unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2025.art03d
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Digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung
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Andreas Mairhofer
Liane Pluto
Christian Peucker
Im Fachdiskurs der Kinder- und Jugendhilfe wird regelmäßig konstatiert, dass junge Menschen, die in Einrichtungen stationärer Hilfen aufwachsen, digital benachteiligt sind. Der Diskurs zu digitaler Benachteiligung wird nachfolgend vorgestellt und es wird erstmalig (für die Zeit vor der Coronapandemie) empirisch überprüft, ob eine solche Benachteiligung im Kontext der Heimerziehung besteht.
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11 unsere jugend, 77. Jg., S. 11 - 22 (2025) DOI 10.2378/ uj2025.art03d © Ernst Reinhardt Verlag Digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung Eine konzeptionelle und empirische Analyse Im Fachdiskurs der Kinder- und Jugendhilfe wird regelmäßig konstatiert, dass junge Menschen, die in Einrichtungen stationärer Hilfen aufwachsen, digital benachteiligt sind. Der Diskurs zu digitaler Benachteiligung wird nachfolgend vorgestellt und es wird erstmalig (für die Zeit vor der Coronapandemie) empirisch überprüft, ob eine solche Benachteiligung im Kontext der Heimerziehung besteht. von Andreas Mairhofer Jg. 1977; Dr. phil., M. A., wiss. Referent am DJI, München 1. Hinführung Junge Menschen wachsen heute in digitalisierten und mediatisierten Lebenswelten auf. Digitale Medien durchdringen nahezu alle Lebensbereiche wie Familie, Schule oder Freizeit. Damit kommt ihnen eine große Bedeutung für Sozialisation, Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Teilhabe zu. So konstatieren die Autor: innen des 15. Kinder- und Jugendberichts, dass Teilhabe heute digitale Teilhabe bedeutet (Deutscher Bundestag 2017, 61). Auf der anderen Seite bergen digitale Medien auch zahlreiche Risiken. Erziehende stehen daher vor der Herausforderung, junge Menschen einerseits zu fördern und dabei zu unterstützen, die vielfältigen Chancen digitaler Medien zu nutzen, und sie andererseits vor den Gefahren der Nutzung digitaler Medien zu schützen. In besonderer Weise stellt sich diese Herausforderung für institutionelle Settings, in denen junge Menschen in öffentlicher Verantwortung aufwachsen. So kommt Einrichtungen der stationären Erziehungshilfen als Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe explizit die Aufgabe zu, Kinder und Jugendliche vor Gefahren zu schützen, ihre Teilhabe zu ermöglichen und soziale Benachteiligung abzubauen (§ 1 SGB Abs. 1 VIII). Liane Pluto Jg. 1973; Dr. phil., M. A., wiss. Referentin am DJI, München Christian Peucker Jg. 1971; Dipl.-Soz., wiss. Referent am DJI, München 12 uj 1 | 2025 Digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung Neben die Erziehungsaufgaben der Förderung und des Schutzes tritt somit auch explizit die Aufgabe, Benachteiligungen abzubauen. Diese Funktion ist insofern auch eine besondere Herausforderung, da das Aufwachsen in einer Einrichtung vielfach mit Benachteiligungen einhergeht (z. B. Gypen et al. 2017). Inwiefern solche Benachteiligungen eine Folge der schwierigen Lebensverhältnisse vor Aufnahme in eine Einrichtung oder eine Folge des Aufwachsens in der Einrichtung sind, kann dabei nur sehr schwer bestimmt werden. Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage, ob und ggf. in welchem Ausmaß junge Menschen, die in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe leben, gegenüber Gleichaltrigen, die bei ihren Familien aufwachsen, digital benachteiligt sind. Zunächst werden dazu die Bedeutung digitaler Medien sowie die damit verbundenen Chancen und Risiken kurz skizziert (Abschnitt 2). Anschließend wird auf Überlegungen zu digitaler Ungleichheit (Abschnitt 3) und auf den Forschungsstand zu Digitalisierung und digitaler Ungleichheit im Feld der Heimerziehung eingegangen (Abschnitt 4). Vor diesem Hintergrund wird in Abschnitt 5 die Relevanz der oben genannten Fragestellung begründet und das Vorgehen zu deren Beantwortung vorgestellt. Empirische Basis des Beitrags ist eine bundesweite Befragung von Einrichtungen der stationären Hilfen zur Erziehung 2019 durch das Projekt „Jugendhilfe und sozialer Wandel” am Deutschen Jugendinstitut. In dieser Erhebung wurden auch bundesweite Daten zur digitalen Ausstattung und zu Regulierungen des Medienzugangs erhoben. Verglichen werden diese Daten mit den Ergebnissen der durch den Sozialpädagogischen Forschungsverbund Südwest (MPFS) durchgeführten JIM-Studie 2019. Die Ergebnisse des Vergleichs werden in Abschnitt 6 vorgestellt, ergänzt um einen Exkurs zu digitalisierungsbezogenen Einschätzungen der Einrichtungen (Abschnitt 7). Abschließend erfolgt eine Einordnung der Befunde (Abschnitt 8) sowie ein Fazit (Abschnitt 9). 2. Zur Bedeutung digitaler Medien für junge Menschen Digitale Medien sind heute ein selbstverständliches Element der Lebenswelt junger Menschen (z. B. Tillmann 2020). So leben nahezu alle Jugendlichen in Haushalten mit einem (mobilen) Internetanschluss und besitzen ein Smartphone (MPFS 2023 a). Die Bedeutung digitaler Medien zeigt sich zudem darin, dass Jugendliche durchschnittlich dreieinhalb Stunden online sind (ebd.), überwiegend mit dem eigenen Smartphone (MPFS 2018). Gut zwei Fünftel der Kinder zwischen 6 und 12 Jahren besitzen ein eigenes Smartphone (MPFS 2023 b). Dabei stellt das Handy zwar das zentrale, keinesfalls aber das einzige digitale Medium dar, das Kinder und Jugendliche nutzen (MPFS 2023 a, 2023 b). Der Zugang zum Internet und zu digitalen Geräten ist dabei lediglich die materielle Voraussetzung für das eigentlich relevante Phänomen der Digitalisierung und Digitalität der Lebenswelt. Der Begriff der Digitalisierung verweist hierbei auf einen umfassenden Mediatisierungsprozess, in dem digitale Medien an Bedeutung gewinnen und der mit weitreichenden gesellschaftlichen Transformationen verknüpft ist (Krotz 2007). Digitalität beschreibt demgegenüber das Leben in post-digitalen Lebenswelten, in denen digitale und analoge Elemente selbstverständlich miteinander verknüpft sind und Beziehungen durch digitale Medien in spezifischer Weise strukturiert werden (Stalder 2016). Digitalisierung und Mediatisierung verweisen auf eine tiefgreifende soziale, psychische und materielle Transformation der Gesellschaft und somit auch auf veränderte Modi der Kommunikation, Sozialisation und Teilhabe. Sozialisation und Vergesellschaftung, d. h. das Hineinwachsen, das Verstehen und die Teilhabe an Gesellschaft vollziehen sich zu großen Teilen vermittelt über digitale Medien. Nicht erst seit der Coronapandemie bieten digitale Medien im Kontext der schulischen, akademischen und beruflichen Ausbildungen Zugänge zu 13 uj 1 | 2025 Digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung relevanten Wissensressourcen (Livingstone / Haddon 2009; MPFS 2021). Junge Menschen pflegen über digitale Medien Kontakte innerhalb und mit zunehmendem Alter auch außerhalb der Familie, besonders zu Peers (Tran/ Gaupp 2021). Schließlich erfolgen soziale Positionierungen in hohem Maße im digitalen Raum, wobei besonders Soziale Medien vielfältige Möglichkeiten der Identitätskonstruktion über Selbstnarrationen bieten (Tillmann 2020). Entsprechend folgert Spanhel (2020, 107), die sich in digitalen Medien eröffnenden Spielräume seien „für die jungen Leute lebens- und entwicklungsnotwendig, um mit ihren kleineren oder größeren alltäglichen Problemen, Sorgen, Nöten oder Konflikten fertigzuwerden oder an der Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben, z. B. am Aufbau einer eigenen Wertordnung zu arbeiten oder relativ gefahrlos ihre Identität erproben, korrigieren und festigen zu können“. Als selbstverständliches Element der Lebenswelt junger Menschen sind digitale Medien nicht nur wichtige Medien der Sozialisation sowie Voraussetzung für soziale Teilhabe. Daneben bergen digitale Medien - wie alle Technologien - auch spezifische Risiken. Diese können aus den Inhalten selbst, aus dem Nutzungsverhalten junger Menschen sowie der Mediennutzung Dritter resultieren. Im Kontext des EU Kids Online Projekts weisen Livingstone et al. (2011) darauf hin, dass mit dem Anstieg der Zugänge und der Nutzung des Internets Chancen und Risiken gleichermaßen ansteigen. Chancen des Internets werden hierbei in den Bereichen Bildung, Beteiligung, Kreativität sowie Identität und Beziehung identifiziert. Die Risiken der Internetnutzung systematisieren die Wissenschaftler: innen um Livingstone einerseits nach den vier Inhaltsbereichen Gewalt, Sexualität, Werte und Kommerz sowie andererseits nach gefährdenden Inhalten (Kinder als Nutzer: innen), Kontakten (Kinder als Beteiligte) und Verhaltensweisen (Kinder als Handelnde) (Livingstone et al. 2011). Zum Ausmaß dieser Risiken liegen zahlreiche Studien vor (z. B. Brüggen et al. 2022). 3. Digitale Ungleichheit Nach Hradil (2001, 30) liegt „[s]oziale Ungleichheit (…) dann vor, wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den wertvollen Gütern einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten”. Solche Ungleichheiten können sich auf zahlreiche Dimensionen (z. B. Alter, Geschlecht, Herkunft) beziehen. Der Zugang zu digitalen Medien hat großen Einfluss auf die Möglichkeiten des Agierens in der eigenen Lebenswelt sowie ihrer Gestaltung. Somit moderiert der Zugang zu digitalen Medien in grundlegender Weise die Möglichkeiten der Teilhabe an wertvollen Gütern (z. B. Bildung, Information, Beziehungen, Kommunikation). Mangelnder Zugang zu digitalen Medien markiert damit eine bedeutende Dimension sozialer Ungleichheit (Deutscher Bundestag 2017, 327). Neben Unterschieden im Zugang zu digitalen Medien - z. B. wegen fehlenden materiellen Möglichkeiten - werden in der Fachdiskussion weitere Formen der digitalen Ungleichheit diskutiert (Iske/ Kutscher 2020). So diskutieren etwa DiMaggio und Hargittai (2001) bereits Anfang der 2000er-Jahre Unterschiede in Ausstattung, Autonomie von Nutzer: innen, Fähigkeiten zur Nutzung, sozialer Unterstützung der Nutzung und Nutzungsgewohnheiten von digitalen Medien als relevante Faktoren. Zudem rücken zunehmend auch infrastrukturell bedingte digitale Ungleichheiten in den Blick. Diese resultieren etwa aus der Struktur des Internets und den Algorithmen von Onlinediensten. So nimmt bei vielen Diensten das frühere Verhalten einen Einfluss darauf, welche Inhalte und damit auch welche Teilhabeoptionen Nutzer: innen zukünftig geboten werden (Zorn 2017). Nicht nur die Nicht- Nutzung, sondern auch die Nutzung digitaler Medien kann demnach zu Benachteiligungen führen. Dem Digital Index zufolge - in den Daten zum Zugang, zu Kompetenzen, zu Einstellungen und zur Nutzung digitaler Medien einfließen - ist in Deutschland die digitale Spaltung und Ungleichheit in den vergangenen Jahren zurückgegangen (Initiative D21 2021). 14 uj 1 | 2025 Digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung Der Index variiert jedoch in Abhängigkeit von anderen Ungleichheitsstrukturen. So sind ältere Personen, Frauen sowie Personen mit geringem Bildungsgrad und niedrigerem Einkommen in größerem Maße digital benachteiligt, weisen also niedrigere Indexwerte auf (ebd.). Eine Auswertung der Daten des Sozioökonomischen Panels 2019 zeigt weiter, dass 21 % der armen und lediglich 9 % der nichtarmen Haushalte keinen Internetanschluss haben (Schabram et al. 2023). Die deutsche Gesellschaft ist demnach weiterhin auch digital gespalten. Diese Befunde zeigen einerseits, dass klassische soziale Ungleichheiten zu digitalen Ungleichheiten führen - und umgekehrt - und dass sich diese Ungleichheiten nicht nur auf die Chancen, sondern auch auf die Risiken der Mediennutzung beziehen. Dabei lassen sich die Gruppen der digital Profitierenden und Benachteiligten keinesfalls immer eindeutig benennen. So weist Good (2023) auf die paradoxe Situation hin, dass in internationalen Studien etwa Menschen mit Behinderung oder Angehörige der LGBTQIA+- Community in besonderem Maße von Risiken digitaler Medien (z. B. Beleidigungen, Hass und Hetze) betroffen sind. Gleichzeitig profitieren Angehörige dieser Gruppen aber auch in besonderem Maße von den Chancen digitaler Medien, um etwa soziale Isolation zu überwinden oder die eigene Identität zu entwickeln (Good 2023, 804). 4. Digitalisierung und Heimerziehung Die Digitalität der Lebenswelt junger Menschen macht digitale Medien - und damit auch die vorgestellten Überlegungen zu Bedeutung, Chancen und Risiken sowie Ungleichheiten - auch zu einem Thema der Kinder- und Jugendhilfe (Bundesjugendkuratorium 2021). Die gut 120.000 jungen Menschen, die derzeit in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfen leben (Statistisches Bundesamt 2022), stehen vor den gleichen, sich heute vielfach in digitalen Räumen realisierenden Entwicklungsaufgaben wie ihre Altersgenossen, die in Familien aufwachsen (DigiPäd 24/ 7 2022). Wegen der spezifischen, tendenziell stärker belasteten Lebenssituation gestaltet sich die Bewältigung solcher Entwicklungsaufgaben für junge Menschen in Einrichtungen stationärer Hilfen aber tendenziell schwieriger. So hat die Aufnahme in eine Einrichtung häufig eine stark belastete Lebenssituation als Ursache. Aber auch das Aufwachsen in einem öffentlich organisierten und verberuftlichten Setting, häufig verbunden mit einer räumlichen Trennung von der Herkunftsfamilie und dem sozialen Umfeld, stellt eine große Herausforderung dar und geht vielfach mit einer besonderen, auch digitalisierungsbezogenen Vulnerabilität einher (Good 2023; Hajok 2023). Zu digitalen Medien im Kontext der Heimerziehung liegen inzwischen einige Abhandlungen und empirische Studien vor, besonders aus dem deutschsprachigen Raum (z. B. Behnisch/ Henseler 2012; Hajok 2023; Steiner et al. 2017; vgl. zum Forschungsstand auch Kochskämper et al. 2020). Studien zur Handynutzung von jungen Menschen, die in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfen leben, zeigen, dass deren Bedeutung - neben den „normalen“ jugendspezifischen Funktionen - vor allem darin liegt, Kontakte zu Freunden und zur Familie außerhalb der Einrichtung zu pflegen. Das Handy fungiert somit als „zentrales Außenkommunikationsmittel“ (Behnisch/ Henseler 2012, 241), um den sozialpädagogischen Ort des Aufwachsens zu verlassen und um Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken außerhalb der Einrichtung aufrechtzuerhalten (Witzel 2015, 124ff ). Dabei sind Smartphones auch deshalb eine wichtige „Brücke nach draußen“ (ebd., 126), weil der Zugang zu anderen Kommunikationsmitteln wie etwa PCs in den Einrichtungen häufig limitiert ist (ebd.). Daneben werden Handys auch zur Unterhaltung und Alltagsorganisation genutzt (Behnisch/ Henseler 2012). 15 uj 1 | 2025 Digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung Auf die Bedeutung digitaler Medien für die Bewohner: innen stationärer Einrichtungen verweisen auch weitere (qualitative) Studien. So wurde etwa in einer schweizerischen Studie zum Wohlbefinden und zur Vulnerabilität von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen die Bedeutung digitaler Medien herausgestellt (Pizzera/ Pomey 2023). Ein weiteres Beispiel ist das Projekt „Gute Heime“, in dem erhoben wurde, was aus der Perspektive unterschiedlicher Akteur: innen (u. a. Bewohner: innen, Einrichtungen, Kostenträger) Qualität in der Heimerziehung ausmacht. Dabei wurde das Thema digitale Medien von Bewohner: innen unterschiedlichen Alters als wesentlicher Qualitätsfaktor „prominent gesetzt“ (Burschel et al. 2022, 61), besonders der freie Zugang zu WLAN. Dieser wurde als notwendige Voraussetzung für soziale Teilhabe sowie als „normale Infrastruktur“ heutzutage beschrieben. Dabei antizipieren die jungen Menschen durchaus die Herausforderungen, vor denen Fachkräfte und Einrichtungen stehen. Sie zeigen außerdem Verständnis dafür, dass der Zugang zum digitalen Raum pädagogisch begründet, etwa in Abhängigkeit vom Alter, reguliert wird. Andere Einschränkungen der Mediennutzung, etwa als Sanktion, werden dagegen als unangemessen kritisiert. Auch in Studien zu digitalen Medien werden Einschränkungen der Handynutzung - etwa im Rahmen pädagogischer Programme (Token-/ Stufensysteme) oder auch als Sanktion auf aus Sicht der Fachkräfte unangemessenes Verhalten - von den Kindern und Jugendlichen als schwerwiegende Einschränkung der Handlungsautonomie in der Einrichtung angesehen (Behnisch/ Henseler 2012; DigiPäd 24/ 7 2022). Einschränkungen der Mediennutzung können dabei weitreichende Folgen haben und nicht nur zu Kontakt-, sondern auch zu Beziehungsabbrüchen führen (Tillmann/ Weßel 2021). Hinweise auf die Gründe für die Einschränkungen der Mediennutzung der jungen Menschen geben Befragungen von Fachkräften. Die von den meisten Eltern vertretene Einschätzung, dass Erziehung durch digitale Medien schwieriger geworden ist (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2021, 209), teilen auch viele der in Einrichtungen der stationären Hilfen zur Erziehung beschäftigten Fachkräfte. So waren über die Hälfte der von Behnisch und Henseler (2012) befragten Fachkräfte der Ansicht, dass die Gefahren für junge Menschen durch die Handynutzung gestiegen sind (ebd., 234). Diese Befunde bestätigt auch das Projekt „DigiPäd 24/ 7“ (2022), von dem Bewohner: innen und Fachkräfte in zwei Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe befragt und ethnografisch begleitet sowie organisationale Dokumente ausgewertet wurden. Als ein Ergebnis dieser Studie wird konstatiert, dass im Kontext der Heimerziehung nicht die Entwicklungs- und Teilhabechancen, sondern die „Konstruktion digitaler Vulnerabilität“ im Zentrum steht. Diese zeigt sich in organisationalen Dokumenten, in denen ein „verkürztes Verständnis von Digitalisierung“ herrscht, das sich auf eine Regulierung der Handynutzung durch Kontrollen und Verbote fokussiert (Schilling et al. 2021). Weiter wird eine diffuse Fachlichkeit der Mitarbeitenden kritisiert, die ihr „situativ-fachliches Handeln (…) vor allem mit Rückgriff auf die eigene Mediensozialisation, Intuition und alltagstheoretische Wissensbestände“ (DigiPäd 24/ 7 2022, 14) begründen. Dieses subjektive Handeln der Fachkräfte sei eingebunden in einen linear-direktiv gestalteten organisationalen Rahmen, der durch eine starke organisationale Regulierung der Mediennutzung und starre und beteiligungsfeindliche Machtstrukturen - auch was die Setzung von Regeln der Mediennutzung angeht - geprägt sei. Insgesamt zeigen die vorliegenden Studien, dass digitale Medien im Kontext der Heimerziehung im Spannungsfeld zwischen pädagogischer Verantwortung und Kontrolle auf der einen Seite und der Förderung jugendlicher Selbstbestimmung und Teilhabe auf der anderen Seite stehen (z. B. Behnisch/ Henseler 2012). Die Untersuchungen zeigen, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Einrichtungen gibt - sowohl hinsichtlich der pädagogischen Praxis, der Kompetenzen und Einstellungen der 16 uj 1 | 2025 Digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung Fachkräfte als auch in Bezug auf die Ausstattung mit digitalen Medien und die Regulierung ihrer Nutzung (z. B. Ackermann 2022; Witzel 2015). Das Thema der digitalen Ungleichheit zwischen jungen Menschen, die in Einrichtungen aufwachsen, und denjenigen, die in Familien aufwachsen, ist in zahlreichen Studien präsent. Selten finden sich jedoch empirische Belege. Aussagen zu digitaler Ungleichheit basieren meist auf Einschätzungen der jungen Menschen, die eine vergleichsweise schlechtere Ausstattung in den Einrichtungen bemängeln (Burschel et al. 2022, 69). Ein auf quantitativen Daten basierender Vergleich liegt für die Schweiz vor: Im Rahmen des MEKiS-Projekts wurden Fachkräfte der Heimerziehung nicht nur zu ihren Einstellungen und Kompetenzen befragt, sondern auch zu Internetzugang, Hard- und Softwareausstattung ihrer Einrichtungen sowie zur Regulierung der Mediennutzung. Eine digitale Benachteiligung wird vor allem bei Tablets, Spielekonsolen und dem Zugang zum Internet festgestellt (Steiner et al. 2017, 44ff ). Für Deutschland lagen bislang keine repräsentativen Daten zum Zugang zu digitalen Medien in Einrichtungen stationärer Hilfen vor. 5. Fragestellung und methodischer Zugang Vor dem skizzierten Forschungsdesiderat wird im vorliegenden Beitrag der Frage nachgegangen, ob, inwiefern und in welchem Ausmaß junge Menschen, die in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe leben, gegenüber jungen Menschen, die bei ihren Familien aufwachsen, digital benachteiligt sind. Dabei wird lediglich die grundlegende Dimension des Zugangs zu digitalen Medien betrachtet. Als empirische Grundlage zur Beantwortung dieser Frage dient zum einen die DJI-Erhebung bei Einrichtungen stationärer Hilfen zur Erziehung 2019. Es handelt sich dabei um die inzwischen sechste bundesweite Befragung einer Stichprobe von Einrichtungen. Zur Stichprobenziehung wurde ein mehrstufiges Verfahren genutzt, das eine Quotenauswahl von Jugendamtsbezirken mit einer Zufallsauswahl von Einrichtungen stationärer Hilfen in diesen Bezirken verbindet. Die Auswahl der Jugendamtsbezirke ist nach Bundesländern und Städten bzw. Landkreisen sowie Einwohnerzahlen quotiert und stellt ein gutes Abbild der Kinder- und Jugendhilfe auf der kommunalen Ebene dar (Gadow et al. 2013, 333ff ). In diesen Jugendamtsbezirken wurde eine Stichprobe von 1.430 Einrichtungen postalisch angeschrieben. 470 Einrichtungen haben an der Befragung teilgenommen, was einer Rücklaufquote von 33 % entspricht. Die Erhebung hatte ein breites Spektrum unterschiedlicher Themen zum Gegenstand, u. a. auch digitale Medien (Pluto et al. 2024, 510ff ). Als Vergleichsgruppe dient die JIM-Studie 2019. Für die JIM-Studien (Jugend, Information, Medien) werden seit 1998 jährlich 1.200 Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren durch den Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest befragt. Gegenstand der JIM-Studien ist unter anderem der Zugang zu (digitalen) Medien, Wege und Inhalte der Mediennutzung und Erfahrungen im digitalen Raum (MPFS 2020 a). Verglichen werden jeweils die Daten zur digitalen Ausstattung des Settings des Aufwachsens, also zur digitalen Infrastruktur, die die Einrichtungen bzw. die Privathaushalte bereitstellen, in denen junge Menschen aufwachsen. Insofern wird auf die gleiche Dimension des Zugangs Bezug genommen. Die Datenquellen unterschieden sich insofern, als die Daten zu den Einrichtungen im Rahmen einer Institutionenbefragung erhoben wurden: Die Einrichtungen gaben an, welche Ausstattung sie den jungen Menschen bereitstellen. Bei der JIM-Studie handelte es sich demgegenüber um eine Personenbefragung, in der die jungen Menschen angaben, welche Ausstattung in dem Haushalt, in dem sie aufwachsen, vorhanden ist. Um die beiden Gruppen vergleichbar zu machen, wurden nur jene Einrichtungen der DJI-Erhebung berücksichtigt, in denen (auch) Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren leben. 17 uj 1 | 2025 Digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung 6. Befunde zum Ausmaß digitaler Ungleichheit Eine wesentliche Voraussetzung für digitale Teilhabe ist der Zugang zum Internet. Besonders relevant ist dabei ein WLAN-Zugang, da es dieser erlaubt, mit eigenen Geräten - besonders mit dem eigenen Smartphone - digitale Medien, vor allem Soziale Medien, zu nutzen. Zugleich weisen zahlreiche Veröffentlichungen darauf hin, dass für junge Menschen, die in Einrichtungen stationärer Erziehungshilfe aufwachsen, kein WLAN oder kein ausreichendes WLAN zur Verfügung steht (z. B. Burschel et al. 2022; DigiPäd 24/ 7 2022). In der DJI-Erhebung wurden die Einrichtungen danach gefragt, ob sie eine kabelgebundene (LAN) und/ oder eine kabellose (WLAN) oder keine Internetverbindung zur Verfügung stellen. Eine Mehrheit von 47% der Einrichtungen gab an, ausschließlich WLAN zur Verfügung zu stellen. Weitere 31 % stellen LAN und WLAN zur Verfügung, 12 % lediglich eine kabelgebundene LAN-Verbindung. Ein Zehntel der Einrichtungen stellt den Bewohner: innen keinen Internetzugang zur Verfügung. In der JIM-Erhebung 2019 wurde danach gefragt, ob in dem Haushalt, in dem die Befragten aufwachsen, ein WLAN-Zugang vorhanden ist (MPFS 2020 a). Ob es einen Internetzugang - egal ob WLAN oder LAN - gibt, wurde nicht in der JIM-Studie 2019 erhoben, sondern in der JIM-Studie 2018 (MPFS 2018). Abbildung 1 zeigt das Ergebnis des Vergleichs von DJI- und JIM-Studie zum Internetzugang. Sowohl für die Frage, ob ein Internetzugang besteht, als auch ob WLAN verfügbar ist, zeigt sich eine deutliche Benachteiligung von jungen Menschen, die in Einrichtungen der Heimerziehung aufwachsen. Wenn eine Einrichtung angibt, einen Internetzugang zur Verfügung zu stellen, so heißt dies indes nicht automatisch, dass dieser allen jungen Menschen in der Einrichtung, zu jeder Zeit und unter Wahrung der Privatsphäre zur Verfügung steht. Vielmehr kann der Internetzugang bzw. die Nutzung digitaler Medien eingeschränkt sein. So gibt es in 90 % der Einrichtungen Regeln, die die Nutzung digitaler Medien räumlich oder zeitlich einschränken. 70 % der Einrichtungen nutzen Apps, um bestimmte Inhalte des Internets zu sperren und ca. zwei Drittel der Einrichtungen geben an, die Handys der Bewohner: innen - meist anlassbezogen - zu kontrollieren (ausführlich Pluto et al. 2024). Hier zeigt ein Vergleich mit Elternbefragungen, dass solche Strategien zwar auch in Privathaushalten genutzt werden, dort aber weniger verbreitet sind (MPFS 2019, 71ff; Naab 2021). Solche Einschränkungen dienen besonders dazu, junge Menschen vor gefährdenden Inhalten oder Kontakten in digitalen Medien zu schützen oder um Risiken einer übermäßigen Nutzung für die einzelnen jungen Menschen oder aber für die Gruppe bzw. Familie zu reduzieren. Abb. 1: Zugang von jungen Menschen zum Internet, differenziert nach Setting des Aufwachsens JIM 2018 DJI 2019 JIM 2019 DJI 2019 Internetzugang WLAN 98 % 98 % 90 % 78 % 18 uj 1 | 2025 Digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung Weiter wurde im Rahmen der DJI-Studie erhoben, welche Geräte die Einrichtungen den jungen Menschen zur Verfügung stellen (vgl. Abb. 2). Analog dazu liegen auch Daten vor, welche Geräte in den Privathaushalten, in denen Jugendliche aufwachsen, vorhanden sind. Um eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen, wurden für die DJI-Erhebung die Anteile der Einrichtungen, die einen PC und/ oder Laptop vorhalten, zusammengefasst. Dabei flossen für den Computer die Antworten darauf ein, ob von den jungen Menschen ein PC im Büro der Fachkräfte (64 %), im Gruppenraum (66 %) und/ oder an einem sonstigen Ort (21 %) genutzt werden kann, ergänzt um die Antwort „Laptop“ aus einer offenen Antwortmöglichkeit. Für den Zugang zu Computer/ Laptop zeigen sich keine Unterschiede zwischen den Gruppen, wobei berücksichtigt werden muss, dass die Nutzung eines PCs im Mitarbeiter: innenbüro oder Gruppenraum mit zahlreichen Restriktionen (zeitliche Begrenzung, keine Privatsphäre etc.) verbunden sein kann. Deutlich sind dagegen die Unterschiede beim Zugang zu Tablets und tragbaren Spielekonsolen. Schließlich lässt sich für die beiden Settings des Aufwachsens vergleichen, ob ein Zugang zu Streamingdiensten (z. B. Netflix, Sky) vorhanden ist. Auch hier besteht ein großer Unterschied: Während 77 % der Privathaushalte über ein solches Abo verfügen, tun dies gerade einmal 21 % der Einrichtungen. Angesichts der Bedeutung, die manche Serien als Thema von Peer-Kommunikation haben, kann das Fehlen von Zugängen zu Streamingdiensten zu Exklusion aus Interaktionskontexten führen und ist daher durchaus als digitale Benachteiligung zu qualifizieren. 7. Exkurs: Medienbezogene Einschätzungen der Einrichtungen In der Fachdiskussion wird digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung regelmäßig mit Ängsten und Vorbehalten der Fachkräfte verbunden (vgl. Abschnitt 4). Abbildung 3 zeigt, dass eine Mehrheit der Einrichtungen der Ansicht ist, dass Medien Bildungsmöglichkeiten bieten und wichtig für die gesellschaftliche Integration sind. Der Meinung, dass die jungen Menschen zu viel Zeit mit digitalen Medien verbringen, wird insgesamt eher zugestimmt. Der Aussage, dass digitale Medieninhalte die Entwicklung gefährden, stimmt dagegen nur gut ein Fünftel der Einrichtungen zu, etwa ebenso viele lehnen diese (eher) ab. Interessant ist, dass jeweils ein recht großer Anteil der Einrichtungen eine abwägende Position („teils, teils“) vertritt. Ähnlich wie in der MEKiS-Studie (Steiner et al. 2017) wurde auf Grundlage der vier Items ein Index zur Haltung der Einrichtungen gegenüber digitalen Medien gebildet und medienaffirmative, ambivalente und medienkritische Einrichtungen unterschieden. Medienaffirma- Abb. 2: Zugang von jungen Menschen zu digitalen Endgeräten, differenziert nach Setting des Aufwachsens JIM 2019 DJI 2019 JIM 2019 DJI 2019 JIM 2019 DJI 2019 JIM 2019 DJI 2019 Computer/ Laptop Tablet Feste Spielekonsole Tragbare Spielekonsole 98 % 63 % 67 % 53 % 97 % 23 % 61 % 24 % 19 uj 1 | 2025 Digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung tive Einrichtungen stellen ihren Bewohner: innen zu einem signifikant höheren Anteil Internet und WLAN zur Verfügung, ebenso PCs im Gruppenraum und Streamingdienst-Abos. Allerdings nutzen medienaffirmative Einrichtungen auch zu deutlich höheren Anteilen restriktive Strategien wie Filter-Apps, Regeln zur räumlichen/ zeitlichen Begrenzung der Mediennutzung und Handykontrollen, als dies medienkritische und ambivalente Einrichtungen tun (vgl. ausführlich Pluto et al. 2024, 454ff ). 8. Diskussion In der DJI-Erhebung wurden repräsentative quantitativ-empirische Daten zur digitalen Ausstattung von Einrichtungen der Heimerziehung erhoben. Durch den Vergleich dieser Befunde mit weiteren Datenquellen - hier den haushaltsbezogenen Daten der JIM-Studien - ist es möglich, empirisch belastbare Aussagen zur digitalen Ungleichheit im Kontext von Heimerziehung zu machen. Die Ergebnisse dieses Vergleichs bestätigen den häufig geäußerten Verdacht, dass junge Menschen, die in Einrichtungen der Heimerziehung aufwachsen, gegenüber jungen Menschen in Privathaushalten hinsichtlich des Zugangs digital benachteiligt sind. Dieser Befund gilt jedoch nicht für alle untersuchten Aspekte in gleichem Maße: Besonders groß ist die Ungleichheit bei mobilen Nutzungsmodi (WLAN, Tablets, mobile Spielekonsolen), die in besonderem Maße eine selbstbestimmte Nutzung ermöglichen. Gleichzeitig sind mobile Nutzungsmodi schwerer durch die Einrichtungen und deren Fachkräfte kontrollierbar und der Medienkonsum kann weniger gut durch die Fachkräfte pädagogisch begleitet werden. Dies deutet darauf hin, dass die Einrichtungen im Spannungsfeld zwischen Ermöglichung digitaler Teilhabe und Schutz vor Gefahren im digitalen Raum der Kontrolle und Begleitung der jungen Menschen eine große Bedeutung zuschreiben. Hierzu passt der Befund, dass medienaffirmative Einrichtungen die Mediennutzung stärker reglementieren. Dieser vermeintliche Widerspruch lässt sich damit auflösen, dass sowohl eine medienaffirmative Grundhaltung als auch eine stärkere Regulierung der Mediennutzung Ausdruck eines generellen Interesses bzw. einer eingehenderen Beschäftigung der Einrichtungen mit digitalen Medien sind. Diese medienaffirmativen Einrichtungen sind offensichtlich nicht nur aufge- Digitale Medien bieten für unsere Kinder/ Jugendlichen Möglichkeiten zu lernen, sich zu bilden und kreativ zu sein. Digitale Medien sind für unsere Kinder/ Jugendlichen eine Chance, sich besser in die Gesellschaft zu integrieren. Unsere Kinder und Jugendlichen verbringen zu viel Zeit mit digitalen Medien. Die in digitalen Medien verfügbaren Inhalte gefährden die Entwicklung unserer Kinder und Jugendlichen. 1 % 2 % 3 % 2 % 11 % 47 % 37 % 12 % 35 % 45 % 4 % 7 % 15 % 26 % 36 % 19 % 4 % 18 % 58 % 18 % 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % trifft voll zu trifft eher zu teils, teils trifft eher nicht zu trifft eher nicht zu Abb. 3: Einschätzungen der Einrichtungen zu digitalen Medien 20 uj 1 | 2025 Digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung schlossener gegenüber digitalen Medien, sondern auch in höherem Maße dazu bereit und in der Lage, Verantwortung für die Mediennutzung der Bewohner: innen zu übernehmen. Hierfür spricht auch der Befund, dass medienaffirmative Einrichtungen häufiger angeben, mit den Bewohner: innen über deren Erfahrungen im Internet zu sprechen und die Förderung der Medienkompetenz als wichtigen Bestandteil der eigenen pädagogischen Arbeit sehen. Auch dieser Zusammenhang verweist darauf, dass restriktive Formen der Medienerziehung nicht nur dafür genutzt werden, Risiken durch Einschränkungen und Verbote zu minimieren, sondern auch eine Strategie darstellen, digitale Exploration und Teilhabe zu fördern, ohne auf einen notwendigen Basisschutz vor Gefahren zu verzichten. Der in der DJI-Studie genutzte methodische Zugang macht auf einen Ausschnitt digitaler Benachteiligung aufmerksam: So wurde nur erhoben, ob Zugänge zum Internet und diverse Geräte zur Verfügung stehen, aber nicht, in welcher Qualität und Quantität (z. B. Bandbreite des WLANs, Aktualität und Anzahl der Endgeräte für junge Menschen). Weiter wurden keine Daten zu individuellen Zugängen zum Internet über individuelle Handyverträge und zum persönlichen Gerätebesitz (v. a. von Smartphones) erhoben. Die Studien von Behnisch und Henseler (2012) sowie von Witzel (2015) zeigen, dass besonders das eigene Smartphone für die Bewohner: innen von Einrichtungen eine große Bedeutung besitzt. Ebenso ist es durch den gewählten Zugang nicht möglich, Benachteiligungen, die durch die Nutzungsweise von digitalen Medien entstehen, in den Blick zu nehmen. Allerdings liegen hierzu bereits erste qualitative Annäherungen vor (z. B. DigiPäd 24/ 7 2022). Nicht zuletzt ist die zeitliche Verortung des hier angestellten Vergleichs zu berücksichtigen. Dieser basiert auf Daten aus dem Jahr 2019, also noch vor der Coronapandemie. Bekanntlich hat die Pandemie zu einem starken Bedeutungsgewinn digitaler Medien - etwa im Rahmen der Bildung, aber auch mit Blick auf private Nutzungs- und Konsummuster - geführt (MPFS 2020 b, 2021). Praxisberichte verweisen auf Digitalisierungsimpulse auch in stationären Einrichtungen (z. B. Bank für Sozialwirtschaft 2020). Offen bleibt, ob diese zu einer Verringerung der digitalen Ungleichheit geführt haben oder ob die digitale Ungleichheit zwischen jungen Menschen in Einrichtungen und Privathaushalten während und nach der Coronapandemie noch weiter gestiegen ist. 9. Fazit Die hier präsentierten Ergebnisse bekräftigen die Forderungen nach Strategien zu einer Digitalisierung der Heimerziehung, nicht nur mit Blick auf die Ausstattung der Einrichtungen (z. B. Bundesjugendkuratorium 2021; Bundesnetzwerk der Interessensvertretungen 2021). Die in diesem Beitrag vorgestellte Analyse ist ein erster Schritt zu einer empirischen Fundierung der Diskussion um digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung. Wie verschiedentlich angemerkt, sind zur weiteren Fundierung aber weitere Untersuchungen nötig. Für zukünftige Untersuchungen können die aus der Zeit vor der Pandemie stammenden Befunde der vorliegenden Studie als Baseline dienen, die als Bezugsbzw. Vergleichspunkt für zukünftige Erhebungen herangezogen werden kann. Mit Blick auf die Fachdiskussion ist zu konstatieren, dass neben Fragen der digitalen Benachteiligung auch Reflexionen zur pädagogischen Verantwortung (grundlegend Brumlik 1992) größere Beachtung im Diskurs um die Digitalisierung der Heimerziehung verdienen. Dr. Andreas Mairhofer Dr. Liane Pluto Christian Peucker Deutsches Jugendinstitut e.V. - Projekt „Jugendhilfe und sozialer Wandel“ Nockherstr. 2 81541 München www.dji.de/ jhsw 21 uj 1 | 2025 Digitale Ungleichheit im Kontext der Heimerziehung Literatur Ackermann, J. (2022): Herausforderung Medienerziehung: Bedeutung digitaler Medien in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Technische Hochschule Köln Behnisch, M., Henseler, C. (2012): Handynutzung in der Heimerziehung - zwischen Kompetenzgewinn und Kontrolle. 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