unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2024.art49d
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2024
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Was macht Pornokonsum mit Kindern und Jugendlichen? Ein Praxisbeitrag zur kontroversen Debatte
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Heinrike Horster
Anja Stiller
Studien zeigen bereits ab einem Alter von 11 Jahren einen Pornografiekonsum von Kindern und Jugendlichen. In der Fachwelt findet dazu eine kontroverse Diskussion statt – zwischen Chancen sowie Risiken und dem Anerkennen, dass dies eine Herausforderung für die Sexualentwicklung der aktuellen Generation ist.
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385 unsere jugend, 76. Jg., S. 385 - 391 (2024) DOI 10.2378/ uj2024.art49d © Ernst Reinhardt Verlag Was macht Pornokonsum mit Kindern und Jugendlichen? Ein Praxisbeitrag zur kontroversen Debatte Studien zeigen bereits ab einem Alter von 11 Jahren einen Pornografiekonsum von Kindern und Jugendlichen. In der Fachwelt findet dazu eine kontroverse Diskussion statt - zwischen Chancen sowie Risiken und dem Anerkennen, dass dies eine Herausforderung für die Sexualentwicklung der aktuellen Generation ist. von Heinrike Horster Diplom-Pädagogin, Insoweit erfahrene Fachkraft im Kinderschutz, Mediatorin, Mitarbeiterin im Kinderschutz-Zentrum in Hannover Einführung Laut § 184 des Strafgesetzbuches (StGB) ist es verboten, einer Person unter 18 Jahren Pornografie anzubieten, zu überlassen oder zugänglich zu machen. Insofern sollte die Debatte über den Pornokonsum mit Kindern und Jugendlichen gar nicht geführt werden müssen, ja sogar dürfen. Die gelebte Praxis sieht jedoch anders aus. Laut der aktuellen JIM-Studie aus dem Jahr 2022 sind 96 % der 12bis 19-Jährigen im Besitz eines eigenen Smartphones (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2022). Damit geht auch ein unkomplizierter und niedrigschwelliger Zugriff auf pornografische Inhalte einher (vgl. Sonnenmoser 2021; Döring 2011). Dies belegt auch eine Studie der Uni Münster, nach welcher knapp die Hälfte der 1.048 befragten 14bis 20-Jährigen bereits Kontakt zu Pornografie hatte (vgl. Quandt/ Vogelsang 2018). Auch eine aktuelle Untersuchung von in Deutschland lebenden Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 11 und 17 Jahren zeigt, dass auch etwa jede/ r fünfte 11bis 13-Jährige bereits einen Porno gesehen hat (vgl. Landesanstalt für Medien NRW 2023). Dabei spielte neben der aktiven Suche nach Pornos der zufällige Kontakt mit Pornos eine wichtige Rolle (vgl. ebd.). Für Eltern und pädagogische Fachmenschen besteht daher eine Notwendigkeit, dies als Tatsache anzuerkennen und sich kritischkonstruktiv mit dieser Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen auseinanderzusetzen. Sie stehen vor der Herausforderung, Kinder vor ungewolltem Kontakt mit pornografischen Medien zu schützen und Jugendlichen im Dr. Anja Stiller Diplom-Psychologin, Fachleitung im Kinderschutz- Zentrum in Hannover und stellvertretende Geschäftsführung des Kinderschutzbundes Landesverband Niedersachsen e.V. 386 uj 9 | 2024 Was macht Pornokonsum mit Kindern und Jugendlichen? Umgang mit diesen Medien gute Ansprechpersonen zu sein. Oft fehlt hier aber noch das Korrektiv der Erwachsenen, weil diese aufgrund eigener Grenzen, Schamgefühle und Unsicherheiten das offene Gespräch meiden (vgl. Sonnenmoser 2021). Um Tabuisierungen aufzubrechen und pädagogische Fachkräfte und Eltern in ihrer Sprachfähigkeit zu unterstützen, veranstaltete das Kinderschutz-Zentrum in Hannover am 8. 6. 2023 den Fachtag „Was macht Pornokonsum mit Kindern und Jugendlichen? “, den rund 70 TeilnehmerInnen aus der Kinder- und Jugendhilfe besuchten. Chancen oder Risiken? Ziel des Fachtages war es, die aktuelle Debatte zum Thema Pornografie näher zu beleuchten. So beobachten wir im Wesentlichen zwei gegensätzliche Haltungen: Eine Position begreift den Konsum von Pornografie als Chance für Kinder und Jugendliche, die in erster Linie unterstützend für die Sexualentwicklung sein kann. So sagt Oeming (2022): „Pornos werden oft zu Unrecht verteufelt.“ Pornos könnten Antworten auf die Fragen der Jugendlichen geben, welche sie von Erwachsenen nicht beantwortet bekommen (vgl. Oeming 2023). Ähnlich formulierte es Danilo Ziemen vom Institut für Sexualpädagogik (ISP) auf dem Fachtag. Neben den bekannten Risiken, wie z. B. verzerrten Körperbildern, sieht Ziemen in der Pornografienutzung durchaus auch Chancen. Pornos böten immer die Möglichkeit, mit Jugendlichen über Sexualität ins Gespräch zu kommen. Er betonte, dass Jugendliche bereits eine psychosexuelle Entwicklung durchlaufen hätten und diese auch durch die Nutzung von Pornografie nicht rückgängig zu machen sei. Ob und wie sich die Pornografienutzung auf das Verhalten von Jugendlichen auswirke, hänge laut Ziemen von den unterschiedlichsten Faktoren wie Familie, FreundInnen, Schule und den gezeigten Inhalten ab. Zusammenfassend sagte Ziemen auf dem Fachtag, dass Pornografie von gesellschaftlicher Relevanz sei und Jugendliche ein Recht auf ihre eigenen Erfahrungen hätten. Die Ambivalenzen, welche Pornografie und deren Nutzung mit sich bringe, seien Teil eines jeden Diskurses zum Thema. Für VertreterInnen der zweiten Position stehen vor allem die Risiken im Mittelpunkt, welche ein steigender Pornografiekonsum für Kinder und Jugendliche mit sich bringt. So ist das frühe Alter, in dem Kinder und Jugendliche den ersten Kontakt zu Pornografie haben, als problematisch einzustufen. Laut der Studie der Uni Münster haben Kinder und Jugendliche bereits im Alter von durchschnittlich 12,7 Jahren den ersten Kontakt zu pornografischen Inhalten (vgl. Quandt/ Vogelsang 2018). Laut Tabea Freitag, return Fachstelle Mediensucht, ist der frühe Erstkontakt ein wesentlicher Prädiktor für die Akzeptanz von sexueller Gewalt. In diesem Zusammenhang zitierte Freitag auf dem Fachtag u. a. den Untersuchungsbericht von 2023 für die britische Regierung (Children’s Commissioner), der zeigt, dass Pornos eine „Schlüsselrolle bei der Normalisierung und Duldung von sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen“ spielen und umso gefährlicher sind, je früher Kinder ihnen ausgesetzt sind. Freitag betonte auf dem Fachtag, dass Missbrauchs- und Gewaltprävention bei der Prävention von Pornokonsum ansetzen müsse. Kinder brauchen Schutz vor Pornografie, da sie die Darstellungen mitunter nicht einordnen können und diese somit eine Gefährdung ihrer Entwicklung darstellen (vgl. Korte et al. 2016). Die größte Herausforderung dabei ist, dass der erste Kontakt mit Pornografie im Internet in der Regel nicht gezielt, sondern eher zufällig stattfinde (vgl. Quandt/ Vogelsang 2018; Landesanstalt für Medien NRW 2023). Hier sei es Aufgabe von Eltern und GesetzgeberInnen, gerade Kinder vor diesen zufälligen und unvorbereiteten Begegnungen zu schützen: „Diese Bilder brennen sich ein in einem Alter, in dem noch keine eigenen Erfahrungen bestehen, und prägen die sexuelle Lerngeschichte. Wir würden Kinder ja auch nicht allein ins Rotlichtmilieu laufen lassen, aber wir lassen sie quasi ungeschützt in die 387 uj 9 | 2024 Was macht Pornokonsum mit Kindern und Jugendlichen? Keller der SM-Pornografie gehen. Wir nehmen ihnen damit ganz viel von ihrer eigenen Entdeckungsreise zu einem Thema, bei dem sie ein Recht haben, das später in einer Beziehung selber zu erfahren“ (Freitag 2022, 1). So gaben in der Untersuchung der Landesanstalt für Medien NRW (2023) fast die Hälfte der Befragten an, dass sie Dinge in Pornos gesehen haben, die sie lieber nicht gesehen hätten. Während bei Kindern der pädagogische Auftrag demnach ein ausdrücklich schützender sei, müssten Jugendliche eher begleitet werden. Dabei zeigten Freitags Erfahrungen in der Präventionsarbeit mit „Fit for Love? “ deutlich, so Freitag auf dem Fachtag, dass Jugendliche in der Regel dankbar und erleichtert sind, wenn erwachsene Ansprechpersonen das Thema aktiv und gesichtswahrend ansprechen und ihnen helfen, die Botschaften der Pornografie und ihren Einfluss auf Beziehungen zu verstehen. Was passiert, wenn diese Begleitung nicht erfolgt, liefert eine schwedische Studie, der zufolge Jugendliche die in Pornos dargestellte Sexualität als Norm wahrnahmen und die pornografischen Skripte als Referenzrahmen für ihre eigenen sexuellen Leistungen und das eigene Körperideal ansahen (vgl. Gigl et al. 2022). Auch in der Untersuchung der Landesanstalt für Medien NRW (2023) gab jeder dritte 11bis 13-Jährige und jede fünfte 11bis 13-Jährige an, dass Pornos ihnen vermitteln, wie sich beim Sex verhalten wird. Die jüngeren Befragten empfanden Pornos generell häufiger als realistisch im Vergleich zu den älteren Befragten (vgl. Landesanstalt für Medien NRW 2023). Diese Beobachtung untermauerte auf dem Fachtag auch Professorin Krahé von der Universität Potsdam, die von ihren Forschungen zum Einfluss von Pornografie auf den Erwerb sogenannter sexueller Skripts berichtete. Die Darstellung sexueller Gewalt in Pornos erhöhe die Akzeptanz von sexueller Gewalt unter Jugendlichen. Dringend angezeigt sei es daher, dass Jugendliche Unterstützung erfahren im Erkennen eigener Grenzen und Bedürfnisse und lernen, diese zu verbalisieren (vgl. Krahé 2011). Ergänzend erwähnt sei eine Studie des Max- Planck-Instituts für Bildungsforschung, die nahelegt, dass häufiger Konsum von Pornografie die Gehirnstruktur verändern kann (vgl. Max-Planck- Institut 2014). Die Studienergebnisse zeigten einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Pornografiekonsum und der Größe der Region des Gehirns, in welcher sich das Belohnungssystem befindet. Die ForscherInnen nehmen daher an, dass Menschen mit hohem Pornografiekonsum immer stärkere Anreize benötigen, um das gleiche Belohnungsniveau zu erreichen (vgl. ebd.). Hier können auch die Ursachen für eine Abhängigkeit in Form einer Sucht nach Pornografie liegen (vgl. Sonnenmoser 2021). Einordnung von Pornografiekonsum in den Kontext des Kinderschutzes Es wird deutlich, dass Jugendliche Unterstützung bei der Einordnung und Bewertung von pornografischen Materialien benötigen. Strukturell muss sich hier die Frage gestellt werden, wem diese Aufgabe obliegt. Wenn gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, dass Schutz und Begleitung in erster Linie Aufgabe der Eltern sein muss, stellt sich die Frage, was mit den Kindern geschieht, deren Eltern diese Aufgabe nicht erfüllen können oder wollen. Ist die Begleitung im Umgang mit pornografischen Inhalten dann im Sinne der Chancengleichheit ein Thema, welches in den Schulkontext eingebettet werden muss? Ebenso muss sich die Frage gestellt werden, wer in der Verantwortung ist, Kinder vor zufälligem oder gezieltem Zugriff auf Pornografie sicher zu schützen. Wenn die Elternverantwortung, entsprechende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, bspw. durch die Installation entsprechender Softwares auf den elektronischen Geräten, auch hier nicht sicher greift, kann und muss der Gesetzgeber in die Pflicht genommen werden. Aber kann dieser, in Anbetracht des möglichen Zugriffs auf ausländische Porno-Seiten, diese Pflicht überhaupt erfüllen? 388 uj 9 | 2024 Was macht Pornokonsum mit Kindern und Jugendlichen? 5 Komponenten 3 Ebenen (1) Medienkunde (Kenntnisse über Produktion, Merkmale und Inhalte, Nutzung von Pornografie) (2) Kritikfähigkeit (Erkennung und Prävention von Negativwirkungen von Pornografie) (3) Genussfähigkeit (Erkennung und Ausschöpfung von Positivwirkungen von Pornografie) (4) Fähigkeit zur Meta-Kommunikation (konstruktiver sozialer Austausch über Pornografie) (5) Fähigkeit zur Selbstreflexion (Reflexion des eigenen Standpunkts zur Pornografie) (1) Bewertung von Pornografie (Bewertungskompetenz) Was versteht man unter „Pornografie“? Was ist heute allgemein über Produktion, Merkmale und Inhalte sowie Nutzung von Pornografie bekannt? Wo bestehen Wissenslücken und Kontroversen? Welche ethischen Positionen gegenüber Pornografie werden vertreten? Welche Risiken sind ganz allgemein mit welcher Art von Pornografie bzw. ihrer Produktion, ihren Inhalten und ihrer Nutzung verbunden? Welche Präventions- und Interventionsmethoden existieren? Welche Chancen sind ganz allgemein mit welcher Art von Pornografie bzw. ihrer Produktion, ihren Inhalten und ihrer Nutzung verbunden? Welche Förderungsmethoden existieren? Mit wem kann ich mich bei Bedarf wie über meine Pornografie-Kenntnisse und -Bewertungen austauschen? Wie beurteile ich meine Kenntnisse und Fähigkeiten zur Bewertung von Pornografie? Welchen Standpunkt vertrete ich warum? Wie kann und will ich mich in diesem Bereich weiterentwickeln? (2) Nutzung von Pornografie (Nutzungskompetenz) Wo und wie finde ich pornografische Inhalte, die mir gefallen und die legal und ethisch vertretbar sind? Welche Risiken sind für mich und andere mit der solitären oder gemeinsamen Nutzung konkreter pornografischer Inhalte verbunden? Wie kann ich sie reduzieren bzw. vermeiden? Welche Chancen sind für mich und andere mit der solitären oder gemeinsamen Nutzung konkreter pornografischer Inhalte verbunden? Wie kann ich sie ausschöpfen? Mit wem kann ich mich bei Bedarf wie über meine Pornografie-Nutzung und damit verbundene negative und positive Effekte austauschen? Wie beurteile ich meine Kenntnisse und Fähigkeiten zur Nutzung von Pornografie? Welche (Nicht-)Nutzungsweisen realisiere ich warum? Wie kann und will ich mich in diesem Bereich weiterentwickeln? (3) Gestaltung von Pornografie (Gestaltungskompetenz) Wo und wie kann ich mich bei Interesse aktiv an der legalen und ethisch vertretbaren Produktion pornografischer Inhalte beteiligen? Welche Risiken sind für mich und andere mit der solitären oder gemeinsamen Gestaltung welcher eigenen pornografischen Inhalte verbunden? Wie kann ich sie reduzieren bzw. vermeiden? Welche Chancen sind für mich und andere mit der solitären oder gemeinsamen Gestaltung welcher eigenen pornografischen Inhalte verbunden? Wie kann ich sie ausschöpfen? Mit wem kann ich mich bei Bedarf wie über meine Pornografie-Produktion und damit verbundene negative und positive Effekte austauschen? Wie beurteile ich meine Kenntnisse und Fähigkeiten zur Gestaltung von Pornografie? Welche (Nicht-)Gestaltungsweisen realisiere ich warum? Wie kann und will ich mich in diesem Bereich weiterentwickeln? Tab. 1: 3 Ebenen × 5 Komponenten-Modell der Pornografiekompetenz (vgl. Döring 2011, 240) 389 uj 9 | 2024 Was macht Pornokonsum mit Kindern und Jugendlichen? Dies sind unbeantwortete Fragen, welche dringend eines öffentlichen Diskurses bedürfen. Dabei müssen wir nicht mit „leeren Händen“ in diesen Diskurs einsteigen, denn es existieren bereits Ansätze, um mit diesen Fragestellungen umzugehen. Döring hat bspw. bereits 2011 den Begriff der„Pornografiekompetenz“ geprägt und sagt dazu, „[…] Pornografie-Kompetenz würde sich darin ausdrücken, entsprechende Bewertungen und Entscheidungen bewusst und informiert eigenständig treffen und angesichts kontroverser Debatten auch (z. B. gegenüber Autoritäten) vertreten zu können“ (Döring 2011, 235). Das von Döring entwickelte Modell der Pornografiekompetenz leitet sich ab von einer allgemeinen Medienkompetenz und lässt sich als ein „3 Ebenen × 5 Komponenten-Modell der Pornografiekompetenz“ darstellen (siehe Tabelle 1). „Bei Kindern und Jugendlichen, die sich in unterschiedlichen Stadien ihrer kognitiven, emotionalen, sozialen und sexuellen Entwicklung befinden, wird der Bedarf zur Förderung von Pornografie-Kompetenz dennoch einhellig als besonders vordringlich erachtet“ (Döring 2011, 244). Daher stellt sich für Döring auch die Frage der Verantwortlichkeit, Kinder und Jugendliche bei der Entwicklung der Pornografiekompetenz zu begleiten. Döring erachtet es für sinnvoll, diese in den Bildungssektor zu implementieren. In diesem Zusammenhang hat die Plattform „www.klicksafe.de“ in Zusammenarbeit mit der Landesmedienanstalt Baden-Württemberg und Pro Familia bereits 2011 eine ganze Broschüre mit Arbeitsmaterialien rund um das Thema Pornografie in Schule und Jugendarbeit herausgegeben. Hier finden LehrerInnen und Fachmenschen der freien Jugendhilfe neben Sachinformationen eine breite Auswahl an Arbeitsmaterialien speziell für den Einsatz mit Jugendlichen (vgl. Kimmel et al. 2018). Impulse für die Praxis Aus dem Vorangegangenen lässt sich für die gelebte Praxis von pädagogischen und psychologischen Fachmenschen zum einen ableiten, dass Kinder und Jugendliche Ansprechpersonen brauchen, mit welchen sie über das Thema Pornografie sprechen können. Das bedarf an erster Stelle Eltern und Fachmenschen, welche sich selbst kritisch-konstruktiv mit dem Thema Pornografie auseinandersetzen. Nach Döring werden aktuell insbesondere vier Methoden eingesetzt, um MutiplikatorInnen im Bereich Pornografiekompetenz zu sensibilisieren: „Informationsvermittlung hinsichtlich Bewertungskompetenz, Informationsvermittlung hinsichtlich Nutzungs- und Gestaltungskompetenz, gemeinsame Rezeption und Diskussion sowie aktive Medienarbeit“ (Döring 2011, 251). Gemeinsam haben diese vier Methoden, dass es in erster Linie um Informationsvermittlung und Wissenserweiterung geht (vgl. Döring 2011). Wenn Fachmenschen sich selbst sicher sind im Thema, dann können sie gute Ansprechpersonen für Kinder und Jugendliche sein. Dazu gehört auch, die eigenen Grenzen zu kennen und auch zu benennen. Hieraus ergibt sich ein doppelter Effekt: Zum einen verhindern Fachmenschen so, dass sie Gespräche führen, in welchen sie sich nicht mehr wohlfühlen, und dieses Gefühl auch die GesprächspartnerInnen spüren lassen. Zum anderen sind sie Vorbild im Wahren der eigenen Grenzen. Eltern und Fachmenschen können den Grundstein für eine gute Begleitung von Kindern und Jugendlichen beim Thema Pornografie aber schon viel früher und viel indirekter setzen. Wenn es um das Wahren der eigenen Grenzen geht, ist es wichtig, damit nicht erst im Jugendalter, sondern ab Geburt anzufangen. Durch die grundsätzliche Haltung Kindern gegenüber „dein Körper gehört dir“ vermitteln wir schon kleinen Kindern, dass sie ein Recht darauf haben, selbst zu bestimmen, was mit ihrem Körper gemacht wird, und dazu gehört auch, selbst zu entscheiden, was man sehen möchte und was nicht. Bereits bei kleinen Kindern können im Alltag Impulse in diese Richtung gesetzt werden, indem man sie bspw. fragt, ob es okay ist, wenn wir sie anfassen. Bei sehr kleinen Kindern, wo Körperkontakt unausweichlich ist, ist es ebenfalls möglich, grenzwahrend zu arbeiten, indem 390 uj 9 | 2024 Was macht Pornokonsum mit Kindern und Jugendlichen? Literatur Büsch, A., Geyer, B. (2016): Zwischen Jugendmedienschutz und „Porno-Kompetenz“. Herausforderungen der Pornografisierung. Communicatio Socialis 49 (3), 269 - 282 Döring, N. (2011): Pornografie-Kompetenz: Definition und Förderung. Zeitschrift für Sexualforschung 24 (03), 228 - 255, https: / / doi.org/ 10.1055/ s-0031-128707 Freitag, T. (2022): KJM-Pressemitteilung„Expertin: Konsum von Online-Pornografie ist für Kinder „eine Art von Missbrauch“ vom 25. 2. 2022. In: https: / / medien anstalt-mv.de/ download/ file/ ? context=news&id= 5286&file=attachment-1645787841.pdf, 25. 7. 2023 Gigl, J., Stark, R., Gawrilow, C. (2022): Wie stehen (angehende) Lehrpersonen zum Pornografiekonsum von Schüler: innen? Kompetenzen und Ressourcen im Umgang von (angehenden) Lehrpersonen mit Pornografiekonsum von Schüler: innen. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 260 - 281, https: / / doi.org/ 10.21240/ mpaed/ 00/ 2022. 12.15.x man den Körperkontakt ankündigt und den Kindern dadurch vermittelt, dass es nicht selbstverständlich ist, einfach angefasst zu werden. Diese Grundhaltung ist ebenfalls elementar im Bereich der Prävention vor sexualisierter Gewalt und im Bereich der sexuellen Bildung. Eine gute sexuelle Bildung spielt eine wichtige Rolle, um Kinder und Jugendliche im Umgang mit Pornografie zu begleiten (vgl. Büsch/ Geyer 2016). Wie oben bereits erwähnt, ist das Sprechen über Sexualität nach wie vor ein Tabuthema. Wenn es Kindern und Jugendlichen möglich ist, über Sexualität zu sprechen, kann auch ein Gespräch über das Thema Pornografie leichter möglich sein. Daher ist ein wichtiger Baustein im Umgang mit Pornografiekonsum die frühe, sexuelle Bildung von Kindern bereits im Kindergartenalter. Für Oeming (2023) liegt genau hier das Problem: Sie sieht das Hauptproblem im Umgang mit Pornografie nicht bei der Pornografie selbst, sondern bei der mangelnden sexuellen Bildung. Fazit Auch wenn, wie dargestellt, in der Fachwelt gegensätzliche Meinungen bezüglich des Konsums von Pornografie im Kindes- und Jugendalter vorherrschen, sind sich beide Seiten dennoch darin einig, dass ein Teil der Lösung die Enttabuisierung ist, damit Gespräche und Begleitung möglich werden. Sonnenmoser (2021) schlägt in diesem Zusammenhang vor, Anlauf- und Beratungsstellen für Menschen mit problematischem Pornografiekonsum auszubauen. Diese Aussagen decken sich mit den Ergebnissen der Podiumsdiskussion des Fachtages in Hannover. Hier diskutierten Fachmenschen aus unterschiedlichsten Bereichen im Anschluss an die Vorträge. Auch sie und die TeilnehmerInnen waren sich am Ende der Diskussion und des Fachtages einig, dass die wichtigste pädagogisch/ psychologische Aufgabe für Fachmenschen ist, Ansprechperson für Kinder und Jugendliche zu sein und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Kinder und Jugendliche sollen durch das Gespräch schon früh befähigt werden, Dinge zu bewerten und das Gespräch über Pornografie zu ermöglichen, ohne zu moralisieren. Ziemen brachte dies auf dem Fachtag mit dem Satz „Wir sind die Methode“ auf den Punkt. Fachmenschen können sich auch im Kontext von Pornografie in erster Linie auf das verlassen, was sie auch sonst in ihrer praktischen Arbeit mit Jugendlichen tun: ansprechbar sein und die Kinder und Jugendlichen mit ihren Themen und Fragen ernst nehmen. Heinrike Horster und Dr. Anja Stiller Der Kinderschutzbund Landesverband Niedersachsen e.V. Escherstr. 23 30159 Hannover E-Mail: stiller@ksz-hannover.de 391 uj 9 | 2024 Was macht Pornokonsum mit Kindern und Jugendlichen? Kimmel, B., Rack, S., Schnell, C., Hahn, F., Hartl, J. (2018): Let’s talk about Porno. Jugendsexualität, Internet und Pornografie. Arbeitsmaterialien für Schule und Jugendarbeit. klicksafe, Ludwigshafen Korte, A., Kuhle, L. F., Nagel, M., Beier, K. M. (2016): Auswirkungen von Internet-Pornografie auf die psychosexuelle Entwicklung in Kindheit und Adoleszenz. Ein Beitrag zum anhaltenden Erregungsdiskurs. PädiatrPrax 86, 359 - 370 Krahé, B. (2011): Pornografiekonsum, sexuelle Skripts und sexuelle Aggression im Jugendalter. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, https: / / doi.org/ 10.1026/ 0049-8637/ a000044 Landesanstalt für Medien NRW (2023): Erfahrung von Kindern und Jugendlichen mit Sexting und Pornos. Zentrale Ergebnisse der Befragung 2023. In: https: / / www.medienanstalt-nrw.de/ studie-porno-sextingminderjaehrige-2023, 24. 11. 2023 Max-Planck-Institut (2014): Pressemeldung „Wer viele Pornos schaut, hat ein kleineres Belohnungssystem - Studie zeigt Zusammenhang zwischen Konsum und Gehirnstruktur“. In: https: / / www.mpib-berlin.mpg.de/ pressemeldungen/ pornografie-ist-ein-gesellschaft liches-tabu, 24. 11. 2023 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2022): JIM-Studie 2022. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12bis 19-Jähriger. In: www.mpfs.de, 24. 11. 2023 Oeming, M. (2022): ZEIT Online „Wir könnten an Pornos auch feiern, was sie richtig machen“. In: https: / / www.zeit.de/ gesundheit/ zeit-doctor/ 2022-01/ ma dita-oeming-pornografie-forschung-sexpodcast, 1. 9. 2023 Oeming, M. (2023): ZEIT Online„Jugendliche lernen aus Pornos, was ihnen sonst niemand sagt“. In: https: / / www.zeit.de/ gesellschaft/ familie/ 2023-09/ maditaoeming-pornos-jugendliche-aufklaerung-studie, 1. 9. 2023 Quandt, T., Vogelgesang, J. (2018): Jugend, Internet und Pornografie: Eine repräsentative Befragungsstudie zu individuellen und sozialen Kontexten der Nutzung sexuell expliziter Inhalte im Jugendalter. Kumulierte Evidenzen: Replikationsstudien in der empirischen Kommunikationsforschung, 91 - 118, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-18859-7_5 Sonnenmoser, M. (2021): Pornografiesucht: Hilfe ohne Tabu. Deutsches Ärzteblatt 4, 162 a www.reinhardt-verlag.de Sexualisierter Gewalt vorbeugen Gewalt hat viele Gesichter und ist nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. Sie kann verbal oder körperlich, versteckt oder auch offensichtlich sein und den Schulbzw. Berufsalltag der Betroffenen zur Hölle werden lassen. Das Praxisbuch bietet am Beispiel sexualisierter Gewalt einen kompakten Überblick, wie ein Schutzkonzept in der Schule erarbeitet werden kann - egal für welche Schulform. Mit Online-Material. 2023. 143 Seiten. 9 Abb. 3 Tab. (978-3-497-03176-4) kt
