eJournals unsere jugend 77/3

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2025.art15d
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2025
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"Ich bin ja gar nicht die Einzige, wo der Papa in Haft ist"

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2025
Clara Sartingen
Niklas Helsper
Jährlich sind in Deutschland bis zu 100.000 Kinder von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen – ein Thema, das bei der Gestaltung von Unterstützungsangeboten bisher zu wenig Beachtung findet. Das Forschungsprojekt „Kinder von Inhaftierten“ beleuchtet die emotionalen, sozialen und finanziellen Herausforderungen dieser Familien und gibt Einblicke in die Wirkung familienorientierter Unterstützungsangebote. Erste Auswertungen zeigen vielversprechende Ergebnisse.
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123 unsere jugend, 77. Jg., S. 123 - 133 (2025) DOI 10.2378/ uj2025.art15d © Ernst Reinhardt Verlag von Clara Sartingen Jg. 1993; M. A. Forschung & Entwicklung in der Sozialpädagogik, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) Niklas Helsper Jg. 1986; M. A. Sozialmanagement, Fachbereichsleitung Eingliederungshilfe und Gesundheitswesen im Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) „Ich bin ja gar nicht die Einzige, wo der Papa in Haft ist“ Forschungsbericht über die Lebenslagen von Kindern inhaftierter Eltern(teile) und die Evaluation familienorientierter Unterstützungsangebote Jährlich sind in Deutschland bis zu 100.000 Kinder von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen - ein Thema, das bei der Gestaltung von Unterstützungsangeboten bisher zu wenig Beachtung findet. Das Forschungsprojekt „Kinder von Inhaftierten“ beleuchtet die emotionalen, sozialen und finanziellen Herausforderungen dieser Familien und gibt Einblicke in die Wirkung familienorientierter Unterstützungsangebote. Erste Auswertungen zeigen vielversprechende Ergebnisse. Kinder von Inhaftierten, eine besonders vulnerable Personengruppe, sind im Fachdiskurs der Kinder- und Jugendhilfe bislang kaum repräsentiert und gelten als „Nischenthema“. Dabei sind laut der Auridis Stiftung jährlich bis zu 100.000 Kinder in Deutschland von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen. Studien zeigen, dass Kinder die Inhaftierung ihres Elternteils besser verkraften, wenn sie Zugang zu vielfältigen Unterstützungssystemen (familiär oder professionell) haben und der Kontakt zum inhaftierten Elternteil erhalten bleibt bzw. gefördert wird (Feige 2024). Bisher gibt es im deutschsprachigen Raum jedoch erst wenige Studien, die explizit die Situation und Bedarfe dieser Kinder untersuchen und die existierenden Unterstützungsangebote beleuchten (Feige 2019, Zwönitzer 2017, Bieganski 2013). Eine aktuelle Erhebung des Deutschen Menschenrechtsinstituts zu „Kontaktmöglichkeiten zwischen Kindern und ihren inhaftierten Eltern“ verdeutlicht, dass Kooperationen zwischen öffentlichen und freien Trägern der Kin- 124 uj 3 | 2025 Lebens- & Bedarfslagen von Kindern inhaftierter Eltern der- und Jugendhilfe und dem Justizvollzug bislang kaum bestehen. Justizvollzugsanstalten bieten familienorientierte Unterstützungsangebote (z. B. Langzeitbesuche oder Eltern- Kind-Gruppen) in der Regel mit Unterstützung des anstaltsinternen Sozialdienstes oder der Seelsorge an, Kooperationen mit externen Trägern sind jedoch selten (Feige 2024, 46). Forschungsfragen und Zielsetzung des Projekts „Kinder von Inhaftierten“ Das Forschungsprojekt „Kinder von Inhaftierten“ knüpft an aktuelle Forschungsergebnisse an und untersucht die Situation und Bedarfe von Kindern inhaftierter Eltern. Das Forschungsdesign umfasst quantitative und qualitative Befragungen von Betroffenen (inhaftierte Eltern, nicht-inhaftierte Elternteile und deren Kinder) in sechs Bundesländern: Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen. Ziel ist es, empirisch belegte Erkenntnisse über die Lebenslagen betroffener Familien und die vorhandenen Unterstützungsangebote zu gewinnen. Die zentralen Fragestellungen sind in drei Zieldimensionen untergliedert: 1. Wissen über die Lebenslagen von Familien, in denen ein Elternteil inhaftiert ist. 2. Wissen über bestehende Angebote für diese Familien. 3. Wissen über die spezifischen Bedarfe der Kinder in diesen Familien. Die zugehörigen Forschungsfragen sind: ➤ Welche Unterstützungsbedürfnisse haben betroffene Familien und insbesondere die Kinder? ➤ Welche Angebote gibt es für diese Familien innerhalb und außerhalb der Haftanstalten? ➤ Welche Maßnahmen in Haftanstalten zielen speziell darauf ab, familienorientierte Effekte (z. B. Stärkung der Eltern-Kind- Bindung) zu fördern? ➤ In welchem Umfang werden die Angebote innerhalb und außerhalb der Haftanstalten genutzt? ➤ Welche Wirksamkeit zeigen die vorhandenen Angebote? Untersuchungsdesign Für die quantitative Erhebung wurden über die beteiligten Justizvollzugsanstalten Fragebögen an inhaftierte Eltern mit Kindern unter 21 Jahren ausgegeben, die prinzipiell Kontakt zu ihren Kindern aufnehmen dürfen. Das Sampling umfasst über 500 ausgefüllte Fragebögen. Nicht alle Justizvollzugsanstalten der sechs Bundesländer beteiligten sich am Projekt. Der qualitative Erhebungsstrang wurde von April bis September 2024 durchgeführt. Geplant waren Interviews mit Kindern und Jugendlichen, deren Elternteil zum Zeitpunkt des Interviews inhaftiert ist oder kürzlich inhaftiert war. Falls die Kinder noch zu jung waren, wurden Interviews mit den nicht-inhaftierten Elternteilen geführt. Die Interviewenden wurden traumapädagogisch geschult und konnten die Interviewten im Bedarfsfall fachgerecht unterstützen. Erfolgreiche Zugänge zu den Interviewten gelangen über die Landesfachstellen Netzwerk KvI, die gezielt Personen ansprachen, die bereits an familienorientierten Unterstützungsangeboten teilnahmen oder Beratung erhielten. So konnten Elternteile und junge Menschen erreicht werden, die bereits ein Hilfenetzwerk nutzen. Die Interviews bieten dennoch wertvolle Einblicke in die spezifischen Bedarfe der Betroffenen und zeigen mögliche Lücken im Hilfesystem auf. Ergebnisse Für den vorliegenden Fachartikel wurden insgesamt 18 Interviews geführt, davon sieben mit Kindern, zwei mit jungen Erwachsenen und 125 uj 3 | 2025 Lebens- & Bedarfslagen von Kindern inhaftierter Eltern neun Interviews mit nicht-inhaftierten Elternteilen, deren Kinder jünger als sechs Jahre sind. Bis zum Projektende waren weitere Interviews geplant. Innerhalb der Projektlaufzeit stellte sich jedoch heraus, dass die Zielgruppe sehr schwer zu erreichen war. Viele Interviews kamen nicht zustande, da Termine kurzfristig abgesagt wurden oder Personen nicht mehr erreichbar waren. Oft kommunizierten die Interviewpersonen auch, dass ihnen das Sprechen über die Zeit der Inhaftierung des anderen Elternteils schwerfalle und dass sie - häufig als Alleinerziehende - unter einem großen (zeitlichen) Druck stünden. Diese Erfahrungen können als kleiner erster Blick auf die hohe emotionale Bedeutung des Themas für die Betroffenen sowie deren Belastungen in der Alltagsbewältigung gewertet werden. Die Interviews wurden anonymisiert transkribiert und anlehnend an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring kategorienbasiert ausgewertet. Der vorliegende Artikel soll nun erste Ergebnisse der qualitativen Erhebung vorstellen, welche durch Ergebnisse der quantitativen Fragebögen unterstützt werden. Insbesondere die besonderen Bedarfslagen der betroffenen Kinder und ihnen verfügbare professionelle sowie familiäre Unterstützungssysteme stehen dabei im Erkenntnisinteresse. Des Weiteren bilden die Fragen danach, ob und auf welche Art und Weise in den Familien über die Inhaftierung eines Elternteils gesprochen wird und welche Unterstützungsmechanismen beim innerfamiliären Umgang mit der Inhaftierung und Besuchen in der Haftanstalt von Bedeutung sind, einen Schwerpunkt des Artikels. Die Lebenslagen der betroffenen Familien nach der Inhaftierung Die emotionalen, sozialen und finanziellen Situationen der betroffenen Familien sind sehr heterogen und stark davon abhängig, welche Beziehungsqualität sie vor der Inhaftierung zum inhaftierten Elternteil hatten. In den Interviews sprechen die Betroffenen von starken Gefühlen der Einsamkeit und Scham bzw. einer Angst vor Stigmatisierungen aufgrund der Inhaftierung. Bei ihren Kindern nehmen sie häufig eine immer wiederkehrende Traurigkeit und Verlustängste wahr. In einigen Fällen haben die Kinder auch selbst die Inhaftierung des Elternteils miterlebt und leiden daher in besonderem Maße unter den Erfahrungen. In einem Fall wird etwa davon berichtet, dass das Kind nach diesem Erlebnis für einige Zeit seine Sprachfähigkeit ‚verlor‘ und verstummte. Eine junge Frau, die von der Inhaftierung ihres Vaters betroffen ist, berichtet gleichzeitig auch von dem Gefühl eines Vertrauensbruchs und einer inneren Distanzierung zum Elternteil. Auch Loyalitätskonflikte und innerfamiliäre Abhängigkeiten (beispielsweise durch eine traditionelle Rollenverteilung) beschäftigen die Familien nach der Inhaftierung stark und haben einen hohen Einfluss auf deren Wohlergehen. Viele sind auf einer finanziellen Ebene sehr herausgefordert und müssen sich beruflich schnell neu orientieren oder staatliche Unterstützung beantragen, um den gewohnten Lebensstandard halten zu können oder einem sozialen Abstieg entgegenzuwirken. Familiäre und freundschaftliche Unterstützungssysteme Nach der Inhaftierung eines Elternteils muss sich das ganze Familiensystem häufig neu organisieren. Insbesondere die Kommunikation über die Tat und den Aufenthaltsort des inhaftierten Elternteils wirkt sich auch auf familiäre und freundschaftliche Beziehungen aus. Die Betroffenen berichten, nur wenigen ausgewählten Freund: innen und Bekannten von dem Gefängnisaufenthalt des anderen Elternteils erzählt zu haben. Oft spielen Scham und Einsamkeit, aber auch eine hohe Loyalität zum inhaftierten Elternteil hierbei eine Rolle. Auch innerhalb der Familie kann der Umgang mit der Inhaftierung (die für die betroffenen Familienmitglieder oft ungeahnt und aus heiterem Himmel geschah) sehr unterschiedlich aussehen: 126 uj 3 | 2025 Lebens- & Bedarfslagen von Kindern inhaftierter Eltern „Jeder ist auch irgendwie anders damit umgegangen in der Familie. Also jeder hat da seinen eigenen Weg gefunden. Der eine hat sich zurückgezogen, der andere ist wütend geworden, der andere hat besucht, der andere nicht. Und da ist natürlich auch innerhalb der Familie viel Spannung gekommen. Weil manche dann auch so dieses Team Papa, Team Mama - was ist jetzt wahr, was nicht? Und wem kann ich jetzt noch was glauben und so? Ja, das ist natürlich schwierig gewesen dann.“ Sarah*, junge Erwachsene * Name geändert Andere Interviewte berichten, dass die Inhaftierung des anderen Elternteils oft für Stress innerhalb der Familie sorgte - auch weil viel Organisatorisches auf den Schultern des nicht-inhaftierten Elternteils landete. Für freundschaftliche Beziehungen blieb dann oft keine Zeit mehr: „Ich hatte so viel Stress, ich hatte keine mehr Kopf für andere Sachen (…). Weißt du, dann gehst du da, dann musst du wieder erzählen. Dann wenn jemand sagt, du musst wieder erzählen und andere Leute fragen so und so. Und dann, ich hatte keine Kraft mehr. Sagte dann nein, ich will lieber nicht so viel, ich bleibe zu Hause. Ich bin beschäftigt. Ich habe Kinder, wie andere auch. Also ich war immer beschäftigt mit Kindern dann, seit er weg ist.“ Frau Ott*, Mutter eines dreijährigen Sohnes * Name geändert Doch das private Umfeld kann auch ein wichtiger Unterstützungsfaktor sein. So wurde in den Interviews beispielsweise von guten Freund: innen berichtet, die teilweise die Elternrolle mitübernehmen oder einspringen, um die Kinder zur Schule und in den Kindergarten zu bringen, und unterstützen, wenn der andere Elternteil erkrankt ist. Besonders die jungen Menschen berichten davon, es als entlastend zu empfinden, mit Freund: innen über die Inhaftierung des Elternteils zu sprechen. Einige haben selbst auch Freund: innen, die Ähnliches erlebten und mit denen somit ein Austausch auf Augenhöhe stattfinden kann. Hier wird von einem hohen Verständnis im Freundeskreis berichtet, ein Ausschluss aus der Gemeinschaft findet bei den geführten Interviews nicht statt. Anders sieht es bei Klassenkamerad: innen oder auf dem Schulhof aus. Hier verschweigen die Betroffenen oft, dass ihr Vater oder ihre Mutter inhaftiert wurde - aus Angst vor negativen Kommentaren oder Mobbing: „Nur ganz, ganz wenigen. Nur meine besten Freunde wissen Bescheid. Sonst weiß es eigentlich niemand von meinen normalen Freunden. (…) Die haben gesagt, dass sie das auch blöd finden (…) und sie haben mir auch Glück gewünscht, dass mein Papa wieder rauskommt. Und dann hat mir eines Tages jemand auch Glück gewünscht und dann ist mein Papa wirklich rausgekommen. Sonst habe ich sonst niemandem erzählt.“ Sebastian*, 7 Jahre * Name geändert In Bezug auf innerfamiliäre Unterstützungssysteme ergibt sich bei den geführten Interviews ein sehr heterogenes Bild. Einige Interviewte berichten von einer hohen Unterstützung im (erweiterten) Familienkreis, beispielsweise durch die Großeltern oder Tanten und Onkel, welche die Kinder regelmäßig betreuen und somit die zuverlässige Erwerbsarbeit des nicht-inhaftierten Elternteils auch ermöglichen bzw. gewährleisten können. Außerdem werden Besuche in der Haftanstalt mit Unterstützung der Familienangehörigen organisiert, beispielsweise wenn weite Wege zurückgelegt oder kleine Kinder zur Organisation des Besuchs betreut werden müssen. Wieder andere berichten davon, keine Familienangehörigen in der näheren Umgebung zu haben und somit auf sich allein gestellt zu sein. Professionelle Unterstützungssysteme außerhalb der Haftanstalten Alle Interviewten berichten, dass sie auf die ein oder andere Art und Weise an Beratungsstellen des Netzwerks „Kinder von Inhaftierten“ ange- 127 uj 3 | 2025 Lebens- & Bedarfslagen von Kindern inhaftierter Eltern schlossen sind. Sei es über Eltern-Kind-Gruppen in den Haftanstalten, Angehörigentreffs oder individuelle Beratungsangebote. Weitere professionelle Unterstützungssysteme nutzen die Interviewten in unterschiedlicher Intensität. Einige sind an Hilfemaßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe (beispielsweise eine Familienhilfe) angeschlossen oder nutzen Hilfemaßnahmen des täglichen Bedarfs, wie etwa die Tafel. Einige der Interviewten erhalten auch psychologische Unterstützung. Informationen über spezifische Angebote für Angehörige von Inhaftierten erhielten die meisten direkt aus den Haftanstalten bzw. über die inhaftierten Elternteile. Diese leiteten Flyer oder Informationsmaterialien dazu an die nicht-inhaftierten Elternteile weiter, wodurch der Kontakt hergestellt werden konnte. Insgesamt wird sehr positiv über das Unterstützungssetting berichtet; vor allem von den Angehörigengruppen und der individuellen, zeitnahen Beratung scheinen die Interviewten sehr zu profitieren: „Also ein sehr guter Punkt, weil man muss sich selber kümmern. Also man wird nicht an die Hand genommen. Mein Mann hat mir damals gesagt, der hat mir einen Flyer zugeschickt von der Beratungsstelle. Er ist ja bei denen angebunden und ich habe mich dann auch gleich gemeldet. Wir haben uns dann auch unterhalten und die haben ja in allen möglichen Bereichen erst mal Unterstützung geboten. Die wären zum Beispiel mit mir zum Jobcenter damals gegangen, wäre das nötig gewesen oder so was.“ Frau Müller*, Mutter von siebenjährigen Zwillingen * Name geändert Familienorientierte Unterstützungsangebote und Besuchskontakte innerhalb der Haftanstalten Die Interviewten nehmen verschiedene Angebote innerhalb der Haftanstalten in Anspruch, besonders häufig werden dabei die Eltern- Kind-Gruppe sowie„Langzeitsprecher“ genannt, womit Langzeitbesuche (in der Regel zwei bis vier Stunden) gemeint sind. Die Eltern-Kind- Gruppen in den Haftanstalten werden als positiv und bedeutsam für die Eltern-Kind-Bindung und die Entwicklung der jungen Menschen bewertet. Dort können die Kinder ihre inhaftierten Elternteile regelmäßig sehen und mit ihnen - meist in kindgerecht gestalteten Räumlichkeiten oder Sporthallen - spielen, toben, kuscheln, basteln oder kochen. Begleitet wird die Gruppe von pädagogischen Fachkräften, die auch Beratungsangebote für die Eltern durchführen. Die Kinder profitieren vom regelmäßigen Kontakt zu ihren Elternteilen ebenso wie vom Austausch mit anderen Betroffenen: „Deswegen war ich auch ganz froh gewesen, dass wir halt hier bei der (Beratungsstelle) gelandet sind. Da konnte sie halt auch andere Kinder kennenlernen, wo das halt genauso ist. Nur, dass man dann eben auch sagen kann, sie ist auch relativ offen damit umgegangen, weil wir daraus auch kein Tabu gemacht haben.“ Frau Messner*, Mutter einer achtjährigen Tochter und eines zweijährigen Sohnes * Name geändert Alle Interviewten nehmen außerdem die gewöhnlichen Besuchszeiten in den Haftanstalten wahr, welche jedoch in einer unterschiedlichen Frequenz und Dauer stattfinden. An besonderen Tagen wie Weihnachten oder an den Geburtstagen der Kinder sind in einigen Fällen zusätzliche Besuchstermine möglich. In einem Fall wurden Besuchstermine aufgrund eines Fehlverhaltens des Inhaftierten untersagt und das Kind durfte dadurch einige Zeit keinen Kontakt zum Vater ausüben. Auch in einem weiteren Interview ist das ‚Mitbestrafen‘ der Kinder Thema: „Es wird überhaupt nicht geschaut, was passiert eigentlich mit den Angehörigen? Was passiert mit den Kindern? Also wir werden automatisch mitbestraft, obwohl wir damit überhaupt nichts zu tun haben.“ Frau Weber*, Mutter einer zweijährigen Tochter * Name geändert 128 uj 3 | 2025 Lebens- & Bedarfslagen von Kindern inhaftierter Eltern Eine regelmäßige und zuverlässige Besuchsmöglichkeit in der Haftanstalt beim inhaftierten Elternteil stellt für die meisten der interviewten Familien eine hohe Priorität im Alltag dar; umso prägender ist es dann, wenn Besuche ausfallen oder abgesagt werden. Die nicht-inhaftierten Elternteile nehmen oftmals auch einen hohen organisatorischen Aufwand in Kauf, etwa wenn lange Wege zurückgelegt oder Freiräume in der Berufstätigkeit und dem Schulunterricht für die Einhaltung der Besuchszeiten ausgehandelt werden müssen. An dieser Stelle lohnt sich ein Blick in die Ergebnisse der quantitativen Erhebung aus Perspektive der inhaftierten Elternteile. Die hohe Bedeutung der familienorientierten Unterstützungsangebote wird auch hier deutlich. Dies lässt sich zentral an zwei Ergebnisdimensionen verdeutlichen. Den inhaftierten Elternteilen mit Kindern wurden dabei 11 Fragen zu ihrem Wohlbefinden und ihrer Perspektive nach der Inhaftierung gestellt. Die Zustimmungswerte wurden auf einer 6er-Skala von „Stimmt völlig“ bis„Stimmt gar nicht“ und von 0 bis 100 skaliert angegeben, wobei ein höherer Wert eine stärkere Zustimmung zur jeweiligen Aussage widerspiegelt. Die inhaftierten Elternteile, die an speziellen familienorientierten Angeboten teilgenommen haben, zeigen durchweg positivere Zustimmungswerte bei allen elf Items im Vergleich zu denjenigen ohne Zugang zu solchen Programmen. In der folgenden Analyse werden jedoch nur die Items aufgeführt, bei denen ein statistisch signifikant höheres Ergebnis bei den teilnehmenden Personen vorliegt (p < 0,05). Der Pearson-Korrelationskoeffizient (r) ist hier ein geeignetes Maß, um den Zusammenhang zwischen der Teilnahme an familienorientierten Angeboten und der Zustimmung zu den jeweiligen Aussagen zu untersuchen. Ein signifikanter Pearson-Koeffizient zeigt an, dass der Unterschied zwischen den Gruppen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zufällig ist, sondern auf die Teilnahme an den Angeboten zurückgeführt werden kann. Wenn man die Antworten der inhaftierten Elternteile, die familienorientierte Angebote wahrnehmen (können), mit denen vergleicht, die nur reguläre Besuchskontakte mit ihren Familien haben, sehen wir signifikant bessere Bewertungen bei der ersten Gruppe in zentralen Kategorien: 1. Gesundheit und Wohlbefinden: Die Frage „Ich fühle mich gesund und wohl in meinem Körper“ wurde von insgesamt 476 Personen beantwortet (n = 476). Die inhaftierten Elternteile, die familienorientierte Angebote nutzen konnten (n = 188), schätzen ihr körperliches Wohlbefinden deutlich höher ein (Durchschnittswert von 82,0) als jene ohne Zugang zu speziellen Angeboten (72,5, n = 288). Dieser Unterschied deutet darauf hin, dass die emotionale und soziale Unterstützung durch familienorientierte Programme das allgemeine Wohlbefinden positiv beeinflussen kann. 2. Freundschaften und Beziehungen: Die Frage „Ich habe gute Freundschaften und Beziehungen“ wurde von 468 Personen beantwortet (n = 468). Unter denjenigen mit Zugang zu familienorientierten Angeboten (n = 186) liegt der Zustimmungswert bei 82,8, verglichen mit 75,4 bei denjenigen ohne Zugang (n = 282). Dieser Unterschied legt nahe, dass familienorientierte Programme soziale Bindungen fördern, die für die Resozialisierung und das emotionale Gleichgewicht der Betroffenen wichtig sind. 3. Unterstützung bei der Lebensgestaltung: Die Frage „Ich habe Personen in meinem Leben, von denen ich mich in meiner Lebensgestaltung gut unterstützt fühle“ wurde von 495 Personen beantwortet (n = 495). Die Teilnehmer: innen mit Zugang zu familienorientierten Angeboten (n = 194) schätzen ihre Unterstützung deutlich höher ein (92,0) als jene ohne diese Programme (87,8, n = 301). Diese Unterstützung könnte eine entscheidende Rolle dabei spielen, eine stabile Lebensbasis für die Zeit nach der Haft zu schaffen. 129 uj 3 | 2025 Lebens- & Bedarfslagen von Kindern inhaftierter Eltern 4. Vorbereitung auf das Leben außerhalb der Haft: Die Frage „Ich habe Personen in meinem Leben, die mich auf ein Leben außerhalb der Haftanstalt vorbereiten“ wurde von 487 Personen beantwortet (n = 487). Die Gruppe mit Zugang zu familienorientierten Programmen (n = 193) verzeichnet hier einen Zustimmungswert von 89,8 im Vergleich zu 84,7 in der Vergleichsgruppe ohne Zugang (n = 294). Dieser Unterschied deutet darauf hin, dass spezielle Programme den Übergang zurück in die Gesellschaft fördern. Insgesamt lassen die Daten erkennen, dass die Teilnahme an familienorientierten Angeboten den inhaftierten Eltern nicht nur hilft, ihre sozialen und emotionalen Bedürfnisse besser zu erfüllen, sondern auch dazu beiträgt, sie auf die Zeit nach der Haft vorzubereiten. Familienorientierte Angebote tragen somit maßgeblich dazu bei, die Resilienz der inhaftierten Eltern zu stärken und ihnen eine tragfähige Perspektive für das Leben nach der Haft zu geben. Die (innerfamiliäre) Kommunikation über die Tat und den Aufenthaltsort des inhaftierten Elternteils An den - im vorherigen Kapitel beschriebenen - Eltern-Kind-Gruppen können die Kinder in der Regel erst teilnehmen, wenn sie alt genug sind (es wird von mindestens einem Jahr gesprochen) und über die Inhaftierung des Elternteils Bescheid wissen. Dies führt bei manchen Familien zu einem Ausschlusskriterium, da sie (noch) nicht mit ihren Kindern über die Inhaftierung sprechen möchten. Bei einer interviewten Familie wurde daraufhin zwischen den Geschwistern unterschieden und nur eines der Kinder konnte an der Eltern-Kind-Gruppe teilnehmen. Es wurde mit dem unterschiedlichen Alter und der psychischen Belastbarkeit der Kinder argumentiert: „Und mein Mann wurde inhaftiert oder verhaftet, da war ich in der sechsten Woche schwanger. Und seitdem hatte er (…) halt gar keine Vater-Sohn-Zeit. Deswegen war uns das wichtig, dass wir das Angebot der (Beratungsstelle) nur mit unserem Sohn durchführen. Und zu den Besuchen an sich, jede Woche sind die, gehen wir halt immer alle zusammen. Und Bedingung der (Beratungsstelle) ist es halt auch, dass die Kinder die Wahrheit wissen. Und das war für uns bei unserer großen Tochter halt relativ schwer, weil sie ein super sensibles, emotionales Kind ist und schon damit zu kämpfen hatte, dass er halt weg ist. Und deswegen kommt das sowieso auch nicht in Frage, dass sie an der Vater-Kind-Gruppe teilnimmt, weil wir halt ihr noch nicht so die Wahrheit gesagt haben, wo er halt ist. Also er ist da halt arbeiten und Papa kommt halt erst mal nicht nach Hause.“ Frau Schmidt*, Mutter einer siebenjährigen Tochter und eines zweijährigen Sohnes * Name geändert Interessant ist auch, dass einige interviewte Elternteile davon berichten, mit ihren (Klein-) Kindern an den regulären Besuchsterminen teilzunehmen, ohne dass mit den Kindern über das Gefängnis als Aufenthaltsort des inhaftierten Elternteils gesprochen wurde. Die Kinder werden in dem Glauben gelassen, der andere Elternteil sei auf Montage, im Krankenhaus oder arbeite in der Haftanstalt. Da die Inhaftierten meist sogar tatsächlich während ihrer Haftdauer arbeiten, beispielsweise in der Anstaltsküche, kann hier eine moralische Legitimation geschaffen werden. Weiter berichten die Interviewten, dass ihre (Klein-)Kinder dazu auch keine Fragen stellten bzw. mit der oben genannten Erklärung zufrieden seien. Begründet wird das Vorgehen damit, die Kinder schützen zu wollen und sie nicht mit der Realität zu überfordern: „Also ich glaube schon, dass sie es weiß. Weil jetzt seit Neuestem hängt auch vorne im Eingangsbereich so ein Plakat. Da steht dann so 130 uj 3 | 2025 Lebens- & Bedarfslagen von Kindern inhaftierter Eltern drauf „Mein Besuch im Gefängnis“. Und dann sind es so Bilder, wie man halt kontrolliert wird. Jetzt fängt sie halt an zu lesen und jetzt hat sie es auch schon mal gelesen, hat aber noch nie irgendwie nachgefragt. Sie hat einmal zu ihrem Vater gesagt: „Papa, unten hängt jetzt ein Plakat da steht drauf ‚Mein Besuch im Gefängnis’.“ Und dann hat er dann halt gleich gesagt: „Ja, du weißt ja, wo wir hier sind. Und du weißt ja, dass Papa arbeitet.“ Es sind halt aber in dem Moment halt Lügen, ne? Aber wir wollen es ihr einfach nicht zumuten. Ich glaube, das würde sie in dem Moment erstmal nicht so verkraften. Irgendwann wollen wir ihr das schon sagen, dass Papa halt was gemacht hat, was falsch war und jetzt natürlich dafür geradestehen muss.“ Frau Schmidt*, Mutter einer siebenjährigen Tochter und eines zweijährigen Sohnes * Name geändert Alle Interviewten sind sich jedoch einig, zu einem ‚geeigneten Zeitpunkt‘ mit den Kindern darüber sprechen zu wollen. Interviewpartner: innen berichten auch, dass die ‚Lüge‘ über den Aufenthaltsort zu inneren Konflikten führt - besonders dann, wenn die Kinder alt genug sind, um zu erkennen, dass die Erklärungen nicht zusammenpassen. Ein Interviewsegment zeigt das Dilemma der Eltern, die dies als moralisch ‚falsch‘ bewerten, es aber nicht übers Herz bringen, ihrem Kind die Wahrheit zu sagen, da sie fürchten, dass es emotional noch nicht stabil genug ist: „Wir haben das schon so oft überlegt, ganz, ganz oft, ob wir ihr jetzt die Wahrheit sagen. Und das ist auch, wir wissen beide, dass es falsch ist, dass wir sie anlügen in dem Moment, also in dem Fall jetzt. Aber sie ist einfach … Sie weint ganz oft abends und vermisst Papa. Und sie ist so sensibel, dass das jetzt für uns kein Thema ist.“ Frau Schmidt*, Mutter einer siebenjährigen Tochter und eines zweijährigen Sohnes * Name geändert In einem Interview mit einem Kind bezeichnet dieses seine Eltern und Großeltern als „Ihr Lügner! “ und wirft ihnen vor, es nicht von Anfang an über die Inhaftierung in Kenntnis gesetzt zu haben. Besonders scheint es darunter zu leiden, ‚als Einzige‘ nichts über die Inhaftierung gewusst zu haben, im Gegensatz zum älteren Geschwisterkind, welches schon früher den inhaftierten Vater besuchen durfte. Interessant ist, dass nun eine offene Kommunikation darüber möglich ist und die ‚Notlüge‘ im Nachhinein innerfamiliär aufgearbeitet wurde. Ein anderer interviewter Elternteil nimmt zwar die gemeinsame zweijährige Tochter regelmäßig mit in die Haftanstalt und spricht auch mit ihr offen darüber, macht sich aber Sorgen, dass die Tochter die Inhaftierung des Vaters dann auch offen im Kindergarten kommunizieren wird: „Ich frage mich halt so, wenn sie jetzt im Kindergartenalter ist, sie erzählt es dann im Kindergarten - wie unangenehm eigentlich. ‚Ja, wir besuchen meinen Vater immer und da muss man so abgesucht werden.’ Da weiß ich noch gar nicht, wie man das dann erzählt? Also ob ich dann schon Gefängnis sage? Dann erzählt sie ja vielleicht anderen Kindern, dass der Vater im Gefängnis ist? Und dann erzählen die anderen Kinder das ihren Eltern und dann wissen die Eltern das. (...) Einfach nur unangenehm.“ Frau Weber*, Mutter einer zweijährigen Tochter * Name geändert Allgemein kann an dieser Stelle ein Schweigen und Ausblenden der Thematik in den betroffenen Familien vermutet werden; ein offenes Gespräch über das eigene emotionale Empfinden sowie das der Kinder findet in vielen Fällen nicht statt. Trauer, Wut oder Unverständnis des Kindes über den abwesenden Elternteil können dadurch nicht adäquat adressiert und als Gefühle begleitet werden. Zeitgleich berichten die Interviewten von dem Angebot der Beratungsstellen, das Gespräch zu begleiten. Dieses Angebot wollten die betroffenen Interviewten aber zum aktuellen Zeitpunkt aus den oben genannten Gründen noch nicht annehmen. 131 uj 3 | 2025 Lebens- & Bedarfslagen von Kindern inhaftierter Eltern Bedarfslagen der betroffenen Familien Es zeigt sich ein hoher Unterstützungsbedarf der Betroffenen in Form von Beratungsgesprächen mit den Erziehungsverantwortlichen sowie den Kindern. Allerdings ist es hierbei auch von Bedeutung, das Angebot stets offen zu halten und den Familien freizustellen, zu welchem Zeitpunkt sie es wahrnehmen möchten. Viele der Betroffenen berichten in den Interviews auch von einem anfänglichen Schock während oder nach der Inhaftierung und dem Gefühl, „ganz alleine“ dazustehen. Hier hätten sie sich unmittelbare Hilfeangebote gewünscht, die dabei unterstützen, den ersten Schreck zu überwinden und wieder Fuß zu fassen. Meist kamen die Betroffenen erst deutlich später zu den Beratungsstellen und wussten beispielsweise während der Untersuchungshaft des anderen Elternteils noch nichts von den Unterstützungsmöglichkeiten: „Ja, gewünscht auf jeden Fall, ja, dass da einfach mehr Struktur gewesen wäre, eben für die Angehörigen. Also dass man wissen könnte, da könnte man hin, wenn man Hilfe braucht oder das und das muss man jetzt irgendwie beantragen, da, zu diesem und diesem Amt muss man gehen. (…) Also zu der Situation damals bei uns war es ja auch, dass meine Mama Hausfrau eigentlich die ganzen Jahre lang war, mein Papa Alleinverdiener. Und dann natürlich die Situation komplett gekippt zu alleinerziehend mit mir und keinen Job und gar nichts. Und da steht man natürlich erst mal da und man weiß gar nicht, okay, wo muss ich jetzt zuerst hin? Wo kriege ich jetzt die Hilfe, die ich jetzt aktuell akut brauche, einfach? Sarah*, junge Erwachsene * Name geändert Vor allem Elternteile, die auf wenig Unterstützung im Familien- oder Freundeskreis zurückgreifen können, berichten von hohen Belastungen und dem Wunsch nach einer Enttabuisierung des Themas sowie Unterstützung im Alltag. Dies kann sich auf konkrete Aspekte konzentrieren, wie einer Unterstützung bei der Bewältigung der Wege zu einer Haftanstalt und der Begleitung des Besuchs dort. Es wird berichtet, dass die Wege oft recht weit für die Familien sind und als sehr beschwerlich wahrgenommen werden, besonders, wenn die Elternteile allein mit ihren Kindern unterwegs sind. Auch vor Ort und bei der Organisation der Besuche wünschen sich viele der Interviewten mehr Unterstützung, da oftmals mit langen Wartezeiten zu rechnen ist. Die regulären Besuchsräume und -zeiten empfinden die Interviewten als nicht kindgerecht und würden sich hier eine angenehmere Ausstattung wünschen - beispielsweise durch altersgerechtes Spielzeug oder die Möglichkeit, Besuch von Kindern in abgetrennten Räumen zu empfangen. Die Gespräche der anderen Inhaftierten mit ihren Besucher: innen empfinden sie häufig als unpassend oder sogar verstörend für (kleine) Kinder. Auch ist der Wunsch der Kinder groß, Körperkontakt zu ihren Eltern aufbauen zu dürfen und sie beispielsweise zu umarmen oder während des Besuchs auf ihrem Schoß zu sitzen. Zu den regulären Besuchszeiten ist dies jedoch oft nicht möglich, da Körperkontakt prinzipiell untersagt ist - dies gilt dann auch für Kinder. Besonders für kleine Kinder sind diese Besuchsszenarien oft schwer aushaltbar, da sie noch nicht so lange stillsitzen können. Tragen die Kinder keine Windel mehr und müssen während des Besuchs zur Toilette, muss der Besuch abgebrochen werden. Wie häufig im Monat Besuche möglich sind, ist bundeslandabhängig, wodurch sich bei den Interviewten ein sehr heterogenes Bild abzeichnete. Einigen war nur ein Besuch pro Monat gestattet, was sie als zu wenig und mit negativen Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Bindung bewerteten. An dieser Stelle war der Wunsch nach erweiterten und flexibleren Besuchszeiten sehr groß. Auch wurde davon berichtet, dass das Wahrnehmen der Besuchszeiten sehr schwer im Familienalltag unterzubringen ist und die Vereinbarung der Besuchstermine mit den Justizvollzugsanstalten aufgrund der telefonischen Erreichbarkeiten häufig sehr langwierig seien. Oft wurde berichtet, dass lediglich Besuchs- 132 uj 3 | 2025 Lebens- & Bedarfslagen von Kindern inhaftierter Eltern zeiten unter der Woche vormittags bzw. am frühen Mittag angeboten werden. Dies habe zur Folge, dass der nicht-inhaftierte Elternteil regelmäßig unter der Woche freinehmen müsse und dadurch gegebenenfalls zusätzliche Arbeitsschichten am Wochenende erbracht werden müssten. Auch berichteten einige Interviewte davon, sich bei der Arbeit krankzumelden, um den Besuchstermin für die Kinder zu ermöglichen. Die Kinder müssen in diesen Fällen regelmäßig vom Unterricht befreit werden und verpassen auf diese Weise wichtigen Schulstoff. Ein Elternteil beschreibt außerdem die Schwierigkeit, auf sich allein gestellt zu sein und Erwerbsarbeit, Care-Arbeit sowie Schließzeiten der Kindertagesstätten und Besuchszeiten in der Justizvollzugsanstalt zu organisieren und zu verantworten: „Man ist sowieso schon im Überlebensmodus! “ Frau Weber*, Mutter einer zweijährigen Tochter * Name geändert Ausblick Mit Blick auf die Interviews sowie die quantitativen Ergebnisse der Befragungen unter inhaftierten sowie nicht-inhaftierten Elternteilen zeigt sich ein heterogenes Bild der betroffenen Familien. Viele nicht-inhaftierte Elternteile berichten von hohen Belastungen aufgrund der - oftmals sehr plötzlichen - Inhaftierung des anderen Elternteils, welche sich vor allem in der Organisation des Alltags widerspiegeln. Hier sind sie darauf angewiesen, auf Unterstützungsstrukturen zu treffen, die vorurteilsfrei und zeitnah dabei Hilfe leisten, den Alltag neu zu gestalten und regelmäßige Kontakte des Kindes zum inhaftierten Elternteil zu organisieren. In der Realität beschreiben die Betroffenen jedoch häufig das Gefühl, auf sich allein gestellt zu sein und fassen vor allem die Organisation der Besuchstermine als sehr belastend auf. Eine familienfreundlichere Gestaltung und Ermöglichung der Besuchstermine in den Haftanstalten wäre hier wünschenswert und notwendig. Bei ihren Kindern nehmen die Interviewten hohe psychische Belastungen wahr, auch die ersten Ergebnisse der quantitativen Befragung scheinen dies zu stützen. Vor allem Gefühle von (immer wiederkehrender) Traurigkeit und Verlustängsten werden hier geschildert. Auch die Sorge vor einer Stigmatisierung und Mobbing der Kinder ist bei den betroffenen Eltern sehr groß, was sich dann oftmals auf ihre Kommunikation mit den Kindern über die Tat und den Aufenthaltsort des inhaftierten Elternteils auswirkt. Eine zeitnahe und unbürokratische pädagogische sowie psychologische Begleitung ist an dieser Stelle von hoher Bedeutung, um die Belastungen insbesondere der Kinder aufzufangen und bei der Bewältigung des Erlebten zu unterstützen. Auch kann es für die betroffenen Familien hilfreich sein, bei Besuchen in den Haftanstalten auf professionelle Unterstützung zurückzugreifen. Die quantitativen Ergebnisse verdeutlichen, dass familienorientierte Angebote nicht nur für die Kinder und nicht-inhaftierten Elternteile, sondern auch für die inhaftierten Eltern von großem Wert sind. Die Teilnahme an speziellen Angeboten wie Eltern-Kind-Gruppen und Langzeitbesuchen wirkt sich signifikant positiv auf das Wohlbefinden und die Resilienz der Inhaftierten aus. In den Erhebungen zeigt sich, dass Eltern, die an solchen Programmen teilnehmen, in mehreren Bereichen deutlich höhere Zustimmungswerte aufweisen als diejenigen, die nur auf reguläre Besuchszeiten zurückgreifen können. Inhaftierte Eltern, die an familienorientierten Programmen teilnahmen, berichteten von einem stärkeren Gefühl des Dazugehörens und gesünderen sozialen Beziehungen, was auch ihr allgemeines psychisches Wohlbefinden verbessert. Der Zugang zu familienorientierten Angeboten führte zudem zu einer stärkeren emotionalen Stabilität und half ihnen, besser mit belastenden Situationen umzugehen. Dieser soziale Rückhalt durch die Familie bietet 133 uj 3 | 2025 Lebens- & Bedarfslagen von Kindern inhaftierter Eltern ihnen Motivation und stärkt ihre Zuversicht, die Zeit in der Haft erfolgreich zu bewältigen und sich auf eine positive Wiedereingliederung vorzubereiten. In Bezug auf die Besuche in den Haftanstalten berichten Eltern und Kinder von schönen Momenten, etwa wenn unbeschwertes Spielen mit dem inhaftierten Elternteil im Rahmen von Eltern-Kind-Gruppen möglich ist. Sie berichten aber auch von schwierigen Momenten, wenn z. B. zu viele (fremde) Personen zeitgleich im Besuchsraum anwesend sind, die freie Bewegung der Kinder eingeschränkt wird und Hunger oder Toilettengänge zu einem sofortigen Abbruch des Besuchs führen. Es zeigt sich, dass insbesondere die Eltern-Kind-Gruppen von hoher Bedeutung für die Familien sind, da ein geschützter Rahmen gestaltet wird, in welchem ein unbeschwerter Kontakt möglich ist. Auch werden nicht überall Eltern-Kind-Gruppen angeboten, sodass es oft eine‚Glückssache‘ ist, ob die Kinder daran teilnehmen können. Ein flächendeckender Ausbau der Eltern-Kind-Gruppen in den Justizvollzugsanstalten der sechs Bundesländer wäre daher wünschenswert, um kindgerechte Besuche zu ermöglichen und die Eltern-Kind-Bindung zu stärken. Clara Sartingen und Niklas Helsper IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe Altendorfer Str. 237 45143 Essen E-Mail: sartingen@ikj-online.de helsper@ikj-online.de Literatur Auridis Stiftung (o. J.): Netzwerk Kinder von Inhaftierten. In: https: / / www.auridis-stiftung.de/ unsere-projekte/ netzwerk-kinder-von-inhaftierten, 11.12.2024 Bieganski, J. et al. (2013): Kinder von Inhaftierten. Auswirkungen, Risiken, Perspektiven. Ergebnisse und Empfehlungen der COPING-Studie, Dresden/ Nürnberg, https: / / www.treffpunkt-nbg.de/ wp-con tent/ uploads/ 2021/ 07/ Coping-Broschuere.pdf Feige, J. (2019): Kontakt von Kindern zu ihren inhaftierten Eltern. Einblicke in den deutschen Justizvollzug. In: https: / / www.institut-fuer-menschenrechte. de/ publikationen/ detail/ kontakt-von-kindern-zuihren-inhaftierten-eltern, 11.12.2024 Feige, J. (2024): Kontaktmöglichkeiten zwischen Kindern und inhaftierten Eltern. Eine Befragung zur Praxis im Strafvollzug. Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin, https: / / www.institut-fuer-menschenrechte.de/ fileadmin/ Redaktion/ Publikationen/ Analyse_Studie/ Analyse_Kontaktmoeglichkeiten_ von_Kindern_und_inhaftierten_Eltern.pdf Zwönitzer, A., Fegert, M., Ziegenhain, U. (2017): Eltern- Kind-Projekt Chance zur Unterstützung von Kindern inhaftierter Eltern. Nervenheilkunde 36 (3), 156 -160