eJournals unsere jugend 76/9

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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2024.art51d
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Rezension: Daigler, C. (2023): Junge Wohnungslose. Eine Einführung für die Soziale Arbeit

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Andreas Länge
In der Reihe „Soziale Arbeit – kompakt & direkt“ von Rudolf Bieker und Heike Niemeyer aus Köln ist nun das Buch „Junge Wohnungslose“ von Prof. Dr. rer. soc. Claudia Daigler im Kohlhammer Verlag erschienen. Diese Reihe richtet sich an Studierende im Bachelor- oder Masterstudium, BerufseinsteigerInnen und PraktikerInnen, die Anschluss an den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs halten wollen.
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394 uj 9 | 2024 Rezensionen Diskussion und Fazit Der Titel von Spatscheck/ Kreft zur Methodenlehre in der Sozialen Arbeit bietet wie die früheren Auflagen von Kreft/ Müller für Anfangssemester wie für fortgeschrittene Studierende ein handliches Taschenbuch, das zur Orientierung im breit gefächerten und oftmals auch schwierigen Arbeitsfeld gut geeignet ist. Es wird weiterhin als Basis-Studienbuch vorgelegt, wobei die Beiträge überwiegend von neu gewonnenen AutorInnen verfasst wurden, die das Feld der Sozialen Arbeit überwiegend im Hochschulbereich vertreten. Gegenüber den früheren Auflagen beinhaltet die 4. Auflage des Bandes wesentliche Aktualisierungen und Erweiterungen. Hierzu zählen insbesondere die im Kapitel 2 neu konzipierten Beiträge zum Case Management, Sozialer Gruppenarbeit und sozialräumlichem Handeln. Der Band enthält zahlreiche Empfehlungen zum weiterführenden Studium, aber auch für eine wechsel- und anspruchsvolle Praxis. Insgesamt werden nicht nur Bezüge zur neueren Entwicklung des Feldes, sondern auch den damit verknüpften Anforderungen hergestellt. So erhalten alle diejenigen, die eine erste Einführung und Übersicht über das aktuelle methodische Handeln in der Sozialen Arbeit benötigen, eine kompakte Arbeitshilfe, auch Praxisorientierte finden wertvolle Hinweise. Das Literaturverzeichnis wurde durch aktuelle Literatur ergänzt, sodass den LeserInnen eine weiterführende Lektüre unkompliziert erleichtert wird. Allen denjenigen, die Methoden in der Sozialen Arbeit nach den Regeln der Kunst erlernen und praktizieren wollen, kann deshalb auch die 4. Auflage des Taschenbuchs besonders empfohlen werden. Dr. Vera Birtsch 22607 Hamburg E-Mail: vbirtsch@t-online.de DOI 10.2378/ uj2024.art50d Daigler, C. (2023): Junge Wohnungslose. Eine Einführung für die Soziale Arbeit Kohlhammer, Stuttgart. 110 Seiten, ISBN 978-3-17-042409-8, 21,00 € (auch als eBook erhältlich) Rezensent: Andreas Länge Referent für junge Menschen in prekären Lebenslagen bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit e. V. In der Reihe„Soziale Arbeit - kompakt & direkt“ von Rudolf Bieker und Heike Niemeyer aus Köln ist nun das Buch „Junge Wohnungslose“ von Prof. Dr. rer. soc. Claudia Daigler im Kohlhammer Verlag erschienen. Diese Reihe richtet sich an Studierende im Bachelor- oder Masterstudium, BerufseinsteigerInnen und PraktikerInnen, die Anschluss an den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs halten wollen. Autorin Prof. Dr. rer. soc. Claudia Daigler lehrt und forscht an der Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Bildung und Pflege. Sie ist Sozialarbeiterin, Erziehungswissenschaftlerin und hat die Professur für Integrationshilfen und (berufliche) Übergänge im Lebensverlauf inne. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind (junge) Frauen* und Männer* in prekären Lebenslagen, Obdachlosigkeit, Hilfen zur Erziehung, Erwerbsarbeit(-slosigkeit), AdressatInnenperspektiven und Jugendhilfe-/ Sozialplanung. uj 9 | 2024 395 Rezensionen Inhalt Das Buch behandelt die Zielgruppe junger wohnungsloser Menschen im Alter von 14 bis 25 Jahren. Die Autorin schätzt, dass etwa 40.000 junge Menschen wohnungslos sind, wobei die Dunkelziffer als sehr hoch eingeschätzt wird. Diese prekäre Lebenssituation führt dazu, dass viele von ihnen keinen festen Wohnraum haben oder nur vorübergehend in Mietwohnungen oder bei FreundInnen in der Szene unterkommen können. Die niederschwellige Unterstützung für diese Zielgruppe ist begrenzt, ebenso wie die Forschungs- und Publikationslage. Das Buch richtet sich auch als Lehrbuch an Studierende. Die Autorin gliedert das Buch in sieben Kapitel und behandelt darin Hintergrundwissen sowie das Ausmaß der Exklusionsprozesse im Jugend- und Erwachsenenalter. Im Folgenden werden die Inhalte der Kapitel kurz zusammengefasst. Kapitel 1 Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen in prekären Lebenslagen und ihren Übergängen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter, den prekären Übergängen und (Aus-)Bildung sowie den Begriffserläuterungen zu wohnungslosen, obdachlosen und entkoppelten jungen Menschen. Die Autorin erläutert auch die Aktualität der Wohnungslosigkeit. Übergänge im Jugend- und jungen Erwachsenenalter sind wichtig, da sie Einfluss auf die Ausbildung, den Beruf, die Familie und die Identitätsfindung haben. In prekären Lebenssituationen sind Yo-Yo-Übergänge (Reversibilität, Fragmentierung, Unplanbarkeit und Individualisierung) häufiger vorzufinden als lineare Übergänge. Diese bedeuten außerdem, dass der Übergang nicht nur von Bildung und Beschäftigung abhängig ist, sondern auch von Familienkonflikten, Gewalterfahrungen oder Suchtmittelkonsum. Diese Erfahrungen können zu Schulabstinenz und fehlender Unterstützung in der Schule führen. Wohnungslose Menschen verfügen über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum. Obdachlose hingegen haben keinen festen Wohnsitz und übernachten in Notunterkünften, im Freien/ Auto, in Bauwagen oder Gartenlauben. Die Zielgruppe wird in der Fachliteratur auch als marginalisiert, chancenarm, entkoppelt oder als Drop-out bezeichnet. Junge Obdachlose sind im Durchschnitt zwischen 16 und 18 Jahre alt, wenn sie „auf die Straße“ gehen. Der Anteil der wohnungslosen Frauen liegt bei einem Drittel, während zwei Drittel von verdeckter Wohnungslosigkeit betroffen sind. Kapitel 2 Das zweite Kapitel benennt die Ursachen für und Wege in die Wohnungslosigkeit, wie z. B. den Wohnraumverlust, fehlender bezahlbarer Wohnraum, familiäre Brucherfahrungen und Ende bzw. Abbruch von stationären Jugendhilfeangeboten. Junge Menschen fühlen sich alleingelassen, da Hilfen zu bürokratisch sind und es an ausreichenden Unterstützungsangeboten sowie Jugendwohnraum mangelt. Familiäre Brucherfahrungen und Problemlagen sind bei minderjährigen Jugendlichen zu 66,2 % und bei volljährigen jungen Menschen zu 40,1 % der Hauptgrund für ihre Straßenkarriere. Ein weiterer Faktor ist die beendete oder abgebrochene stationäre Jugendhilfemaßnahme (Care LeaverInnen) aufgrund starrer Strukturen, wechselnder Bezugspersonen oder dem Erreichen der Volljährigkeit. Wenn junge Menschen von der Polizei aufgegriffen werden, kommen sie in eine ordnungsrechtliche Unterkunft gemäß den Ordnungs- und Polizeigesetzen der Länder. Diese Unter- 396 uj 9 | 2024 Rezensionen künfte sind einfach (Notunterkünfte; nur für die Nacht, kein Tag) und vorübergehend in Form von Mehrbettzimmern und Gemeinschaftssanitärräumen. Kapitel 3 In diesem Kapitel werden der Alltag und die Bewältigungsleistungen von wohnungslosen jungen Menschen beschrieben, darunter die verdeckte Wohnungslosigkeit und die damit verbundenen Herausforderungen wie Geldbeschaffung, Gesundheit und Überleben. Schilderungen von jungen Menschen verdeutlichen die Situationen. Junge Wohnungslose sind oft nicht sichtbar, da sie bei Privatpersonen oder FreundInnen übernachten, was als Couchsurfing oder Sofa- Hopping bekannt ist. Dabei sind die Grenzen zwischen FreundIn, Bekannter bzw. Bekanntem oder FreierIn fließend. Außerdem sind sie bemüht, nicht als wohnungslos aufzufallen. Vier Erzählungen verdeutlichen die Bewältigungsleistungen. Für viele sind die Szene und Tiere ihre Ersatzfamilie. Kapitel 4 Das vierte Kapitel widmet sich der Selbstvertretung und Peerberatung durch junge Wohnungslose. Die Autorin geht kurz auf die gesetzliche Veränderung im SGB VIII, dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG), ein. Der § 4a SGB VIII wird aus ihrer Sicht als Anerkennung und Wertschätzung der langjährigen Arbeit existierender Selbstvertretungen gewertet. Sie beschreibt dann drei Selbstorganisationen (Careleaver e. V., MOMO - the voice of disconnected youth und Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e. V.). Die Peerberatungsansätze sind sehr selten und haben sich noch nicht durchgesetzt. Die Asymmetrie zwischen Sozialarbeit und Betroffenen ist oft schwer zu überbrücken. Kapitel 5 Im fünften Kapitel wird die Soziale Arbeit im Kontext von Wohnungslosigkeit dargestellt. Die gesellschaftlichen Erwartungen und Wahrnehmungsprozesse von AkteurInnen beeinflussen die Hilfen der Sozialen Arbeit. Verschiedene Wohnformen und Bildungsangebote für junge Wohnungslose werden ebenfalls behandelt. Der Autorin ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass gesellschaftliche Erwartungen und Wahrnehmungsprozesse von AkteurInnen (Eltern, Polizei, LehrerIn) dazu führen, dass die AdressatInnen als hilfebedürftig, gefährdet, problematisch, überfordert oder auffällig eingeschätzt werden und daraufhin Angebote von der Sozialen Arbeit erhalten. Die interventionsleitenden Adressierungspraktiken (gesellschaftlich produzierte Bilder und Zuschreibungen) führen zur Entstehung dieser Hilfen. Die Definitionsmacht bezüglich der Angebote liegt bei den professionellen AkteurInnen. Minderjährige ohne festen Wohnsitz führen rechtlich eine illegale Existenz. Sie müssen entweder bei ihren Eltern wohnen (BGB § 11 Wohnsitz des Kindes) oder in Obhut des Jugendamtes (SGB VIII § 42 Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen) genommen werden. Zuständigkeitswirrwarr zwischen den leistungsgebenden Behörden für junge Menschen von 18 bis 25 Jahren in der Jugendhilfe (SGB VIII §§ 13, 27, 35a, 41), Eingliederungshilfe (SGB IX und SGB II § 16) und Wohnungslosenhilfe (SGB XII §§ 67ff ) führt zu Zeitverzögerungen beim Leistungsbezug und verschlimmert die Situation. Mobile Jugendarbeit/ Straßensozialarbeit und Online-Beratung bieten niedrigschwellige freiwillige Angebote für schwer erreichbare junge Menschen an. Anhand von zwei Einrichtungen, nämlich dem „TrebeCafé“ für Mädchen in Düsseldorf und „Schlupfwinkel“ in Stuttgart, werden beispielhafte Ansätze sowie uj 9 | 2024 397 Rezensionen die Mokli-App als Beispiel für Online-Beratung vorgestellt. Es gibt leider wenig Bildungsangebote für junge Wohnungslose. Die Freiburger Straßenschule oder das Justus Delbrück Haus in Jamlitz sind Beispiele dafür, dass mit dem richtigen Angebot auch diese jungen Menschen erreichbar sind. Die verschiedenen Wohnformen - von der Notschlafstelle über geschlechtsspezifische Angebote bis hin zum Jugendwohnen und Housing First - werden anhand von Praxisbeispielen dargestellt. Für die Übergänge in die Volljährigkeit wird mit dem KJSG dem Jugendamt eine erhöhte Verpflichtung bei der Übergangsplanung auferlegt (SGB VIII § 41 Abs. 3). Dies kann auch eine Coming-Back-Option und Nachbetreuung einschließen. Die rechtskreisübergreifende Arbeit von Jugendberufsagenturen und das Hildesheimer Übergangsmodell werden als gelungene Beispiele vorgestellt. Kapitel 6 Das sechste Kapitel widmet sich der kommunalen Wohnungspolitik und (integrierten) Sozialplanung. Die Autorin betont die Bedeutung von bezahlbarem Wohnraum und einer besseren Ausstattung der niederschwelligen Angebote der Jugendsozialarbeit. Die Jugendhilfe hat nach Schröer, Stahl und Thomas (2018) die Primärzuständigkeit, was bedeutet, dass sie für die jungen Menschen und ihre Angelegenheiten zuerst verantwortlich ist. Dies beinhaltet auch die„Erste-Hilfe-Zuständigkeit“, bei der die erforderlichen Leistungen zeitnah, bedarfsgerecht und ausreichend angeboten werden müssen. Die Bereitstellung von Wohnraum und Unterstützungsleistungen erfolgt aufgrund kommunalpolitischer Entscheidungen, die im Rahmen der Sozialplanung und Jugendhilfeplanung (gemäß SGB I § 1 in Verbindung mit SGB VIII §79 und 80) vorbereitet, begründet und umgesetzt werden. Für eine effektive Jugendhilfeplanung ist eine ausreichende personelle Ausstattung in den Jugendämtern erforderlich. Kapitel 7 Im letzten Kapitel richtet sich die Autorin an angehende BerufseinsteigerInnen und behandelt die Motivation und die erforderlichen Fähigkeiten für die Arbeit mit jungen Wohnungslosen. Es fehlen jedoch quantitative und qualitative Studien zum Berufseinstieg in der Sozialen Arbeit allgemein und in diesem Handlungsfeld insbesondere. Nach dem generalistisch angelegten Studium der Sozialen Arbeit findet in der ersten Berufstätigkeit eine zweite Sozialisation statt (vgl. Moch et al. 2013). Es erfolgt eine Einsozialisation in die Organisation und ihre Rahmenbedingungen. Die Motivation und das Selbstverständnis wurden aus einer Vorstudie mit BerufseinsteigerInnen ermittelt (vgl. Daigler 2022). 80 % von ihnen möchten im direkten Kontakt mit Menschen arbeiten und fühlen sich dafür verantwortlich, besonders Jugendlichen zu helfen, die es wirklich brauchen. Für die BerufsanfängerInnen ist es wichtig, dass die ihnen anvertrauten Personen ein Dach über dem Kopf haben, geschützt sind und ihre Intimität gewahrt bleibt, ohne dass ihnen etwas aufgezwungen wird. Fazit Das Buch bietet in kurzer und leicht verständlicher Sprache eine sehr gute Übersicht zum Handlungsfeld „junge Wohnungslose“. Die Gliederung ist schlüssig und zentrale Sachverhalte werden mit Praxisbeispielen und Abbildungen gut dargestellt. Als Referent für junge Menschen in prekären Lebenslagen bei einem Bundesverband hätte ich mir eine solche fundierte Zusammenfassung früher gewünscht. 398 uj 9 | 2024 Rezensionen Vorschau auf die kommende Ausgabe Zukunftsperspektiven in den Erziehungshilfen In der folgenden Ausgabe werden zentrale Themen behandelt, die für die zukünftige Entwicklung der Erziehungshilfen von Bedeutung sind. Besonders im Fokus stehen die Fachkräfte: Auf Grundlage der amtlichen Statistik wird ihre derzeitige Situation sowie ihre Zukunft in den Erziehungshilfen beleuchtet. Darüber hinaus werden aktuelle Entwicklungen in den Bereichen junge Wohnungslose, Arbeit mit Trennungskindern und Elternarbeit dargestellt. Ein konstruktivkritischer Blick darauf, wie (Sozial-)Pädagogik auf neue Herausforderungen reagieren kann, rundet die Ausgabe ab. Als mögliche Quellen-/ Literaturergänzungen zur fachlichen Vertiefung für eine nächste Auflage werden ➤ der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit (https: / / jugendsozialarbeit.de/ ), ➤ die jährliche Berichterstattung zu Wohnungslosigkeit (https: / / www.berichterstattung-zu-wohnungslosigkeit.de/ articles/ 32/ wohnungslosenstatistik-destatis/ ) und ➤ die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung (https: / / www.armutsund-reichtumsbericht.de/ ) vorgeschlagen. Andreas Länge E-Mail: laenge@bagejsa.de DOI 10.2378/ uj2024.art51d Literatur Daigler, C. (2022): Motivation, Einmündung und Unterstützung von Berufseinsteiger_innen. Abschlussbericht zum Freistellungssemester für Forschung in Kooperation mit IGfH, Esslingen Moch, M., Bense, B., Meyer, T. (2013): Berufseinstieg in die Soziale Arbeit. Münstermann, Ibbenbüren Schröer, W., Stahl, B., Thomas, S. (2018): Für einen eigenen Rechtstatbestand „Leaving Care“ im SGB VIII. Eine Forderung an die neue Bundesregierung. Sozialmagazin 7/ 8, 82 - 89