. Außerdem wurden Handlungsstrategien zur Ausgestaltung der fallbezogenen und -übergreifenden Zusammenarbeit zwischen Jugend- und Eingliederungshilfe reflektiert und konzeptionell weiterentwickelt. Während des gesamten Projektzeitraums fanden insgesamt 13 Treffen mit der Steuerungsgruppe statt. Diese setzte sich aus VertreterInnen der Sozial- und Jugendämter der vier Kommunen, VertreterInnen des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie Rheinland-Pfalz und des Ministeriums für Familie, Frauen, Kultur und Integration sowie Leitungsmitgliedern oder entsprechenden VertreterInnen aus den Bereichen Eingliederungshilfe und Kinder- und Jugendhilfe der Diakonissen Speyer zusammen. Moderiert, vor- und nachbereitet wurden diese Treffen von den Mitarbeiterinnen des ism in enger Abstimmung mit den zuständigen Projektleiterinnen. Themen dieser Treffen waren unter anderem „Hilfen aus einer Hand“ und „Inklusive Veränderungsprozesse in der Kommune“. Als große Bereicherung empfanden die AkteurInnen der Jugendhilfe auf kommunaler Ebene die prozessbegleitenden themenspezifischen verwaltungsinternen Workshops, die ebenfalls durch die Mitarbeiterinnen des ism geleitet wurden. Hier konnten sich die VertreterInnen der Jugend- und Sozialämter unter anderem mit Themen wie der Etablierung von VerfahrenslotsInnen auseinandersetzen. Die Ergebnisse dieser Workshops flossen dann wiederum in die übergreifenden Treffen der Steuerungsgruppe ein. Innerhalb der Steuerungsgruppe wurde letztendlich mit allen AkteurInnen die rechtskreisübergreifende Zielgruppe der jungen Menschen (SGB VIII und SGB IX) zwischen 17 und 27 Jahren für das neue Konzept einer inklusiven Wohnform festgelegt. Parallel zu den Strategiegruppentreffen und den kommunalen Workshops gab es noch weitere Treffen in verschiedenen Konstellationen, wie z. B. den Qualitätszirkel, Fachgespräche, Fallwerkstätten und Strategietreffen. In einer internen Fallwerkstatt der Diakonissen Speyer mit VertreterInnen aus dem operativen Bereich der Eingliederungshilfe (SGB IX) und der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) wurden die Bedarfe der festgelegten Zielgruppe herausgearbeitet und anhand vergangener Fälle ermittelt, an welcher Stelle des Hilfeverlaufs ein alternatives Angebot hypothetisch zu einer positiven Entwicklung geführt hätte und wie dieses Angebot aussehen müsste, damit es eine hohe Chance hat, angenommen zu werden. Hier zeigte sich noch einmal sehr deutlich, dass es eine Versorgungslücke für junge Erwachsene gibt und sowohl aufseiten der Kinder- und Jugendhilfe als auch aufseiten der Eingliederungshilfe keine passgenauen Angebote für die herausgearbeitete Zielgruppe bestehen. Vielmehr wurde innerhalb dieser Fallwerkstatt deutlich, dass junge Menschen das Hilfefeld der Kinder- und Jugendhilfe oftmals zwischen dem 18. und 20. Lebensjahr verlassen und dann nach ca. 10 Jahren oder später im Hilfesystem der Eingliederungshilfe wieder mit massiven Problemen auftauchen. In der Anamnese der Eingliederungshilfe stellte sich dann wiederum heraus, dass der Abbruch der vorangegangenen Hilfe den oftmals positiven Hilfeverlauf unterbrochen hatte. Beim selbstkritischen Blick auf die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe für junge Erwachsene wurde zudem deutlich, dass die aktuell vorhandenen Wohn- und Betreuungsangebote nicht attraktiv genug für die Zielgruppe sind und darunter die Akzeptanz wie auch die Wirksamkeit der Angebote leiden. Hieraus ergab sich die Hypothese, dass ein attraktives und an der Klientel orientiertes Hilfe- 268 uj 6 | 2024 Inklusive Kinder- und Jugendhilfe umsetzen angebot langfristig zu einer Verbesserung des Hilfeverlaufs führt und somit den jungen Menschen optimal in seiner Entwicklung zu einer (möglichst) selbstständigen Lebensführung fördern kann. Nachdem die Zielgruppe konkretisiert werden konnte, wurden durch das ism Interviews mit entsprechenden Personen und deren Angehörigen geführt. Die jungen Menschen sprachen dabei sehr deutlich aus, dass sie möglichst selbstständig in kleinen Wohngemeinschaften mit ein bis zwei MitbewohnerInnen leben möchten. Eine Einrichtung mit sehr vielen Plätzen oder eine klassische Wohngruppe der Jugendhilfe wurden dabei weitestgehend ausgeschlossen. Ebenso legten die jungen Menschen sehr viel Wert darauf, dass die Altersspanne im gemeinsamen Wohnen nicht zu groß ist. Eine Ansprechperson bei akutem Hilfe- und Unterstützungsbedarf solle auf jeden Fall vor Ort sein. All diese Erkenntnisse flossen in die weitere konkrete Konzeptarbeit mit ein. Hierbei waren besonders die unterschiedlichen Voraussetzungen der beiden Rechtskreise SGB VIII und SGB IX zu beachten, sodass sich die Diakonissen Speyer sehr schnell dazu entschlossen, die beiden betriebserlaubnisgebenden Behörden für dieses innovative Konzept mit ins Boot zu holen. In Rheinland-Pfalz handelt es sich hierbei um das Landesjugendamt, das beim Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung angegliedert ist, und die Beratungs- und Prüfbehörde nach dem Landesgesetz über Wohnen und Teilhabe, angegliedert an das Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung. Gemeinsam mit den zuständigen Personen wurden sowohl das Konzept als auch das Bestandsgebäude genauestens unter die Lupe genommen und gemeinsam in einem langwierigen Prozess daran gearbeitet, allen Anforderungen beider Rechtskreise gerecht zu werden. Parallel dazu wurde ein multiprofessionelles Team zusammengestellt, das in vom ism geleiteten und durch die Bereichsleitung begleiteten Entwicklungs-Workshops an das Konzept und die Durchführung des Angebots herangeführt und aktiv an der entsprechenden Umsetzung beteiligt wurde. Letzten Endes konnte das Angebot BeST-Wohnen nach fünfjähriger Projektlaufzeit im August 2023 mit dem Einzug der ersten BewohnerInnen starten. Die Zielgruppe Das Angebot richtet sich an mobile Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 17 und 27 Jahren, die eine geeignete Wohnform außerhalb des Elternhauses oder einer stationären Wohngruppe im klassischen Sinne der Kinder- und Jugend- oder Eingliederungshilfe suchen und (noch) nicht komplett eigenständig in einer Wohnung leben können bzw. möchten. Diese Zielgruppe wurde zum einen aus den festgestellten aktuell vorliegenden Bedarfen innerhalb der Kommunen und aus den in den Fallwerkstätten herausgearbeiteten Fallkonstellationen, aber auch aus den Gegebenheiten des Bestandsgebäudes der Diakonissen Speyer, das nicht barrierefrei ist, festgelegt. Zusätzlich wurde dem Wunsch der potenziellen BewohnerInnen aus den Interviews nach einer altershomogenen Gruppe Rechnung getragen. Es geht insbesondere darum, den Übergang von der Jugendhilfe oder vom Elternhaus in die Eingliederungshilfe oder in ein weitestgehend selbstständiges Wohnen zu begleiten. Die Zielgruppe des Angebots bilden hierbei die „Grenzgänger“ zwischen selbstständigem Wohnen und dauerhaft auf Hilfe angewiesenen jungen Menschen, bei denen zu Beginn der Maßnahme noch nicht abschließend einzuschätzen ist, ob und in welchem Maße sie (dauerhaft) auf Hilfe angewiesen sein werden. Das auf maximal sechs Jahre befristete Angebot BeST-Wohnen zielt vor diesem Hintergrund vor allem auf die Begleitung und Unterstützung des Übergangs in ein (weitestgehend) selbst- 269 uj 6 | 2024 Inklusive Kinder- und Jugendhilfe umsetzen bestimmtes Wohnen. Den jungen Menschen wird die Möglichkeit gegeben, in ihrem Tempo nachzureifen und ihre Fähigkeiten im Bereich unabhängige Lebensführung in kleinen Wohneinheiten auszubauen und zu erproben. Das Angebot richtet sich konkret an junge Menschen, ➤ die eine psychische Erkrankung bzw. eine psychische Störung haben, z. B. Borderline, Traumatisierung, Depressionen, Autismus- Spektrums-Störung, Persönlichkeitsentwicklungsstörungen, Bindungs- und Beziehungsstörungen u. Ä., ➤ die eine Lernbehinderung haben (IQ unter 70), ➤ die eine chronische Erkrankung haben, z. B. Diabetes oder ein Nierenleiden. Es können keine Personen aufgenommen werden, die nicht mobil sind und/ oder eine intensive bzw. bis zu 24-Stunden-Betreuung benötigen. Das Konzept Beim BeST-Wohnen handelt es sich um eine sonstige Wohnform nach § 34 SGB VIII, meist in Verbindung mit § 35 a und/ oder § 41 SGB VIII und ebenso um eine Einrichtung mit umfassendem Leistungsangebot nach § 4 LWTG in Verbindung mit § 17 LWTG. Das Konzept beschreibt ein befristetes Übergangswohnen mit einer Verweildauer von bis zu sechs Jahren. Es bietet Wohnraum für insgesamt acht junge Menschen, wobei es gelungen ist, die Plätze nicht den entsprechenden Rechtskreisen zuordnen zu müssen, sondern flexibel in der Belegung zu bleiben. Dies ermöglicht den BewohnerInnen beispielsweise einen sicheren und unkomplizierten Übergang vom SGB VIII ins SGB IX, unabhängig von der aktuellen Belegungssituation. Die BewohnerInnen leben in einem gemeinsamen Haus in drei abgeschlossenen Wohneinheiten mit ein bis zwei MitbewohnerInnen in ihren eigenen kleinen Wohngemeinschaften (ähnlich einer Studierenden-WG). Auch innerhalb dieser Wohneinheiten ist es gelungen, diese nicht einem bestimmten Rechtskreis zuzuordnen, sodass maximale Flexibilität für alle Beteiligten in der Vergabe des Wohnraums vorliegt. Die jungen Menschen versorgen sich selbst (bzw. mit Unterstützung der BetreuerInnen) mit allen zum Leben nötigen Dingen, vom Toilettenpapier bis hin zum Brot. Ein fünfköpfiges multiprofessionelles Team steht den jungen Menschen beratend und unterstützend zur Seite. Das Büro der Fachkräfte befindet sich im selben Haus im Eingangsbereich. Die Ziele dieses Wohn- und Betreuungsangebots sind: ➤ die Förderung und Befähigung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ihr Leben selbstbestimmt und an ihrem Wohl und ihren Wünschen orientiert gestalten zu können ➤ die Erprobung sowie Befähigung zur und Unterstützung der (weitestgehend) unabhängigen Lebensführung und Eigenständigkeit ➤ die Begleitung und Unterstützung des Übergangs in ein (weitestgehend) selbstbestimmtes Wohnen ➤ die Erhöhung der sozialen Teilhabe im Sozialraum und im beruflichen Umfeld durch ressourcenorientierte Netzwerk-, Peer- und Angehörigenarbeit Daraus ergeben sich folgende Hauptaufgaben für die Fachkräfte vor Ort: ➤ Anbahnung und Begleitung im Übergang in diese Wohnform (Clearing) ➤ Unterstützung bei größtmöglicher individueller und unabhängiger Lebensführung in der eigenen Wohnung ➤ flexible individuelle Unterstützung entlang der Hilfeplanung/ individuellen Bedarfsermittlung ➤ Schaffung von sozialräumlicher Nähe zum Erhalt sozialer Bezüge und der Beförderung nachhaltiger sozialer Netzwerke sowie Peerimpulse 270 uj 6 | 2024 Inklusive Kinder- und Jugendhilfe umsetzen ➤ beschäftigungs- und berufsfördernde Orientierung ➤ Eltern- und Angehörigenarbeit ➤ Begleitung in eine eigene Wohnung bzw. mögliche Anschlussmaßnahme nach Erprobung dieser Wohnform Erste Erfahrungen Aktuell (März 2024) wohnen sechs junge Menschen aus beiden Rechtskreisen im BeST-Wohnen. Bereits in den Vorgesprächen mit den KlientInnen wurde schnell deutlich, dass es sich Abb. 1: Das Konzept BeST-Wohnen auf einen Blick 271 uj 6 | 2024 Inklusive Kinder- und Jugendhilfe umsetzen hierbei um ein sehr attraktives Angebot für die Zielgruppe handelt. Sowohl die Eigenverantwortung und mögliche Selbstständigkeit als auch andererseits die Sicherheit durch feste Ansprechpersonen vor Ort werden als äußerst positiv aufgenommen. Der Altersgruppe entsprechend wurden zunächst neue Freiheiten getestet und ausgelebt, im Dialog mit den BetreuerInnen und durch den gesetzten Rahmen konnte sich aber schnell ein gutes Miteinander einspielen. Auch die Herausforderungen, die das gemeinsame Zusammenleben in einer Wohngemeinschaft mit sich bringt, wurden mit entsprechender Unterstützung des Fachpersonals gut gemeistert. Einen positiven Effekt bewirkte dabei die Tatsache, dass die jungen Menschen freiwillig in dieser Maßnahme sind und ein großer Wert auf Mitarbeit und Mitwirkung gelegt wird. Eine Herausforderung für den Träger ist der Grad der Beteiligung gerade im Hinblick auf die Belegung der einzelnen Wohngemeinschaften. Hier gilt es, den Spagat zwischen Wunsch der BewohnerInnen und Wirtschaftlichkeit des Angebotes zu meistern. Um Verständnis für beide Seiten aufbringen zu können, werden regelmäßig geeignete Dialogräume geschaffen und angeboten. Da es sich um ein in Rheinland-Pfalz innovatives und einzigartiges Wohnprojekt handelt, haben sich der örtlich zuständige öffentliche Träger und die Diakonissen Speyer darauf verständigt, die Modalitäten, die in der Leistungs- und Entgeltvereinbarung festgehalten sind, und auch die Qualität der Leistung, nach etwa einem Jahr in einem Qualitätsentwicklungsgespräch zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. Hindernisse Trotz des großen Vorteils, dass der freie Träger über beide Hilfefelder - die Eingliederungshilfe und die Kinder- und Jugendhilfe - verfügt und trotz der starken Unterstützung und Beteiligung durch die Kommunen und das ism, die durch die Projektförderung ermöglicht wurden, war es eine große Herausforderung, ein Angebot zu entwickeln, das den Anforderungen beider Rechtskreise gerecht wird. Gerade im Hinblick auf die Genehmigungen durch die beiden entsprechenden Behörden mussten viele Schleifen gedreht werden, sodass sich dieser Prozess über ein halbes Jahr hinzog. Außerdem wurde bereits zu Beginn des Prozesses deutlich, dass es Unterschiede in der Sprache der beiden Systeme gibt und gleiche Begriffe unterschiedlich belegt sind. Hier galt es zunächst, sich die Unterschiedlichkeit der beiden Systeme gegenseitig bewusst zu machen, diese anzuerkennen und auf dieser Grundlage Verständnis füreinander aufzubauen. Auch die Leistungs- und Entgeltverhandlungen waren herausfordernder und dauerten wesentlich länger als anfangs gedacht, da es hier darum ging, unterschiedliche Finanzierungsansätze und -logiken so übereinander zu legen, dass eine möglichst einheitliche Vereinbarung entstehen konnte. Zusätzlich galt es (in Rheinland-Pfalz), für die oben beschriebene Zielgruppe drei Verhandlungspartner einzubinden: zum einen das örtliche Jugendamt für die jungen Menschen, die über das SGB VIII finanziert werden, das örtlich zuständige Sozialamt für die minderjährigen KlientInnen der Eingliederungshilfe SGB IX und das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung, das für die erwachsenen KlientInnen der Eingliederungshilfe SGB IX zuständig ist. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Leistungs- und Entgeltverhandlung für das erarbeitete Konzept mit flexibler Belegung im Rahmen der Gestaltung von Übergängen für die BewohnerInnen aus beiden Rechtskreisen stellte für alle Verhandlungspartner eine große Herausforderung dar. Hilfreiches und Notwendiges Als äußerst positiv zu erwähnen ist natürlich, dass dieses Angebot das Ergebnis des Praxisentwicklungskonzeptes „Inklusive Wohnformen“ ist, das durch die Aktion Mensch über zwei Projektzeiträume gefördert wurde. Dies schaffte sowohl Personalals auch Zeitressour- 272 uj 6 | 2024 Inklusive Kinder- und Jugendhilfe umsetzen cen auf Leitungsebene des freien Trägers, die es dringend benötigt, wenn man sich auf den Weg macht, inklusive Angebote zu entwickeln. Auch die professionelle Vor- und Nachbereitung und wissenschaftliche Begleitung durch das ism half dem Projekt erheblich bei seiner Entwicklung. Die Ergebnisse, die über die gesamte Projektlaufzeit erzielt wurden, sowie der Prozess werden ausführlich in den Abschlussberichten der beiden Förderzeiträume beschrieben. Zudem konnten zentrale Erkenntnisse über das ism in den Austausch mit dem Bundesprojekt „Inklusion Jetzt! “ des EREV und BVkE eingebracht werden und damit in den bundesweiten Diskurs zur Inklusiven Lösung einfließen. Zudem erwies sich der Einbezug der vier Kommunen und hier besonders die Tatsache, dass sich sowohl Kinder- und Jugendhilfe als auch Eingliederungshilfe gleichermaßen engagiert beteiligten, als äußerst gewinnbringend und zielführend. Alle Beteiligten konnten sich dadurch in dem Projekt wiederfinden und ein Angebot entwickeln, das sich am aktuellen Bedarf der Zielgruppe, die in den jeweiligen Ämtern um Unterstützung bittet, orientiert. Als weiterer wesentlicher Gelingensfaktor ist ebenfalls der frühe Einbezug der betriebserlaubnisgebenden Behörden zu erwähnen. Hierdurch konnten beispielsweise Anforderungen an das Gebäude bereits während der Planung der nötigen Umbaumaßnahmen besprochen und entsprechend umgesetzt werden. Die Möglichkeit, ein Bestandsgebäude nutzen zu können - auch wenn es dadurch zu Einschränkungen in der Zielgruppe kam - ist ebenfalls als positiv zu bewerten. Die Suche nach einer anderen geeigneten (barrierefreien) Immobilie blieb trotz der Unterstützung aller AkteurInnen im Förderzeitraum leider ohne Erfolg. Beim Erstellen der Leistungs- und Entgeltvereinbarungen unterstützte zusätzlich der Kommunale Zweckverband Rheinland-Pfalz sowohl den öffentlichen als auch den freien Träger und half entscheidend dabei, die Unterschiede, die sich durch die Differenzierung in Kinder- und Jugendhilfe, Eingliederungshilfe u18 und Eingliederungshilfe ü18 ergeben, in einer gemeinsamen Leistungs- und Entgeltvereinbarung unter einen Hut bringen zu können. Fazit Abschließend ist zu sagen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt sehr viel Mut, Engagement und Geduld bei allen beteiligten AkteurInnen braucht, um ein inklusives Wohnangebot zu entwickeln und umzusetzen. Die beiden Systeme Eingliederungshilfe und Kinder- und Jugendhilfe haben sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede, die nachvollziehbar sind, vor allem, wenn man ihren Ursprung und ihre Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten betrachtet. Jetzt steht die Kinder- und Jugendhilfe vor der Herausforderung, Hilfen aus einer Hand anzubieten und sich mit den Strukturen der Eingliederungshilfe auseinanderzusetzen. Das Angebot BeST-Wohnen profitierte in seiner Entstehung maßgeblich von dem offenen Dialog auf Augenhöhe zwischen allen genannten AkteurInnen. Die Bereitschaft, einander verstehen und miteinander lernen zu wollen, trug maßgeblich zur Umsetzung bei. Projekte wie diese brauchen neben zeitlichen und natürlich auch finanziellen Ressourcen starke FürsprecherInnen und UnterstützerInnen. Die Initiative muss dabei nicht zwingend von einem freien Träger ausgehen, es muss aber jemanden geben, der den ersten Schritt wagt und auf den/ die jeweiligen PartnerInnen zugeht. Dort, wo aufseiten von öffentlichen und freien Trägern der Wunsch besteht, neue, inklusive Angebote zu entwickeln und umzusetzen, sowie eine Bereitschaft vorhanden ist, dabei mutig auch neue Wege zu gehen, ist eine tragfähige Ausgangsbasis für einen gemeinsamen Prozess gegeben. Claudia Völcker und Melanie Schindhelm Diakonissen Speyer Kinder- und Jugendhilfe Diakonissenstr. 3, 67346 Speyer