eJournals unsere jugend 77/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2025.art02d
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2025
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Therapeutische Heimerziehung

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2025
Norbert Beck
Die zunehmenden Anforderungen an die Betreuung von jungen Menschen in stationären Hilfen erfordert spezifische Konzepte für eine z.T. psychosozial hochbelastete Klientelgruppe. Therapeutische Heimerziehung bzw. die Ausgestaltung der Hilfe im Sinne des Therapeutischen Milieus stellt hierzu einen Ansatz dar und wird in seiner Konzeptualisierung vorgestellt.
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2 unsere jugend, 77. Jg., S. 2 - 10 (2025) DOI 10.2378/ uj2025.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Therapeutische Heimerziehung Die zunehmenden Anforderungen an die Betreuung von jungen Menschen in stationären Hilfen erfordert spezifische Konzepte für eine z. T. psychosozial hochbelastete Klientelgruppe. Therapeutische Heimerziehung bzw. die Ausgestaltung der Hilfe im Sinne des Therapeutischen Milieus stellt hierzu einen Ansatz dar und wird in seiner Konzeptualisierung vorgestellt. von Dr. phil. Norbert Beck Jg. 1963; Dipl.-Psych., Dipl.-Soz.päd. (FH), Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Einrichtungsleiter des Therapeutischen Heims Sankt Joseph, Verbundleiter Überregionales Beratungs- und Behandlungszentrum (ÜBBZ) Würzburg Einleitung Hilfen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in stationärer Form (außerhäusliche Unterbringungen) stellen keine homogene Angebotsstruktur dar, sondern spannen einen nach unterschiedlichen Kriterien und Bedarfsanforderungen konzeptionell differenzierten Hilfekanon auf. Schon die im SGB VIII § 34 normierte Form der Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform bildet nicht die einzige Grundlage für eine außerhäusliche Unterbringung. Vielmehr muss auch die in § 33 SGB VIII formulierte Hilfeform der Pflegefamilie diesem Setting zugeordnet werden. Weiter ist die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit einer (drohenden) seelischen Behinderung gem. § 35 a SGB VIII, wenn sie in stationärer Form gewährt wird, diesem Hilfesetting zuzuordnen. Differenzierungskriterien können das Alter (Gruppen für junge Kinder; Gruppen für junge Erwachsene) oder auch das Geschlecht (z. B. reine Mädchengruppe) sein, z. T. erfolgen störungs- und problemorientierte Differenzierungen (z. B. Gruppen für Jugendliche mit sexuell grenzverletzendem Verhalten, Gruppen für Kinder und Jugendliche mit Störungen aus dem Autismusspektrum) oder auch die Differenzierung auf dem Hintergrund der Ausprägung der Problematik und dem daraus resultierenden pädagogisch-therapeutischen Hilfebedarf. Regional unterschiedlich finden sich solche Differenzierungen teilweise auch in Empfehlungen oder orientierenden Handreichungen von Landesjugendämtern, wie dies z. B. in den Empfehlungen zur Heimerziehung des Bayerischen Landesjugendamtes geschieht (ZBFS Bayerisches Landesjugendamt 2017). Hier werden, orientiert an den Grundproblematiken und den Indikationen zur stationären Hilfe, Empfehlungen zur Gruppengröße und zur Ausstattung mit heilpädagogischtherapeutischen Fachdiensten gegeben, die zu einer Differenzierung von sozialpädagogischen, heilpädagogischen und therapeutischen Gruppen führen. Bei jungen Menschen mit hoch herausforderndem Verhalten, multiplen Problemkonstellationen oder einer Belastung mit psychischen Störungen wird häufig der Bedarf auf therapeutische Gruppen oder einer Therapeutischen Heimerziehung konstatiert. 3 uj 1 | 2025 Therapeutische Heimerziehung Therapeutische Heimerziehung im Spiegel der Zahlen Auch wenn therapeutische Gruppen sozialrechtlich keine eigene Hilfeform darstellen und diese Form der intensiven stationären Hilfen in der Gesamtstatistik der stationären Hilfen aufgeht, sind die Bedarfe und die Hilfegewährung oft verknüpft mit dem § 35 a SGB VIII, der Eingliederungshilfe für junge Menschen mit einer (drohenden) seelischen Behinderung. Die Entwicklung in diesem Versorgungssegment kann deshalb gut als Indikator für die Bedarfsentwicklung in diesem Versorgungssegment der therapeutischen Gruppe gesehen werden. Nach der amtlichen Statistik haben im Jahr 2022 gut 1,16 Mio. junge Menschen Hilfen zur Erziehung einschließlich Erziehungsberatung erhalten (je beendete Hilfe und Hilfen zum 31. 12. des Jahres; Fendrich et al. 2023). Die Inanspruchnahme hat dabei in den vergangenen Jahren einen leichten Zuwachs erreicht, 2014 waren es 1,04 Mio. Menschen. Die Fremdunterbringungen, die sich aus der Unterbringung in einer Pflegefamilie und in einer stationären Einrichtung speisen, machen dabei einen Prozentsatz von knapp 17 % aus. Eingliederungshilfe gem. § 35 a haben 2022 142.855 junge Menschen erhalten, wovon jede 5. Hilfe (20 %) in stationärer Form durchgeführt wurde. 2014 waren es 80.762, dies macht eine Steigerung des Bedarfes in diesem Versorgungsbereich innerhalb von 8 Jahren um ca. 56 % aus, während die stationären Hilfen gemäß § 33 und § 34 SGB VIII im gleichen Zeitraum um gut 11 % gestiegen sind. Auf dem Hintergrund dieser Zahlen lässt sich konstatieren, dass das Versorgungssegment der intensiven stationären Hilfe in den vergangenen Jahren einen überproportionalen Zuwachs erlebt hat, was als Indikator für den hohen Bedarf an therapeutischen Gruppen zu werten ist. Als weiterer Indikator des erhöhten Bedarfes kann die Entwicklung aus der Versorgungsregion des Autors, dem Bezirk Unterfranken, gesehen werden. Handelte es sich 2007 von allen stationären Plätzen bei 15 % um therapeutische Plätze, verdoppelte sich der Anteil an therapeutischen Plätzen an allen stationären Plätzen im Jahr 2024 auf 31 %. Entwicklungslinien der Therapeutischen Heimerziehung und zentrale konzeptionelle und strukturelle Rahmenbedingungen Die Skizzierung zentraler Meilensteine und Entwicklungslinien Therapeutischer Heimerziehung und des Therapeutischen Milieus kann an dieser Stelle nur sehr holzschnittartig erfolgen, ausführlich siehe hierzu Beck (2020). In der historischen Betrachtung rekurriert der Ansatz des Therapeutischen Milieus insbesondere auf Bruno Bettelheim, Fritz Redl und Albert E. Trieschman. Impulsgebend war allerdings bereits August Eichhorn, der erstmalig in den 1920er-Jahren psychoanalytische Ansätze unter dem Begriff der Psychoanalytischen Pädagogik in die Fürsorgeerziehung integrierte. Er stellte der zu dieser Zeit vorherrschenden Zwangserziehung mit einem primären Disziplinierungsauftrag die Arbeit von Besserungsanstalten gegenüber, die ein Milieu herstellen sollten, das die Behandlung von Verwahrlosungserscheinungen ermöglicht. Von der Zusammenarbeit mit Eichhorn geprägt, realisierte Fritz Redl 1944 sein pädagogisch-therapeutisches Konzept im Kinderheim The Pioneer House und setzte sein Verständnis des Therapeutischen Milieus in der Folge in einer kinderpsychiatrischen Station um. Er formulierte sowohl bzgl. des „Therapeutischen“ als auch in Bezug auf den Milieubegriff Kriterien (Redl 1991). Als „therapeutisch“ versteht Redl ein „schutz- und sicherheitsgebendes Handeln und eine Gestaltung des Umfeldes, das an der Befriedigung der Grundbedürfnisse und der Ich-Bedürfnisse […] sowie der Selbstverwirklichung […] der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet ist“ (Beck 2020, 21). Unter Milieu fasst er transparente und ver- 4 uj 1 | 2025 Therapeutische Heimerziehung lässliche soziale Strukturen, Rituale, Verhaltensregeln und Werthaltungen zusammen. Ebenfalls bezugnehmend auf Eichhorn konzipierte Bruno Bettelheim die Arbeit in seiner Orthogenetic School, einer Forschungs- und Behandlungseinheit für schwer emotional- und verhaltensgestörte Kinder. Er formulierte den Begriff der Milieutherapie, die auf strukturellen, räumlichen und personellen Aspekten beruht. Ein vorbehaltloses Beziehungsangebot durch pädagogische Fachkräfte, eine schutz- und vertrauensbildende Basis zur Ermöglichung neuer Lernerfahrungen sowie klare, verlässliche und stabile personelle und strukturelle Rahmenbedingungen stellen wesentliche Eckpfeiler des Therapeutischen Milieus dar (Bettelheim 1971). In den 1960er-Jahren verdichtete, in Orientierung an Bettelheim und Redl, der klinische Psychologe Albert E. Trieschman in seinem Heim für schwer psychisch gestörte Kinder, dem Walker Home, sein Konzept zur Erziehung im Therapeutischen Milieu. In Erweiterung der Vorläuferkonzepte integrierte Trieschman aber auch verhaltenstherapeutische Ansätze und berücksichtigte die Bedeutung der heilpädagogischen räumlichen Gestaltung für das Gesamtkonzept. Das Konzept verschriftlichte Trieschman zusammen mit Kollegen erstmals 1969 in dem Buch mit dem in der amerikanischen Originalfassung programmatischen Titel „The other 23 hours“ (Trieschman et al. 1990, Erstausgabe 1969). Der Titel fokussiert damit eine zentrale Grundannahme des Therapeutischen Milieus, dass nicht die Therapiestunde, sondern die Gestaltung des Alltags der therapeutisch zentrale Wirkfaktor ist. Diesen konzeptionellen Ausformungen stationärer Hilfe folgten in der Bundesrepublik nur punktuell bestimmte Einrichtungen. Die Fürsorgeerziehung in der Nachkriegszeit war zunächst weiterhin geprägt durch einen eher restriktiven Charakter und einem konflikthaften Verhältnis von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine zentrale sozialrechtliche Veränderung erfolgte mit der Reform des Jugendhilferechts und dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1990/ 91. Ein sozialrechtlicher Meilenstein war die Überführung der Gruppe der Kinder- und Jugendlichen mit einer (drohenden) seelischen Behinderung von der überörtlichen Sozialhilfe in die Jugendhilfe. Normiert im § 35 a SGB VIII fiel damit eine neue Klientelgruppe junger Menschen in die Zuständigkeit der Jugendhilfe, die besondere Anforderungen an die Ausgestaltung stationärer Hilfen erforderte. Es handelt sich um junge Menschen mit einer länger als sechs Monate dauernden psychischen Störung, aus der für diese jungen Menschen eine Teilhabebeeinträchtigung am gesellschaftlichen Leben erwächst. Mit dieser Rechtsgrundlage und der zweigliedrigen Leistungstatbestandsvoraussetzung wird auch die Grundlage für die enge Kooperation der beiden Disziplinen Kinder- und Jugendpsychiatrie (zentral für die Feststellung der psychischen Störung) und der Jugendhilfe (zentral für die Feststellung der daraus resultierenden Teilhabebeeinträchtigung) gelegt. Jenseits des § 35 a SGB VIII wird aber auch schon im § 27 (3) SGB VIII die Grundlage für die Integration pädagogischer und therapeutischer Ansätze formuliert („Hilfe zur Erziehung umfasst insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen“). Damit ist Therapeutische Heimerziehung weder auf den Personenkreis der jungen Menschen mit einem Hilfebedarf nach § 35 a SGB VIII zentriert noch als eigene Hilfeform im Angebotskanon des SGB VIII ausgewiesen, sondern stellt eine inhaltlich-methodische Ausdifferenzierung für eine Klientelgruppe mit besonderem Hilfebedarf dar. Zu berücksichtigende Konzepte und Selbstverständnis Wie kann diese konzeptionelle Ausdifferenzierung methodisch-inhaltlich gefüllt werden und was sind mögliche (heil-)pädagogisch-therapeutische Referenzkonzepte und strukturelle Rahmenbedingungen? An dieser Stelle können die möglichen Bezugskonzepte keinesfalls er- 5 uj 1 | 2025 Therapeutische Heimerziehung schöpfend dargestellt werden. Zentral ist jedoch, dass Therapeutisches Milieu nicht eine Therapeutisierung des Alltags bedeutet, sondern dass das „heilsame bzw. förderliche Geschehen in der Lebensumwelt der Adressatinnen und Adressaten stattfindet“ (Gahleitner 2011, 28). Fundiert wird die Arbeit im Therapeutischen Milieu durch ein Bündel von Haltungs- und Handlungsansätzen, die einen pädagogisch-therapeutischen Raum aufspannen. Therapeutisch im Sinne des Therapeutischen Milieus bedeutet nicht nur die Anwendung psychotherapeutischer Verfahren in einem pädagogischen Kontext, sondern umfasst das Gestalten der Rahmenbedingungen und der pädagogischen Begegnung. Dies geschieht in einem diagnostischen Verständnis und führt zu Interventionen, die darauf abzielen, neue Lernerfahrungen zu ermöglichen, korrigierende Beziehungserfahrungen zu schaffen, dysfunktionale Problemlösestrategien zu reduzieren und Handlungsressourcen zur positiven Lebensbewältigung aufzubauen. Die Grundlage sowohl jeden therapeutischen wie auch pädagogischen Handelns bildet die (heil-)pädagogische Beziehungsgestaltung. Viele junge Menschen in stationären Hilfen haben dysfunktionale Bindungs- und Beziehungserfahrungen, möglicherweise geprägt durch Beziehungsabbrüche, wechselnde inkonstante Beziehungen, Vertrauensmissbräuche oder Gewalterfahrungen in ihrer Sozialisation erlebt. Dies führt zu unsicheren oder ambivalenten Bindungsmustern, die auch in der Begegnung mit pädagogischen Fachkräften aktiviert werden. Die Zurückweisung von Beziehungsangeboten und die aus der Perspektive pädagogischer Fachkräfte destruktive Beziehungsgestaltung stellen zunächst oft ein selbstwertschützendes vertrautes Verhaltensmuster dar. Die Berücksichtigung bindungstheoretischer Aspekte bildet somit eine Grundlage der pädagogischen Arbeit im Therapeutischen Milieu. Gahleitner (2019) verdichtet die professionelle Beziehungsgestaltung im Kern als „das Erleben aufrichtiger - persönlich geprägter - menschlicher Begegnungen, als Alternativerfahrung zur bisherigen Beziehungsverunsicherung“ (91). Dies geschieht durch „das Aufspannen einer zwischenmenschlichen, umfeldorientierten, räumlichen und institutionellen Perspektive, die für fachliche Kontinuität und Stabilität in personeller und struktureller Hinsicht steht“ (Gahleitner 2019, 87). Repräsentative Studien bei fremduntergebrachten Kindern und Jugendlichen belegen, dass ca. 75 % aller jungen Menschen in stationären Hilfen mindestens eine traumatisierende Erfahrung und etwa 50 % multiple traumatisierende Erfahrungen in ihrer Vorgeschichte aufweisen (Jaritz et al. 2008). Entsprechend haben in den vergangenen Jahren zunehmend traumapädagogische Haltungs- und Handlungsansätze Einzug in die pädagogische Arbeit im stationären Setting gefunden (Blülle/ Gahleitner 2017). Dies impliziert zum einen ein traumapädagogisches Verständnis von Verhaltensweisen, Handlungen und Reaktionsweisen junger Menschen, zum anderen aber insbesondere die traumasensible Gestaltung des Gruppenalltags (z. B. Weiß/ Sauerer 2018). Nach dem Konzept der psychischen Grundbedürfnisse dient menschliches Erleben und Verhalten der Befriedigung dieser Grundbedürfnisse (Borg-Laufs 2012). In dem Konzept von Grawe (2004) verdichten sich diese Grundbedürfnisse auf das Bedürfnis nach Orientierung, Sicherheit und Kontrolle, das Bedürfnis nach Bindung und sozialer Zugehörigkeit, das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung sowie das Bedürfnis nach Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung. Verhalten ist motiviert durch die Befriedigung der Grundbedürfnisse (Annäherungsverhalten) bzw. Vermeidung weiterer Verletzungen der Grundbedürfnisse (Vermeidungsverhalten). Im Verständnis des Therapeutischen Milieus wird problematisches Verhalten aus einer bedürfnisorientierten Perspektive diagnostisch bewertet, wobei die Frage im Vordergrund steht, welche Bedürfnisse das Verhalten - auch wenn es dysfunktional ist - zu 6 uj 1 | 2025 Therapeutische Heimerziehung befriedigen versucht. In der Weiterführung pädagogisch-therapeutischer Handlungsansätze führt dies zu der Frage, welche prosozialen, funktionalen Verhaltensweisen mit dem jungen Menschen gestaltet werden können, um eine adäquate Befriedigung der Bedürfnisse zu entwickeln. Vor allem handlungsorientierte heilpädagogische Ansätze wie erlebnispädagogische Aktivitäten, kreativ-gestalterische Angebote u. Ä. führen häufig zu einem Ausbau des Selbstwirksamkeitserlebens, zu einem Aufbau von Ressourcen und damit zu einer funktionalen Bedürfnisbefriedigung. Hinsichtlich der Integration psychotherapeutischer Interventionen im pädagogischen Kontext finden insbesondere kognitiv-behaviorale Interventionen unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Aspekte Anwendung. Bei psychischen Störungen und abweichenden Entwicklungen handelt es sich - sehr vereinfacht ausgedrückt - um eine maladaptive Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Im Modell der Entwicklungspsychopathologie werden in einem bio-psycho-sozialen Ansatz unterschiedliche Ebenen berücksichtigt und in ein (Be-)Handlungskonzept integriert. Disponierende biologische, soziale und psychische Risiko- und Schutzfaktoren führen zu einer personenspezifischen Vulnerabilität („Verletzlichkeit“) bzw. Resilienz („Widerstandsfähigkeit“) eines Kindes. Mit dieser „Ausstattung“ hat der junge Mensch Entwicklungsaufgaben und Stressoren zu bewältigen. Kommt es hierbei zu Fehlanpassungen und werden diese Fehlanpassungen nicht kompensiert, kann es zu einer Aufrechterhaltung und Chronifizierung des problematischen Verhaltens kommen. Auf der Grundlage lerntheoretischer Ansätze kommt es durch situationale Rahmenbedingungen oder die dem problematischen Verhalten folgenden Konsequenzen zu einer Aufrechterhaltung und Chronifizierung des problematischen Verhaltens. Verhaltenstherapeutisch orientierte Handlungsansätze (Modifizierung der situationalen Bedingungen, Veränderung der auf problematisches Verhalten folgenden Konsequenzen) können gut in einen pädagogischen Kontext integriert werden (z. B. Verstärkerpläne) oder bilden die Grundlage einzel- und gruppentherapeutischer Interventionen (z. B. Training sozialer Kompetenzen). Die Kenntnis und Berücksichtigung der Symptomatiken psychiatrischer Störungsbilder von Kindern und Jugendlichen sowie die diagnostische Einschätzung von Verhaltensweisen und deren entsprechende Berücksichtigung in der Gestaltung des Gruppenalltags bilden eine weitere Facette pädagogischen Handelns im Sinne des Therapeutischen Milieus. So kann es z. B. in der pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Störungen aus dem Autismusspektrum zentral sein, die störungsspezifischen Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Interaktionsbesonderheiten (z. B. erhöhte Geräuschempfindlichkeit, Veränderungsängste, rigide und zwanghafte Verhaltensweisen, Besonderheiten in der Kommunikation etc. ) als Symptomatik zu kennen und entsprechend in der Gestaltung des pädagogischen Alltags zu berücksichtigen. Junge Menschen in stationären Hilfen weisen nach repräsentativen Untersuchungen zu ca. 60 % (Schmid 2007) mindestens eine definierte kinder- und jugendpsychiatrische Störung auf. Entsprechend hoch ist auch der psychotherapeutische Bedarf in dieser Klientelgruppe. Eine bedarfsgerechte psychotherapeutische und oft auch kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung ist nicht immer gewährleistet. Die psychotherapeutische Versorgung findet im Sinne des Therapeutischen Milieus idealerweise integriert in ein gesamtes pädagogisch-therapeutisches Konzept statt. Dies impliziert eine entsprechende Ausstattung mit psychotherapeutischer Fachexpertise, also einer entsprechenden Ausstattung des psychologischen Fachdienstes. Psychotherapeutische Angebote im Einzel- und im Gruppensetting können damit einerseits mit den pädagogischen Konzepten abgestimmt werden. Andererseits ermöglicht die Integration der psychotherapeu- 7 uj 1 | 2025 Therapeutische Heimerziehung tischen Expertise eine fachlich-methodische Anleitung pädagogischer Fachkräfte in psychotherapeutischen Ansätzen. Damit löst sich im Therapeutischen Milieu die Aufteilung von pädagogischen und therapeutischen Leistungen zugunsten eines Gesamtkonzepts auf. Durch die öffentliche Jugendhilfe wird immer wieder kritisch angemerkt, dass Psychotherapie keine Leistung des SGB VIII, der Kinder- und Jugendhilfe, sondern des SGB V, der Krankenhilfe sei. Wiesner (2005) positioniert sich hierzu in seinem Gutachten deutlich und definiert psychotherapeutische Leistungen als Gegenstand der Jugendhilfe, soweit sie der Zielsetzung der Förderung der Entwicklung und des Schutzes des Kindeswohls dienen. Inhaltlich orientieren sich psychotherapeutische Leistungen an kognitivbehavioralen sowie systemischen Ansätzen. Einen weiteren Eckpfeiler Therapeutischer Heimerziehung stellt die Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie dar. Die Überschneidung der Klientelgruppen der kinder- und jugendpsychiatrisch versorgten Kinder und Jugendlichen und der jungen Menschen in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe liegt bei ca. 50 % (Beck 2015). Häufig ist eine psychopharmakologische Behandlung der psychiatrisch hoch belasteten jungen Menschen notwendig und bildet manchmal erst die Grundlage für weitere pädagogisch-therapeutische Interventionen im Rahmen stationärer Hilfe. Somit gehört ein Grundwissen über das Wirkungs- und Nebenwirkungsspektrum von Psychopharmaka sowie der Umgang mit den Medikamenten im pädagogischen Alltag zu den Grundkompetenzen pädagogischer Fachkräfte in der Therapeutischen Heimerziehung. In der Berücksichtigung der oben angeführten Aspekte mündet das Konzept der Therapeutischen Heimerziehung in die Ausgestaltung der stationären Hilfe im Sinne des Therapeutischen Milieus für psychosozial hochbelastete junge Menschen, oft mit psychischen Störungen. Als Therapeutisches Milieu ist die bewusste Gestaltung der personalen, sozialen, räumlichen und strukturellen Rahmenbedingungen zu verstehen, die zu einer Veränderung dysfunktionaler Verhaltens- und Erlebensweisen führen kann. Die Gestaltung dieses Milieus erfolgt prozesshaft und ermöglicht neue Lern- und Sozialisationserfahrungen, die unter Berücksichtigung der Ressourcen der jungen Menschen die Selbstwirksamkeit erhöhen, das Verhaltensrepertoire erweitern, Beziehungssicherheit herstellen und auf die Befriedigung der Bedürfnisse hinwirken. Die Gestaltung des Therapeutischen Milieus erfolgt partizipativ und integriert (heil-)pädagogische, psychotherapeutische und medizinisch-psychiatrische Aspekte im Sinne eines biopsychosozialen Modells (Beck 2019). Therapeutische Heimerziehung unter dem Aspekt der Evaluation Pädagogische Interventionen sollten unter dem Aspekt der Qualitätsentwicklung und der Qualitätssicherung hinsichtlich ihrer Effekte evaluiert werden. Es liegen inzwischen eine ganze Reihe von Evaluationsstudien zu stationären Hilfen vor, selten allerdings unter dem spezifischen Blickwinkel der Therapeutischen Heimerziehung. Mit einer differenzierten Analyse der Daten der EVAS-Studie nach dem Kriterium der Integration therapeutischer Leistung in das Gesamtkonzept der Einrichtung schließt Macsenaere (2020) hier eine Lücke. Hierzu wurden aus einem großen Datensatz erzieherischer Hilfen (über 47.000 Hilfeverläufe) zunächst die stationären Hilfen extrahiert (knapp 26.000 Hilfen) und die stationären Hilfen gruppiert, die ausschließlich mit intern erbrachten therapeutischen Leistungen begleitet wurden (knapp 6.000 Hilfeverläufe). Diese Gruppe der Hilfen wurde unter Therapeutische Heimerziehung zusammengefasst und mit der Gruppe stationärer Hilfen verglichen, bei denen keine therapeutischen Leistungen durchgeführt wurden. Die Stichprobe Therapeutische Heimerziehung unterschied sich in der Prävalenz von indivi- 8 uj 1 | 2025 Therapeutische Heimerziehung duellen Problemlagen und Symptomen und in der Ausstattung mit persönlichen Ressourcen nahezu durchgängig signifikant bis hochsignifikant von der Stichprobe Nicht-Therapeutische Heimerziehung. Hinsichtlich der Effekte der Hilfe erweist sich sowohl in der Reduktion der Problemlagen/ Systematiken als auch beim Aufbau von Ressourcen die Gruppe mit intern integrierten therapeutischen Leistungen hochsignifikant überlegen gegenüber der Gruppe ohne therapeutische Leistungen und der Gruppe mit extern erbrachten therapeutischen Leistungen. Die Ergebnisse, so Macsenaere, lassen den Schluss zu, dass die ausgeprägten Effekte auf den internen Einsatz diagnostischer und therapeutischer Methoden zurückzuführen sind. Fazit und Ausblick Die Bedarfe für und die Anforderungen an stationäre Hilfe für junge Menschen haben sich in den vergangenen Jahren verändert - quantitativ und qualitativ. Die quantitativen Veränderungen lassen sich teilweise mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in Verbindung bringen, so steigen die Zahlen für stationäre Hilfe u. a. in Abhängigkeit der Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge oder der Bedarf von Fremdunterbringungen im Rahmen von Kindeswohlgefährdungen. Qualitativ ist für eine Gruppe junger Menschen eine Verdichtung hochkomplexer psychosozialer Multiproblemsituationen in den stationären Hilfen zu konstatieren, die auch eine Qualifizierung der Konzepte und der Fachkräfte erfordert. Therapeutische Heimerziehung als konzeptionelle Ausgestaltung stationärer Hilfen integriert verschiedene pädagogische, psychotherapeutische und kinder- und jugendpsychiatrische Handlungsoptionen zu einem multiprofessionellen Ansatz. Wichtig ist dabei, dass es nicht allein um die psychotherapeutischen und kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsleistungen geht, sondern um die Gesamtgestaltung im Sinne des Therapeutischen Milieus. Die skizzierten Entwicklungen sowie die perspektivische Zusammenführung von Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe werden diese Anforderungen noch akzentuieren. Junge Menschen mit körperlichen, geistigen Behinderungen und/ oder Sinnesbehinderungen, die im Sinne der inklusiven Jugendhilfe zukünftig Klientelgruppe der Jugendhilfe und damit auch der stationären Hilfen werden, weisen eine gegenüber nichtbehinderten jungen Menschen dreifach erhöhte Rate psychischer Störungen auf (Sarimski 2011) und werden damit auch intensive Anforderungen an die Betreuung und Behandlung im Rahmen der stationären Hilfen stellen. Die Herausforderung wird es sein, die Fachkräfte in diesem Sinne zu begleiten und zu qualifizieren und eine entsprechende therapeutische Ausgestaltung der Hilfen zu sichern. Aus der Perspektive der stationären Hilfen ist es erforderlich, dass Fachschulen/ Fachakademien für Sozialpädagogik und auch Hochschulen mit den entsprechenden Studiengängen sich dieser Thematik stärker stellen und das Handlungsfeld der stationären Hilfen in der Ausbildung ein stärkeres Gewicht erhalten. Qualifizierung beinhaltet aber auch die Anforderung an die Träger stationärer Einrichtungen, entsprechende Qualifizierungskonzepte für ihre Mitarbeiter: innen zu entwickeln. Strukturelle Qualifizierung beinhaltet die Kooperation der unterschiedlichen an der psychosozialen Versorgung junger Menschen beteiligter Systeme wie der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Jugendhilfe. Die Notwendigkeit einer kooperativen Versorgung dieser Klientelgruppe wird allerorts anerkannt, in der Praxis bleibt sie oft hinter der anerkannten Notwendigkeit zurück (Jörns-Presentati/ Groen 2020). Einen Teil der strukturellen Qualifizierung stellt auch die Versorgung mit psychotherapeutischer Expertise dar. Mit dem neuen Psychotherapeutengesetz ist es zwar möglich, einen Teil der Weiterbildung in einer dafür zugelassenen Weiterbildungsstätte der Jugendhilfe zu absolvieren (Beck et al. 2021), die formalen Hürden sind aber hoch und es wird zu beobach- 9 uj 1 | 2025 Therapeutische Heimerziehung ten sein, inwieweit es gelingt, stationäre Jungendhilfeangebote für psychotherapeutische Weiterbildungsangebote attraktiv zu gestalten und damit auch perspektivisch psychotherapeutische Expertise zu sichern. Insgesamt findet eine entsprechende Ausgestaltung stationärer Hilfen im Sinne Therapeutischer Heimerziehung seinen Niederschlag in einer erhöhten Effektivität hinsichtlich der Problemreduktion und des Ressourcenaufbaus junger Menschen und stellt einen Schritt hin zu einer evidenzbasierten Jugendhilfe dar. Dr. phil. Norbert Beck Therapeutisches Heim Sankt Joseph Wilhelm-Dahl-Str. 19 97082 Würzburg E-Mail: beck.norbert@skf-wue.de Literatur Beck, N. 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