unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2025.art09d
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Teillegalisierung von Cannabis
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2025
Felix Keil
„Menschenrechte müssen gewahrt werden und Haltung ist wichtig!“ Die Praxis belässt es häufig bei diesen markigen Worten und lässt ihre Fachkräfte damit allein. Die Teillegalisierung von Cannabis ist keine spezielle Herausforderung für die bereits (sucht)belastete Jugendhilfe. Der Arbeit mit suchtbelasteten Jugendlichen und Familiensystemen muss mit Fachwissen, Methodik und Struktur begegnet werden. Damit Werte und Haltung wirksam sind, müssen sie in der Organisation verankert sein. Wie dies in der Praxis gelingen kann, erläutert dieser Text.
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71 unsere jugend, 77. Jg., S. 71- 81 (2025) DOI 10.2378/ uj2025.art09d © Ernst Reinhardt Verlag Teillegalisierung von Cannabis Ein (kritischer) Blick aus der Praxis eines Jugendhilfeträgers mit fachlichem Schwerpunkt Sucht „Menschenrechte müssen gewahrt werden und Haltung ist wichtig! “ Die Praxis belässt es häufig bei diesen markigen Worten und lässt ihre Fachkräfte damit allein. Die Teillegalisierung von Cannabis ist keine spezielle Herausforderung für die bereits (sucht)belastete Jugendhilfe. Der Arbeit mit suchtbelasteten Jugendlichen und Familiensystemen muss mit Fachwissen, Methodik und Struktur begegnet werden. Damit Werte und Haltung wirksam sind, müssen sie in der Organisation verankert sein. Wie dies in der Praxis gelingen kann, erläutert dieser Text. von Felix Keil Sozialpädagoge (M. A.), Sozialmanager (M. A.) mit Zusatzqualifizierung als Suchtberater, Erfahrung in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der stationären Jugendhilfe in einer therapeutischen Wohngruppe sowie als Asylsozialarbeiter der Stadt Dresden, Tätigkeit für den Träger als Fachberater, seit Dezember 2020 Geschäftsführer der Radebeuler Sozialprojekte gGmbH Einleitung Der nachfolgende Text behandelt den Umgang mit der Cannabislegalisierung im Kontext eines suchtspezifisch arbeitenden Trägers der freien Jugendhilfe. Zunächst wird das Tätigkeitsfeld umrissen und skizziert, was suchtspezifische Arbeit in der Jugendhilfe für den Träger bedeutet. Anschließend geht der Text kritisch auf die derzeitigen Umgebungsfaktoren ein, in der sich die fachliche Arbeit positionieren muss. Als Anlass bzw. Bezugspunkt dient die Teillegalisierung von Cannabis in Verbindung mit aktuell wahrgenommenen Trends. Der Beitrag thematisiert hauptsächlich den Umgang mit denen, die mit suchtbelasteten Menschen arbeiten: Fachkräfte. Er skizziert erlebte Gelingensfaktoren aus der praktischen Organisationsperspektive und zeigt, dass die Haltung und das Wissen, um sich qualifiziert positionieren zu können, in einen organisationalen Kontext eingebunden werden muss. Dabei betrachtet er die Thematik klar von diesem Standpunkt. Es wird für eine klare Haltung plädiert, die einerseits Handlungssicherheit in unsicheren Situationen herstellt, aber sich andererseits nie dogmatisch manifestieren sollte. Diese Haltungen sollten immer mit den Werten einer Organisation verbunden sein. Der Text stellt außerdem die These auf, dass Haltung aktuell ein Modewort mit großem Einigungspotenzial ist und leider nicht ausreicht, um qualifizierte Arbeit abzuliefern. Haltung allein ist kein Wert an sich und wenig wirksam ohne Wissen in der Arbeit mit Hilfesuchenden. Entscheidend an der Stelle ist, wie dieser Wert konkret 72 uj 2 | 2025 Ein Blick aus der Praxis eines Jugendhilfeträgers gefüllt und untersetzt wird. Dazu werden im Beitrag vier konkrete Gelingensfaktoren beschrieben, die aus unserer Praxis heraus als Basis gelten. Am Ende führt er zurück zur Teillegalisierung und schließt damit ab. Der Beitrag ist klar vom Standpunkt des praxisbezogenen, sozialarbeiterischen und pädagogischen Alltags heraus formuliert und erhebt keinen wissenschaftlichen oder allgemeingültigen Anspruch. Die Radebeuler Sozialprojekte gGmbH Die Radebeuler Sozialprojekte gGmbH (RASOP) ist ein in Sachsen regional tätiger Sozial- und Jugendhilfeträger mit Standorten in Dresden, im Landkreis Meißen und Bautzen. Der Träger kann auf über 24 Jahre Erfahrung in den Bereichen der ambulanten und stationären Jugend- und Familienhilfe, Suchthilfe, Sozialhilfe und Prävention sowie der Gestaltung von innovativen Angeboten und Projekten zurückgreifen. Insbesondere im Leistungsbereich der Hilfen zur Erziehung mit abhängigkeitsbelasteten Familiensystemen, Erwachsenen, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist die Radebeuler Sozialprojekte gGmbH ein etablierter Träger und in zahlreiche Kooperationen eingebunden. Zum Aufgabenfeld gehören die Unterstützung von abhängigkeitsgefährdeten und -erkrankten Jugendlichen und Erwachsenen sowie deren Angehörigen bei Problemen mit Alkohol, Medikamenten, illegalen Substanzen und anderen Abhängigkeitsformen und Verhaltenssüchten, z. B. Glücksspielstörung, exzessivem Medienkonsum, internetbezogenen Störungen und anderen spezifizierten Störungen aufgrund von Suchtverhalten. Mit fast 170 Mitarbeitenden in 17 Projekten ist die Radebeuler Sozialprojekte gGmbH der größte Jugendhilfeträger in Sachsen mit Schwerpunkt Sucht. Als anerkannter Träger der Jugendhilfe nach § 27ff SGB VIII setzt er die Qualitätsstandards der „Kooperationsvereinbarung zur Koordinierung und Qualitätssicherung der Hilfen für Dresdner Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Drogenproblemen“ in der Arbeit mit Suchtkranken und Suchtgefährdeten um. Die RASOP ist aktives Mitglied der IGfH (Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen) und in der Bundesfachgruppe Heimerziehung tätig. Zu den dauerhaften Projekten gehören etwa ambulante suchtspezifische Familienhilfe, ein cleanes Wohnprojekt für Menschen, die nach qualifizierter Therapie unter cleanen Umständen zurück ins Leben finden, zwei Wohngruppen für suchtmittelgebrauchende Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren, zwei suchtspezifische Mutter-Kind-Wohngruppen in Dresden und eine resilienzorientierte Tagesgruppe für Kinder aus suchtbelasteten Familien. Der Träger unterhält außerdem die von der Hochschule Köln (weiter)entwickelten Projekte „Trampolin“ für Kinder aus suchtbelasteten Familien sowie in Kooperation mit der städtischen Jugend- und Drogenberatungsstelle „ShiftPlus“ als Elterntraining für suchtbelastete Mütter und Väter. Für das COA 1 -Projekt, welches über das GKV-Bündnis gefördert wird, gibt es einen Podcast 2 . Grundsätzlich verfolgen wir als Träger einen abstinenzorientierten Ansatz. Das bedeutet, alle Wege und Mittel gemeinsam mit den Klient: innen auszuloten und Strategien zu entwickeln, um den schädlichen oder missbräuchlichen Konsum zu vermeiden. Die Settings der Radebeuler Sozialprojekte gGmbH sind Schutzräume und daher suchtmittelfrei. Ausnahmen bilden die niedrigschwellig angelegte Kontakt- und Beratungsstelle der Wohnungsnotfallhilfe, die in Kooperation mit dem Sozialamt (Leistungen nach SGB XII und IV) betrieben wird, sowie die Suchtberatungs- und Suchtbehandlungsstellen im Landkreis Meißen. Diese befinden sich seit 2023 in Trägerschaft der RASOP und beraten offen. Der Kinderschutz steht hier weniger im Fokus als bei den o. g. Projekten. 1 Children of Addicts/ Alcoholics: https: / / nacoa.org/ coa-awareness-week/ , 13. 11. 2024 2 Unter www.rasop.de, 13. 11. 2024 73 uj 2 | 2025 Ein Blick aus der Praxis eines Jugendhilfeträgers (Fast) allein auf hoher See! - gegen den Trend Wenn man sich zum Thema Cannabislegalisierung informiert, so sind dem Eindruck nach zumindest im Internet und in Social Media die meisten Beiträge mit einer klaren Haltung versehen: für Freiheit und gegen Bevormundung. Andere Beiträge setzen auf Abschreckung und Cannabis als Einstiegsdroge, was akzeptierende Befürworter: innen nur bestärkt. Es entsteht der Eindruck, dass die Vorteile überwiegen und die abstinente Gegenposition allenfalls von konservativen Hardlinern vertreten wird. Expert: innen schätzen, dass weltweit etwa 10 % der Menschen, die Cannabis zu sich nehmen, ein gestörtes Konsumverhalten haben, also süchtig sind - so Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer im Deutschlandfunk (2023). Völlig außer Acht gelassen werden in dieser Debatte Menschen, die Suchtprobleme entwickeln, also eigentlich eine Klientel, die Soziale Arbeit anwaltschaftlich vertreten soll. Leider hat Soziale Arbeit kein ausreichendes Gehör und ist auch flächendeckend nicht auf Sucht ausgerichtet. Viele der grundsätzlich richtigen drogenpolitischen Botschaften von mündigen (auch jugendlichen) Konsument: innen sowie Entkriminalisierung und Freiheit setzen zu stark die Existenz der kompetenten, drogenmündigen Konsument: innen voraus (Kuntz 2016, 126). Es gibt zwar mündige Nutznießer potenter Rauschmittel, doch leider sind sie eher die Ausnahme als die Regel (ebd.). Zudem haben wir als Hilfesystem eher mit denen zu tun, die an ihrer Drogenmündigkeit gescheitert sind. Im Jahr 2019 beobachteten die Forschenden der Uniklinik Ulm fast achtmal mehr Cannabis-Psychosen als 2011 (Simon et al. 2024). Dass Cannabis aufgrund der Hirnentwicklung besonders gefährlich für Jugendliche ist, wird auch von Befürworter: innen nicht geleugnet. Es gibt derzeit besonders viele Positionen, die im Feld der Sozialen Arbeit unbeliebt bis verpönt sind, weil sie mit „Zwang und/ oder Kontrolle und Bevormundung“ in Verbindung gebracht werden (Conen/ Ceccin 2022). Dazu haben professionelle Helfer: innen aus berufsethischen Gründen ein schwieriges Verhältnis (ebd.). Der aktuelle Diskurs, zum Beispiel von einigen Vertreter: innen der IGfH, setzt unserer Meinung nach viel zu hoch an und vernachlässigt klare Grundsätze in der Arbeit, etwa mit von Sucht bedrohten Klient: innen. Ein gutes Beispiel ist der verstärkt rechtebasierte Ansatz der Jugendhilfe jüngst in einem Artikel von Nüsken und Wedermann (2024), der sich im folgenden Beispiel auf Meysen (2020, 116) bezieht: „In einer rechtesensiblen Praxis bringen Fachkräfte ihre Fachlichkeit ins Gespräch mit den Expert*innen für das eigene Leben, treten mit ihren Adressat*innen in Kontakt und Beziehung, interessieren sich für deren Erfahrungen, Sichtweisen, Wünsche und Sorgen. Sie bringen sich ein, um selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen und die Entwicklung von Kindern zu fördern.“ Die Schlagworte lauten hier: Interesse, Wünsche, Sorgen und Teilhabe. Kontrolle wird gar nicht erst genannt - auch nicht in der Folge dieses recht aktuellen Beitrags. Grundrechte sind unveräußerlich - dieser Standpunkt ist richtig. Sucht ist ein schambesetztes und vor allem gesellschaftliches Thema, weshalb wir eine verurteilende Haltung gegenüber Klient: innen strikt ablehnen. Viele Vertreter: innen des menschenrechtebasierten Ansatzes verkennen jedoch, wie der Fall zum Anlass der Jugendhilfe oder Fall der Medizin usw. wird. Er lässt außen vor, dass Jugendhilfe ein gesellschaftliches Kontrollmandat beinhaltet, die Rechte auch zeitweilig einschränkt (vgl. Conen/ Ceccin 2022, 72ff ). Kontrolle oder vermeintlicher Zwang durch klar vorgeschriebene Regeln, womit erwünschtes Verhalten zum Schutz von Schutzbefohlenen 74 uj 2 | 2025 Ein Blick aus der Praxis eines Jugendhilfeträgers erreicht werden soll, entsprechen nicht dem Selbstverständnis professionell Helfender und werden in der Fachöffentlichkeit aus ideologischen Gründen tabuisiert (ebd., 71). Hilfesuchende sollen schließlich selbst das Anliegen haben, Probleme zu definieren und zu benennen, wo Hilfe benötigt wird. Außerdem soll von den Hilfeadressat: innen auch gleich die Motivation mitgebracht werden, etwas zu ändern und nicht etwa von Gesellschaft und staatlichen Institutionen dazu gedrängt werden. Die Grundannahme solcher Vertreter: innen besteht darin, dass Adressat: innen nur noch nicht die richtigen Zugänge haben, die durch wohlwollende Aufklärung und Beratung hergestellt werden. Damit klammert sie die (verwalterische) Machtarchitektur von vornherein aus - auf diese wird sich allenfalls kritisch und von einem außenstehenden Standpunkt bezogen. Sozialarbeitende sehen sich gar nicht oder nur ungern als Teil dieses Mechanismus. Mit den Angeboten der Jugendhilfe setzt Soziale Arbeit in letzter Konsequenz einen hoheitsstaatlichen Auftrag um (z. B. Kinderschutz), der wiederum auf Verwaltungsmacht basiert und Definitionsmacht beinhaltet (vgl. Graeber 2017). Ab wann greift die staatliche Gemeinschaft in die Familie ein? Wie die Geschichte der Jugendhilfe zeigt, sind diese Faktoren stets unterschiedlich und immer im Kontext der vorherrschenden Politik und gesellschaftlichen Deutungsmuster bewertet worden. Eine subjektorientierte Kritik, die sich nicht als Teil des hoheitsstaatlichen Kontrollauftrags reflektiert und lediglich bei Beteiligung am Hilfeplan und Verfügung von Taschengeld ansetzt, greift zu kurz. Jugendliche (bei uns: Suchtmittelgebrauchende) werden im Anlass nicht deshalb Klient: innen der Jugendhilfe, weil sie über ihre subjektiven Rechte aufgeklärt werden wollen (das wären dann nämlich einige mehr), sondern weil sie im Rahmen der Gesellschaft abweichendes Verhalten zeigen, welches sich in lang- oder kurzfristiger Eigenbzw. Fremdgefährdung niederschlägt. Dazu zählen: Gewalt, psychische Erkrankungen, Sucht etc. In der Folge greift die hoheitsstaatliche Gemeinschaft ein (Art. 6 GG). Die Ablehnung von Kontrolle, Regeltreue oder gerichtlichen Auflagen, die z. B. im Rahmen der Familienhilfe umgesetzt werden, trägt häufig dazu bei, dass diese als unethisch wahrgenommen, nicht zur helfenden Profession passend identifiziert und zurückgewiesen wird (vgl. Conen/ Ceccin 2022). In der harten Praxis werden einzelne Klient: innengruppen lieber als unbehandelbar bezeichnet, als sich an ihnen die Zähne auszubeißen (vgl. ebd.) oder womöglich festzustellen, dass der hilfeeinsichtige motivierte Jugendliche mit Suchtmittelproblem, der sein Problem kennt, eher die Ausnahme darstellt. Das zeigen die vielen Debatten um sog. Systemsprenger: innen. Lieber lässt man die Finger von einem konfrontativen Ansatz, wenn sie nicht zum eigenen Selbstbild passen oder zu anstrengend sind. In unseren suchtspezifischen Jugendhilfewohngruppen arbeiten wir vor allem regelgeleitet. Wir glauben nicht, dass Klient: innen dort schon als Expert: innen ihres eigenen Problems auftreten - dies unterstellt nämlich die schon vorhandene Problemeinsicht, welche häufig im Jugendbereich erst erarbeitet werden muss. Unsere Soziale Arbeit versucht, so eine Situation grundsätzlich als Möglichkeit anzuerkennen (vgl. ebd.). Wir geben den jugendlichen Klient: innen absichtlich einen Raum vor, den sie zunächst nicht gestalten können - sondern einen, an dem sie sich orientieren können. Hierfür darf dieser nicht von vornherein diskutierbar und damit infrage gestellt und unsicher sein. Jugendliche Hilfeadressat: innen haben Gestaltung zuvor schon auf vielen Ebenen versucht und sind in der Vergangenheit häufig daran gescheitert. Positive und konstruktive Gestaltungsfähigkeit, Demokratieverständnis etc. müssen in der Regel erst entwickelt werden. Sie müssen konstruktive gesellschaftlich akzeptierte Gestaltungfähigkeit erst (wieder) erlernen. Vertreter: innen der rechtebasierten Ansätze gehen oft schon davon aus, dass diese bereits 75 uj 2 | 2025 Ein Blick aus der Praxis eines Jugendhilfeträgers vorhanden sind. Dies ist keine Geringschätzung von Adressat: innen der Jugendhilfe, sondern eine realistische, praktische Beobachtung. Man braucht im Übrigen kein erklärter Anhänger einer akzeptierenden Drogenarbeit zu sein, um den Konsument: innen von Rauschmitteln grundsätzlich mit menschlichem Respekt und Taktgefühl zu begegnen und die Grundrechte trotz der Einforderung von sozialen und gesellschaftlichen Werten einzuhalten (Kuntz 2016). Entscheidend sind niemals die Etiketten der verfolgten Arbeitsansätze, sondern die menschlichen und fachlichen Qualitäten derjenigen, welche die Arbeit umsetzen (ebd.). Wir helfen Klient: innen, insbesondere in Settings, in denen der Jugend- und Kinderschutz (§ 8 a SGB VIII) eine Rolle spielt, „uns wieder loszuwerden“ (Conen/ Ceccin 2022). Hierzu vertreten wir folgende Grundpositionen: ➤ Ein gesellschaftlich integriertes Leben kann grundsätzlich nur in Unabhängigkeit von psychoaktiven Substanzen und schädlichen Verhaltensweisen funktionieren. ➤ Der Konsum von Suchtmitteln jeglicher Art behindert die Bearbeitung anderer sozialer Probleme und der Sucht und stört die produktive Zusammenarbeit. ➤ Wir haben als professionelle Helfer: innen den Auftrag, auch von Institutionen der sozialen Kontrolle, die aufgrund von gesetzlichen und rechtlichen Bestimmungen das Mandat zur Einforderung von Verhaltensänderung haben, mit Klient: innen an Veränderungen ihres Sozialund/ oder Legalverhaltens zu arbeiten (vgl. Conen/ Ceccin 2022, 119f ). Dies erkennen wir wiederum als Möglichkeit an, konstruktiv mit Klient: innen in Arbeitsbeziehung zu treten. ➤ Aus Gründen des Kinderschutzes und zur Unterstützung einer selbst gewählten Abstinenzmotivation wird eine akzeptierende Drogenarbeit, z. B. kontrollierter Konsum in den Settings, in der Radebeuler Sozialprojekte gGmbH abgelehnt. ➤ Alle Settings der Radebeuler Sozialprojekte gGmbH sind Schutzräume und daher suchtmittelfrei. ➤ Um diesen Schutz und diese Unterstützung zu gewährleisten, bietet die Radebeuler Sozialprojekte gGmbH an, in allen Settings nach Bedarf Drogentests durchzuführen. ➤ Kenntnisse über Drogen, Sucht und Missbrauch sind essenziell und notwendig. Suchtarbeit als Schwerpunktthema lässt sich vor allem mit Schwerpunktwissen mit daraus ausgerichteten klaren Konzepten und nicht mit „diffuser Allzuständigkeit“ bearbeiten. ➤ Jeder abhängig erkrankte Mensch wird individuell betrachtet. ➤ Auch suchtkranke Eltern wollen gute Eltern sein. ➤ Eltern haben zuallererst eine Verantwortung für ihre Kinder und daher die Pflicht, ihre eigenen Bedürfnisse (nach Rausch) zugunsten ihrer elterlichen Verantwortung zurückzustellen. Diese Positionen, welche wir auch öffentlich vertreten, werden häufig aus ideologischen Gründen kritisiert. Drogentests, beispielsweise im Rahmen von Jugend- oder Familienhilfe, werden als Eingriff in die Persönlichkeitsrechte gewertet. Diese Positionen sind streitbar - das ist auch gut so. Grundpositionen sind ähnlich wie Diagnosen Komplexitätsreduktionen: Sie haben die Funktion, einen Ausgangspunkt zu bilden, um praktische Handlungsfähigkeit herzustellen, deshalb sind sie wichtig. Auch wenn wir Beschwerde, Beteiligung und subjektive Rechte ausdrücklich begrüßen, fragen wir aus der Effektivitätsperspektive zuerst nach dem, was wirkt und wie in erster Linie Gelegenheitsstrukturen geschaffen werden können, die auch gelingende Arbeitsbeziehungen praktisch wahrscheinlicher machen (vgl. Müller/ Schwabe 2009, 29). Wir führen so auch unsere Fachkräfte im organisationalen Kontext. Alltagsnahe Begleitung kann nicht professionell sein, wenn sie die Anlässe und Gelegenheiten dem Zufall überlässt, statt alltagsnahe realistische Settings 76 uj 2 | 2025 Ein Blick aus der Praxis eines Jugendhilfeträgers zu schaffen (ebd.). Es macht auch einen großen Unterschied, ob und wie die darin festgelegten Bedingungen und Spielräume realistisch aufgegriffen, gestaltet und genutzt werden (ebd.). Überlässt man diese Fragen (jugendlichen) Hilfeadressat: innen, überfordert man diese. Sie müssen deshalb besonders zu Beginn einer Hilfe und vor allem von den Fachkräften professionell gestaltet und definiert werden, um überhaupt einen Ausgangspunkt für Beteiligung herzustellen. Haltung, Werte - oder doch Kultur Die Werte einer Organisation bilden den Kontext, aus dem sich eine Haltung bildet, ableitet oder verstärkt. Diese ist im Alltag mit den Hilfesuchenden wirksam. Die von der Organisation an die Fachkraft gestellten Anforderungen dienen als Referenzpunkt. Werte können Verhalten nicht direkt steuern, aber Menschen verhalten sich entsprechend zu diesen Werten. Aus der Organisationstheorie ist bekannt, dass diese Werte sich in kulturellen Mustern manifestieren, die ihrerseits nur schwer benennbar sind - allenfalls ihre Artefakte sind sichtbar (Kühl 2018). Kultur ist wie ein Eisblock: Die Größe, Struktur und der gesamte Charakter sind nicht auf den ersten Blick erkennbar. Kultur besteht aus unausgesprochenen Regeln, die wie selbstverständlich verfolgt werden, ohne dass sie irgendwo festgeschrieben stehen. Sie sind wie unsichtbare Gesetze. Verinnerlicht wurden diese von sog. Insidern oder Kulturträger: innen (ebd.), die deshalb eine wichtige Rolle in Organisationen spielen, sofern man Intelligenz in ein System transformieren und nicht in den einzelnen Köpfen gut ausgebildeter Expert: innen isoliert belassen möchte. Die erste Strategie ist deshalb, Menschen, die neu ins Feld der Suchtarbeit kommen, mit sog. Kulturträger: innen zusammenzubringen. Kulturträger: innen sind meist lange in der Organisation, haben verschiedene Phasen durchlaufen und eine lange Lerngeschichte - die auch am „Rande des Scheiterns“ - durchlaufen. Ein Schlüssel ist es, Kontexte zu schaffen, in denen bildende Kontakte für die Fachkraft lebensweltorientiert ablaufen, etwa in der Pause, an der Kaffeemaschine, durch Beobachtung im Büro, durch gemeinsame Dienste oder auch rein formell bei Hilfeplangesprächen. Haltung ist wichtig - ohne Wissen wertlos Seine eigene feste Position zum Thema Sucht zu finden, vermittelt Handlungssicherheit. Es versetzt in die Lage, die der süchtigen Dynamik innewohnenden Beziehungsfallen rechtzeitig wahrzunehmen und somit gar nicht erst hineinzutappen. Es ist ein fundamentaler Kunstfehler, seine innere Haltung gegenüber Sucht und Drogen nicht ebenso frühzeitig wie sicher durch Selbstreflexion zu klären (Kuntz 2016, 126f ). Das Wort Haltung wird im Feld der Sozialen Arbeit jedoch mittlerweile inflationär verwendet und oft wie ein Zauberspruch auf alle möglichen Problemlagen angewandt. Spätestens am Ende einer fachlichen Diskussion fällt es als „das Entscheidende“, „das Wichtigste“ oder als „die Basis“. Auch wenn es mittlerweile Bücher gibt, die sich nur diesem Thema widmen - das Wort Haltung ist höchst weitläufig und muss doch immer definiert werden: Welche Haltung ist gemeint? Und wie lässt sie sich (im organisationalen Kontext) etablieren, abseits von abstrakten Begrifflichkeiten? „Rechts sein“ zum Beispiel ist auch eine klare Haltung, die auf Werten basiert… Haltung allein bedeutet weder Qualität noch ist sie hinreichend definiert und wird viel zu oft zu allgemein gehalten. Sie wird an jener Stelle der Organisation interessant, an der eine Haltung konkret untersetzt werden muss. Ohne untersetztes Wissen ist eine Haltung unbrauchbar, denn einem Suchtkranken hilft eine zugewandte Haltung allein wenig. Soziale Arbeit aus dem Bauch heraus ist zu wenig, um 77 uj 2 | 2025 Ein Blick aus der Praxis eines Jugendhilfeträgers Bedarfe fachgerecht einzuschätzen und zu behandeln. Professionelle Fachkräfte müssen vor allem professionell handeln. Diese Professionalität muss organisational definiert werden, da sie sonst bei etwas diffusem wie„Bauchgefühl“ (i. V. mit „Haltung“) endet oder von einzelnen Personen je nach Studienrichtung definiert wird. Professionalität - so unsere Haltung, macht sich nicht nur an einer Ausbildung oder dem Bauchgefühl fest, sondern auch an der konkreten Anwendung von Technik und Methodik sowie theoretischem Unterbau. Mitarbeitende, frei nach Seithe (2010) sowie Conen und Ceccin (2022), sollen in die Lage versetzt werden, 1. mit fachlichem Wissen, 2. ihrer Erfahrung und 3. ihren Kenntnissen über wissenschaftliche Theorien das vorliegende Problem a) richtig einzuordnen. Sie müssen b) Hypothesen entwickeln, woher das Problem rührt, c) mit welchen Aspekten es zusammenhängt (Diagnose). Sie müssen d) Hypothesen darüber bilden, wie das Problem beseitigt werden kann (Intervention). Interventionen müssen wiederum koordiniert und vernetzt sein, wobei die Handlungsschritte sehr unterschiedlich ausfallen, z. B. rechtlicher Sachverhalt, Stärkung von Selbstvertrauen, Strategien im Umgang mit Suchtdruck etc. Sie sollen Expert: innen des Dialogs und der Vermittlung sein und haben Kenntnisse über die jeweilige Lebenswelt. Sie sind Profis im Durchsetzen und Organisieren von Hilfen, Dienstleistungen und Unterstützungssystemen (Seithe 2010, 43). An dieser Stelle darf daran erinnert werden, dass Expertentum aktuell aus der Mode ist. Laut Kritiker: innen trägt es zur Versäulung von Angeboten bei, steckt Klient: innen in Schubladen, orientiert sich nicht mit Offenheit an Klient: innen und ist angeblich bevormundend. Als ein Element, um Fachkräfte in diese Lage zu versetzen, professionell und als Expert: innen zu handeln, sind folgende von uns in der Praxis weiterentwickelte Standards die Basis professioneller Handlungen im Feld: ein erweiterter Kinderschutzbogen, sozialpädagogische Diagnostik, ein Zeitstrahl, terminierte und vorher festgelegte Fallberatung, ein cleaner Schutzraum, das therapeutische Milieu im stationären Kontext. Im organisationalen Kontext setzen wir damit gleichzeitig eine Erwartung an die Fachkräfte, an der sie sich orientieren können. Fachwissen schützt sehr gut vor Trends - meist im medialen Kontext, weil Menschen auf einem Fundament fester Überzeugungen stehen. Damit soll auch vermieden werden, dass Fachkräfte im Feld die Hauptrolle in ihrem eigenen „Heimatfilm“ spielen und dies am Ende noch als lebensweltorientiert oder „Haltung“ verkaufen, etwa durch folgende Denkweisen: „Bei meinen Kindern zu Hause mache ich das auch immer so“ oder „Uns hat das auch nicht geschadet“. Solche Standards und klare Erwartungen schützen Adressat: innen vor derart dilettantischer gut gemeinter Hilfe. Eine Haltung lässt sich nicht verordnen. Es ist jedoch möglich, im Organisationskontext Werte zu setzen, welche kontinuierlich verstärkt und von der Fachkraft erwartet werden können, um diese wahrscheinlich werden zu lassen. Support und Sicherheit Zu qualitativen Standards gehören auch jene, die nicht nur durch einen vermeintlich sozialraumorientierten und Expertentum abgewandten Trend in der Sozialpädagogik („alle Hilfen aus einer Hand“) hinterfragt werden, sondern auch die, die durch Kosten- und Spardruck gefährdet sind. Dazu gehört zum Beispiel eine Co-Betreuung in der ambulanten Familienhilfe, die zu unseren mit dem Kostenträger verhandelten Standards gehören. Jedoch bedeuten sie regelmäßig Streit, vor allem mit der wirtschaftlichen Jugendhilfe. Pädagog: innen müssen, um sicher handeln zu können, die Leitung und Führung auf ihrer Seite haben, wenn sie im Sinne der Klient: innen auftreten. Dazu gehört auch die Haltung, sich 78 uj 2 | 2025 Ein Blick aus der Praxis eines Jugendhilfeträgers mit Kostenträgern auseinanderzusetzen und zu wissen, dass die Geschäftsführung generell und vor allem in Grundsatzfragen parteiisch auf ihrer Seite steht. Die Fachwelt begnügt sich oft damit, Parteilichkeit gegenüber Klient: innen zu fordern und übersieht dabei häufig, dass Fachkräfte genauso auf Parteilichkeit ihrerseits von der Geschäftsführung angewiesen sind, um sicher zu handeln. Unsere These lautet, dass es fast ausgeschlossen ist, partizipative Konzepte in der Jugendhilfe umzusetzen, wenn Mitarbeitende kaum dauerhafte und feste Entscheidungsspielräume zugestanden bekommen, wie es für Expert: innen üblich sein sollte. Das führt zu einem weiteren wichtigen Punkt: (strukturelle) Beteiligung. Beteiligung und nicht-direktive Einflussmechanismen Struktur und Standards sind wichtig, weil sie einen klaren Rahmen bilden. Gesetzte Werte, aus denen eine konkrete Haltung sicher eingebettet ist, müssen klar (und kontinuierlich) vermittelt sein. Um Mitglieder zum Organisationshandeln im Sinne klarer fachlicher Standards zu bringen, müssen Fachkräfte auch davon überzeugt sein. Die Organisation ist nämlich darauf angewiesen, dass die Menschen, die ihr angehören, einen Teil der für ihre Entscheidungen notwendigen Entscheidungsprämissen im Alltag selbstständig setzen - im Sinne von „Sinn steuert“ als systemischer Gedanke. An dieser Stelle lassen viele Organisationen ihre Mitglieder allein. Unsere Haltung gegenüber Fachkräften ist, dass sie grundsätzlich Träger: innen von Spezialwissen sind: Spezialwissen im Suchtkontext, in der Hauswirtschaft, in der Kenntnis von Menschenrechten, als Fallführende in der konkreten Arbeit. Wenn Fachkräfte jedoch qualitativ arbeiten sollen, brauchen sie neben eigenem Talent und einer Ausbildung (hier hören die meisten Organisationskonzepte auf ) einen festen Rahmen zur Orientierung, Sicherheit durch Parteilichkeit und gesetzte Werte sowie konkrete Konzepte, an denen sie ihr Handeln ausrichten können, die über ein Leitbild hinausgehen. Beteiligung am eigenem Entscheidungsbereich, die auf die Selbstwirksamkeit der Fachkräfte abzielen, sind für uns daher Grundvoraussetzung - auch wenn das für Leitungen anstrengender ist als die Abkürzung durch die Hierarchie. Dies wird strukturell zugestanden und nicht nur situativ: Wir sehen die Fachkräfte als Expert: innen und behandeln diese so. Dies beinhaltet nicht nur ein gut gemeintes Recht, sondern vermittelt eine ganz klare Anspruchshaltung gegenüber den Fachkräften, sich zu Expert: innen zu entwickeln und Entscheidungen zu treffen und zu verantworten. Um zu gewährleisten, dass die Entscheidungsprämissen im Sinne einer qualitativen suchtspezifischen Haltung ausfallen, müssen sich Organisationen sog. nicht-direktiver Einflussmechanismen bedienen, etwa: Standards, Schulung, Beratung, Fortbildungen (Berger et al. 2014, 129). Anders als im klassischen Herrschaftsmechanismus schreiben diese Vorgehensweisen den Beschäftigten ihr Verhalten nicht vor, sondern versuchen durch Schulung und Beeinflussung, welche eng mit den Werten und der Kultur verknüpft ist, zum selbstständigen Handeln im Organisationsinteresse zu bewegen (ebd.). Dahinter liegt eine Annahme, die sich grundlegend von einer BWL-orientierten Ablauforganisation unterscheidet: Systeme sind nicht steuerbar und die Reichweite von Kontrolle und Überprüfung von Leitung sind sehr begrenzt, was den konkreten Arbeitsalltag der Fachkraft betrifft. Diese Erkenntnis setzt Fachwissen und klare Theorien über die Funktion von Organisationen voraus. Globale Einarbeitung und trägerinternes Suchtcurriculum Um Einsteiger: innen optimal vorzubereiten, bieten wir ein sog. globales Einarbeitungssystem. Zwei Veranstaltungen zielen auf Empower- 79 uj 2 | 2025 Ein Blick aus der Praxis eines Jugendhilfeträgers ment und Selbstwirksamkeit in der Arbeit mit Klient: innen ab. Die zweite Veranstaltung ist ein Curriculum zur professionellen Haltung und Standards. Hier werden jeweils ein ambulanter und ein stationärer Jugendhilfefall in ihren Einzelheiten und Hintergrundmethodik analysiert. Die angewendeten Standards werden detailliert erklärt, kritisch diskutiert und begründet. Das Herzstück bildet unser Suchtcurriculum. Grundlage hierfür sind zwei Bücher, die zu gleichen Teilen in fünf Leseeinheiten aufgeteilt sind. Eines davon ist medizinisch/ technisch, das andere gesellschaftlich/ kritisch ausgerichtet. Die Mitarbeitenden nehmen in Kleingruppen von neun Personen teil. Nach jeder Leseeinheit findet eine gemeinsame Reflexion statt. Mitarbeitende können sich ihre Lesezeit frei einteilen und erhalten hierfür bezahlte Arbeitszeit. Die Einheit befasst sich settingintern mit einer Auseinandersetzung der Standards im jeweiligen Einzelprojekt. Angereichert ist das Curriculum mit zwei Filmen, die jeweils Teil der Einheiten sind, sowie einer siebenstündigen Schulung mit einer Suchttherapeutin. Der qualitative Aspekt besteht in den Beiträgen von Dozentinnen, die an den neuralgischen Stellen den wichtigen Austausch und Vernetzungsaspekt anstoßen, sowie in den sich aufeinander beziehenden Beiträgen der Teilnehmenden. Da das Suchtcurriculum auf aktive Mitwirkung ausgelegt ist, rechnen wir diesen Effekt gezielt ein. Als Organisation holen wir uns am Ende aktives Feedback ab und verbessern die Strukturen, Inhalte und Methodik kontinuierlich. Das Endprodukt reagiert damit nicht nur auf eigene Ansprüche und die in den Jahren zuvor formulierten Bedürfnisse von Fachkräften, die direkt im Feld unterwegs sind, sondern es ist ein prozesshaftes Endergebnis unter der Beteiligung vieler Talente (Organisation und Fachwissen) im Sinne einer intelligenten Organisation. Das Curriculum wird seit 2019 jedes Jahr durchgeführt und richtet sich an Einsteiger: innen, Wiederkehrer: innen und Arbeitsfeldwechsler: innen. Meist besteht es aus zwei Gruppen. Da dies unter bezahlter Arbeitszeit erfolgt, muss sich eine Organisation dies leisten wollen - derzeit gibt es pro Fachkraft im Dresdner Raum 250 Euro inklusive Supervision (nur für Erzieher: innen und Sozialpädagog: innen). Deutlich zu wenig! „So ist das nun mal bei uns“: Das reicht einer neuen Generation nicht mehr aus - zu Recht! Bei den Kolleg: innen im Team und innerhalb der Schulung werden kritische Fragen mitbehandelt. Diese sind jederzeit willkommen - das gehört ebenfalls zur Haltung und zu unserer Kultur. Umgang mit Cannabislegalisierung Über Sinn und Unsinn des Gesetzes ist viel geschrieben und berichtet worden und soll an dieser Stelle außen vorgelassen werden. Soziale Arbeit ist - auch wenn der Anspruch gern ein anderer wäre - eine reagierende Profession ohne Lobby, die zu wenig bis gar nicht gehört wird. Sie nimmt ihren Platz daher im Aufkehren der Scherben gesellschaftlicher Schieflagen und dem Versagen anderer Bezugssysteme ein. Dabei soll nicht unterschätzt werden, dass auf der Einzelfallebene Menschen geholfen werden kann, ein gesellschaftliches Leben zu führen oder ihre Rechte wahrzunehmen. Sie ist wirksam und oft klug, hat jedoch große Probleme, dies zu zeigen und leidet an mangelndem Selbstbewusstsein. Unsere Suchtarbeiter: innen sind im Kontext ihrer gesellschaftlichen Position häufig medial unterstützten und politischen Trends ausgesetzt. Sie müssen dort, sich selbst und den Klient: innen gegenüber eine Position finden, um nicht als „sozialpädagogischer Wackelpudding“ zu enden oder zu „schwimmen“ - nicht nur gegenüber Klient: innen, sondern auch gegenüber Ämtern, Kostenträgern und der eigenen Leitung. Eine Haltung, die auf Wissen basiert, ist eine Entscheidung. Nur Entscheidungen stellen situative Sicherheit her, welche eine Arbeitsbasis ermöglicht. Sie muss überprüft werden - je- 80 uj 2 | 2025 Ein Blick aus der Praxis eines Jugendhilfeträgers doch im strukturellen Kontext und nicht bei jedem Gegenwind oder Widerspruch im Alltag gleich in sich zusammenfallen. Cannabis nimmt in der Einschätzung von Legalisierungsbefürworter: innen einen Sonderplatz ein, weil es zu natürlichen Drogen gerechnet wird und die Wirkungen besser beherrschbar erscheinen (Kuntz 2016, 179ff ). Sie sei auch nicht so schlimm wie Alkohol - warum soll also das Trinken von Bier akzeptiert sein, aber es ist verboten, einen Joint zu rauchen? Da Cannabis als weiche Droge gilt, wird ihr Risiko schlichtweg sträflich unterschätzt. Vor dem Hintergrund heutiger Drogenrealitäten macht es überhaupt keinen Sinn, Cannabis als weiche Droge zu bezeichnen (ebd.). Wenn Konsument: innen mit der Substanz nicht umzugehen wissen, wird sie zum Risiko. Vorwiegend wird Cannabis aus hedonistischen Gründen konsumiert: Spaß und Entspannung sind Motive (ebd.). Aber auch Langeweile, Orientierungslosigkeit sowie Probleme aller Art lassen Menschen zu Cannabis greifen. Es setzt ein hohes Maß an zusätzlichen allgemeinen wie drogenspezifischen Lebenskompetenzen voraus, Cannabis nicht nur im Prinzip, sondern im realen Konsum tatsächlich zu beherrschen. In dieser Hinsicht neigen daher viele Gebraucher: innen zur Selbstüberschätzung, auch jene, die es erst nach dem 18. Lebensjahr konsumieren (ebd., 181). Cannabis ist insbesondere deshalb ein Thema in der Jugend- und Erwachsenenhilfe - und wird es schätzungsweise in Zukunft verstärkt sein. Insbesondere deshalb, weil die Kommunen unter Kostendruck zunächst jene Programme streichen, die auf Prävention setzen, wie man am Beispiel der Stadt Dresden gut beobachten kann (MDR Sachsen 2024). Gerade wir als professionelle Helfer: innen kommen in der suchtspezifischen Jugendhilfe dann zum Einsatz, wenn diese schädlichen Gebrauchsmuster z.T. über Jahre auftreten oder Cannabis in Form von Suchtverlagerung sichtbar wird. Legaler Alkohol und Medikamente in Form von Missbrauch sind ebenfalls in hohem Maß vertreten und deshalb Themen in unseren Hilfen. Das wird auch mit der Teillegalisierung von Cannabis nicht anders. Die nur sehr kurze Verunsicherung zur Teillegalisierung ist deshalb schnell verflogen. Was geblieben ist, ist das Kopfschütteln über Cannabisclubs, 30 Gramm pro Person, die Polizei, die daher mit Waagen unterwegs ist, oder drei Pflanzen pro volljährige Person. Die qualifizierte Specialworkerrunde „Sucht“, die sich fünfmal im Jahr organisationsübergreifend trifft und in den Settings dafür zuständig ist, dass Suchtstandards eingehalten und Fragestellungen weiterentwickelt werden, hat in ihrer Runde eine Stellungnahme zur Haltung und zum Umgang mit Cannabis entwickelt. Hier lassen sich gut die beschriebenen Grundsätze erkennen: Beteiligung, Sicherheit, Standards, Auseinandersetzung, Wissensebene sowie der Organisationskontext. Diese Arbeit ist anstrengend und ressourcenintensiv, weil sie immer wieder eine Auseinandersetzung mit der Thematik beinhaltet. Jedoch ist sie nach unserer Überzeugung wirksam und nachhaltig. Die Thematik ist gesondert und auf dieser Grundlage in das Suchtcurriculum und die Handreichung für neue Mitarbeitende eingefügt worden und nun verstärkt Grundlage im bereits beschriebenen Curriculum. Am 20. 4. 2023 haben wir eine freiwillige trägerinterne Runde (Bereitstellung von Arbeitszeit) von Mitarbeitenden angesetzt. Das Konzept sah vor, dass zwei Suchttherapeutinnen jeweils einmal die Befürwortung von Cannabis und deren Vorteile und einmal die jeweilige Gegenposition vertraten. Grundlage war außerdem ein Interview mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt und Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl vom Deutschlandfunk aus dem Jahre 2023, welches im Vorfeld gesendet wurde. Ziel war es, unsere Haltung und das Grundlagenpapier kritisch auf den Prüfstand unter den neuen Voraussetzungen zu stellen und gleichzeitig entsprechende Anregungen zu schaffen, um Mitarbeitende - auch emotional - zu bewegen. Freie und offene 81 uj 2 | 2025 Ein Blick aus der Praxis eines Jugendhilfeträgers Kritik, kulturelle Auseinandersetzung und Dialog haben dabei nicht nur zu Wissensgewinn und Vernetzung geführt, sondern auch zur Überarbeitung unseres Standards. Im Grunde bleibt das über 20 Jahre erarbeitete organisationale Fundament, welches im zweiten Kapitel beschrieben wurde, die Basis. Diese Basis ist es auch, auf die sich immer wieder bezogen wurde - wider alle restriktiven Trends. Nochmal: Entscheidend sind nicht die Etiketten der verfolgten Arbeitsansätze, sondern die menschlichen wie fachlichen Qualitäten derjenigen, welche die Arbeit umsetzen (Kuntz 2016, 127), sowie der organisationale Kontext, in dem sie sich befinden. Das bedeutet konkret, welche Werte vertreten, welche Ressourcen bereitgestellt werden und wie fest und sicher sich Fachkräfte situativ fühlen können, strukturelle Orte zu schaffen, an denen sie mit Unsicherheiten im Feld fachliche Zuflucht und Sicherheit finden. Wie das gelingen kann, wurde hier in seinen Grundzügen versucht darzustellen. Das ist unser Weg, unsere Haltung und das sind unsere Werte, die auch bestehen, wenn der Wind sich einmal dreht, die nie fest und unverrückbar sind, aber dennoch ein wichtiger Bezugspunkt, um professionell handlungsfähig zu sein und zu bleiben. Felix Keil Leipziger Str. 26 01127 Dresden Literatur Berger, U., Bernhard-Mehlich, I., Oertel, S. (2014): Die Verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie. In: Kieser, A., Ebers, M. (Hrsg.): Organisationstheorien. Kohlhammer, Wiesbaden, 118 - 163 Conen, M.-L., Ceccin, G. (2022): Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden? Therapie und Beratung mit unmotivierten Klienten und in Zwangskontexten. Carl-Auer, Heidelberg Graeber, D. (2017): Bürokratie: Die Utopie der Regeln. Goldmann, München Kühl, S. (2018): Organisationskulturen beeinflussen. Eine sehr kurze Einführung. Springer, Wiesbaden Kuntz, H. (2016): Drogen und Sucht. Ein Handbuch über alles, was Sie wissen müssen. Beltz, Weinheim/ Basel MDR Sachsen (2024, 6. November): Dresdens Sozialeinrichtungen droht Kahlschlag. In: Tagesschau. https: / / www.tagesschau.de/ inland/ regional/ sachsen/ mdr-dresdens-sozialeinrichtungen-droht-kahlschlag- 100.html, 15. 11. 2024 Meysen, T. (2021): Kinderrechte-basierter Ansatz in der Kinder- und Jugendhilfe: ein reflexives Plädoyer. In: Scheiwe, K., Schröer, W., Wapler, F., Wrase, M. (Hrsg.): Der Rechtsstatus junger Menschen im Kinder- und Jugendhilferecht. Beiträge zum ersten Forum Kinder- und Jugendhilferecht. Nomos, Baden-Baden, 105 - 120 Müller, B., Schwabe, M. (2009): Pädagogik mit schwierigen Jugendlichen. Ethnografische Erkundungen zur Einführung in die Hilfen zur Erziehung. Juventa, Weinheim/ München Nüsken, D., Wedermann, S. (2024): Grundrechte junger Menschen als Ausgangspunkt. Fluchtpunkte in der Diskussion zum Fachkräftemangel in den Erziehungshilfen. In: Franz, J., Spatscheck, C., van Rießen, A. (Hrsg.): Fachkräftemangel und De-Professionalisierung in der Sozialen Arbeit. Analysen, Bearbeitungsweisen und Handlungsstrategien. Barbara Budrich, Opladen/ Berlin/ Toronto, 235 - 251 Reinhardt, K., Müller-Vahl, K. (2023, 5. Oktober): Legalisierung von Cannabis. Überfällig oder gefährlich? [Podcastfolge]. 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