eJournals unsere jugend 77/5

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2025.art26d
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Alles für alle: Wie jugendliche Partizipation geschlechtergerecht gelingen kann

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Claudia Wallner
Auf „meinTestgelände – Das Gendermagazin“ können Fachkräfte erkunden, was Jugendliche über vielfältige Geschlechterthemen zu sagen haben. Wer im pädagogischen Bereich geschlechtersensibel arbeiten möchte, findet hier notwendige Einblicke in Selbstaussagen junger Menschen, die zur Grundlage jedweden geschlechterpädagogischen Handelns werden sollten.
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217 unsere jugend, 77. Jg., S. 217 - 224 (2025) DOI 10.2378/ uj2025.art26d © Ernst Reinhardt Verlag Alles für alle: Wie jugendliche Partizipation geschlechtergerecht gelingen kann Auf „meinTestgelände - Das Gendermagazin“ können Fachkräfte erkunden, was Jugendliche über vielfältige Geschlechterthemen zu sagen haben. Wer im pädagogischen Bereich geschlechtersensibel arbeiten möchte, findet hier notwendige Einblicke in Selbstaussagen junger Menschen, die zur Grundlage jedweden geschlechterpädagogischen Handelns werden sollten. von Dr. Claudia Wallner Jg. 1961; Diplom-Pädagogin, Referentin, Autorin und Praxisforscherin zu geschlechterbezogenen Lebenslagen und Gesellschaftsverhältnissen sowie zu geschlechterpädagogischen Ansätzen, seit 2013 Leiterin des Projekts „meinTestgelände“ Geschlechterthemen sind heutzutage für junge Menschen kein Problem mehr? Sie fühlen sich gleichberechtigt und können sich ausleben, wie sie wollen? Weit gefehlt. Ein tiefer Blick in das, was Jugendliche bewegt, was sie schmerzt, was sie sich wünschen, zeigt: Geschlechtszugehörigkeit und sexuelle Orientierung haben weiterhin große Auswirkungen auf Lebensentwürfe, Berufsentscheidungen, körperliche und psychische Unversehrtheit, Gesundheit oder die Ausbildung von Interessen und Vorlieben. 2013 ging das Jugend-Gendermagazin „mein Testgelände“ online: eine Webseite, auf der ausschließlich junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren Beiträge veröffentlichen können. Seitdem sind ca. 1.100 Texte, Videos und Audios online erschienen, produziert von 100 jungen Autor: innen und 30 Redaktionsgruppen. Wer wissen möchte, was junge Menschen zu Geschlechter- und Sexualitätsfragen bewegt, findet im Gendermagazin vielfältige Antworten und Einblicke. Der Partizipationsansatz Jugendliche sind Expert: innen ihrer eigenen Lebenswelten. Ihre Erfahrungen sind einzigartig und können nur von ihnen formuliert werden. Fachkräfte haben die Aufgabe, diese aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen und Pädagogik und Soziale Arbeit entsprechend auszurichten. Das Konzept des Projekts „meinTestgelände“ ist es, jungen Menschen möglichst direkte und barrierearme Möglichkeiten anzubieten, ihre Perspektiven zu veröffentlichen. Für die Beteiligung junger Menschen am Gendermagazin gelten folgende Qualitätsstandards: ➤ Jede: r Autor: in hat einen eigenen Kanal auf „meinTestgelände“. ➤ Alle Autor: innen und Redaktionen erhalten Honorare für ihre Beiträge. 218 uj 5 | 2025 Wie Partizipation geschlechtergerecht gelingen kann ➤ Die Beiträge junger Menschen werden genauso veröffentlicht, wie sie eingereicht werden. ➤ Junge Menschen können eigene Themen einreichen oder Beiträge zu vorgeschlagenen Themen produzieren. ➤ Ganze Autor: innenprofile oder einzelne Beiträge werden jederzeit von der Webseite genommen, wenn die Autor: innen dies wünschen. ➤ Die Projektmitarbeitenden unterstützen die Autor: innen auf Wunsch. ➤ Die Aufgabe der Autor: innen und Redaktionen ist es, jungen Menschen und Fachkräften Einsichten in ihre Lebenswelten zu erlauben, während das Projekt die jungen Menschen bestmöglich begleiten und schützen möchte. So gibt es bspw. keine Kommentarmöglichkeit unter Beiträgen auf der Website und die Kommentare zu Beiträgen auf dem projekteigenen Instagram-Kanal werden engmaschig überprüft. Für viele junge Menschen ist diese respektvolle Form des Umgangs nicht selbstverständlich: Auch im Rahmen der Jugendhilfe (bspw. in der Jugendhilfeplanung) machen sie ganz im Gegenteil oft die Erfahrung, dass sie nach ihren Einstellungen und Sichtweisen gefragt werden, diese dann aber selten ernst genommen oder berücksichtigt werden. Warum es wichtig ist, jungen Menschen zuzuhören Geschlechter- und Gleichstellungsthemen sind medial, politisch und gesellschaftlich zu Kampffeldern mutiert, auf denen über grundlegende Fragen der Demokratie und des Zusammenlebens gestritten wird: ➤ Soll die Gesellschaft möglichst vielfältig werden oder besser zu klaren Geschlechterrollen zurückkehren? ➤ Sollen Menschen selbst entscheiden, welchem Geschlecht sie angehören oder ist das körperlich gegeben? ➤ Sind Geschlechterrollen in Menschen angelegt oder gesellschaftlich anerzogen? ➤ Sind unterschiedliche Geschlechtererwartungen an Mädchen, Jungen und Queers sinnvoll, weil sie Orientierung geben? ➤ Gibt es überhaupt Mädchen und Jungen oder sind alle Geschlechter fließend? ➤ Braucht Soziale Arbeit noch geschlechterbezogene Angebote oder ist das eher kontraproduktiv, weil dadurch Geschlechterrollen fixiert oder zugeschrieben werden? In diesen Diskursen wachsen Kinder und Jugendliche mit ihren eigenen Geschlechtervorstellungen und Wünschen auf, sich auszuleben mit all den Möglichkeiten und Begrenzungen, die die Umwelt formuliert und zulässt. Fragen wie „Wer bin ich und was erwarten die anderen von mir? “ und „Wer soll ich sein? “ stimmen dabei für viele junge Menschen nicht überein. Und das gilt nicht nur für trans*, inter* und nichtbinäre* junge Menschen. Auch diejenigen, die sich als Cis Jungen oder Cis Mädchen verstehen, müssen sich mit widersprüchlichen gesellschaftlichen Erwartungen und Zuschreibungen auseinandersetzen, von denen sie sich oftmals beschnitten, eingeschränkt und in Bahnen gezwungen fühlen, die ihnen nicht entsprechen. Deshalb ist es in der geschlechterbezogenen Sozialen Arbeit und Pädagogik so wichtig, jungen Menschen selbst zuzuhören, und ernst zu nehmen, was sie sagen. Das ist das Ziel und der Auftrag des Gendermagazins „meinTestgelände“. Nicht alle haben die gleichen Chancen Die Lebenslagen junger Menschen sind höchst unterschiedlich. Geschlechterbezogen bedeutet das: 219 uj 5 | 2025 Wie Partizipation geschlechtergerecht gelingen kann ➤ Sie gehören verschiedenen Geschlechtern an. ➤ Sie leben unterschiedliche Sexualitäten aus oder eben nicht, denn nicht alle jungen Menschen wollen sexuell aktiv sein (Asexualität). ➤ Die von außen zugeschriebene Geschlechteridentität stimmt mit ihrem eigenen Geschlechterwissen überein oder auch nicht. ➤ Sie werden mit ihrem Geschlecht und/ oder ihrer Sexualität gesellschaftlich anerkannt oder bedroht. Verwoben mit Geschlecht und Sexualität wirken weitere strukturelle Faktoren fördernd oder ausgrenzend auf junge Menschen ein: Klasse, „race“, Herkunft, Religion, Tradition, körperliche und geistige Verfassung oder Gesundheit - all diese Faktoren beeinflussen die Entwicklungschancen und das Selbstbild von Jugendlichen, aber auch die Möglichkeiten, mit ihren Wünschen und Bedürfnissen gehört zu werden. Die Partizipation junger Menschen muss diese Unterschiede berücksichtigen, sowohl im Zugang als auch in den Beteiligungsmethoden. Wie gelingt es, Vielfalt abzubilden? Ein Blick auf „meinTestgelände“ zeigt: Es sind sehr unterschiedliche Jugendliche, die sich beteiligen. Insbesondere diejenigen, die aus verschiedenen Gründen vermehrt von Abwertung und Ausgrenzung betroffen sind, finden ihren Weg ins Gendermagazin. Das ist seine besondere Qualität und das Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zu anderen Webseiten und Projekten, die Jugendliche beteiligen oder Beiträge junger Menschen veröffentlichen. Das ist kein Zufall, sondern aktiv herbeigeführt und konzeptionell unterfüttert. Was aktuell in Pädagogik und Politik unter dem Begriff der Vielfalt proklamiert und als Ziel für (nicht nur) geschlechtergerechtes Handeln formuliert wird, zeigt sich auf „meinTestgelände“ in der Zusammensetzung der beteiligten Autor: innen und Redaktionen bereits seit Beginn 2013: ➤ Mit einer Redaktionsgruppe bestehend aus Jungen muslimischen Glaubens („HeRoes Duisburg“), die sich mit kulturellen und religiösen Männlichkeitsanforderungen auseinandersetzen. ➤ Mit einer Gruppe von Jugendlichen unterschiedlicher Geschlechter und Herkünfte, die sich mit Rassismus und Sexismus beschäftigen („Was geht Almanya“). ➤ Mit einer Gruppe junger Menschen mit Handicaps, die sich in einer Schreibwerkstatt zusammengeschlossen haben. Den Jugendlichen der ersten beiden Gruppen ist gemein, dass sie aufgrund ihres nicht als „deutsch“ anerkannten Aussehens und/ oder ihrer Glaubenszugehörigkeit in Verbindung mit ihrem Geschlecht massiv und immer wieder mit Beschimpfungen, Vorurteilen und Ausgrenzung konfrontiert waren und sie wenig öffentliches Gehör fanden, um damit verbundene Aggressionen und Leiderfahrungen auszusprechen. Die jungen Menschen der dritten Gruppe („story teller“) fanden bis dato kaum Möglichkeiten, ihre Texte und damit ihre Sichtweisen auf das Leben außerhalb von Behindertenorganisationen und -plattformen sichtbar zu machen. „MeinTestgelände“ bot ihnen eine Plattform zur Sichtbarmachung, und um öffentlich zu zeigen, welche Auswirkungen Beschimpfungen, Aggressionen und Ausgrenzung auf sie haben und welche Standpunkte sie dem entgegensetzen können. Eine zentrale Motivation zur Beteiligung war und bleibt es, gehört und ernst genommen zu werden, eine Bühne zu bekommen und mit Respekt behandelt zu werden - vielleicht die wichtigste Motivation. 220 uj 5 | 2025 Wie Partizipation geschlechtergerecht gelingen kann Nun sind solche jungen Menschen in Bezug auf Geschlechter- und Sexualitätsfragen eher vorsichtig und zurückhaltend, wenn es darum geht, sich öffentlich zu zeigen. Zu oft erleben von Armut oder Ausgrenzung betroffene junge Menschen, dass sich weder Politik noch Gesellschaft für sie interessieren oder ihnen zuhören. Es gibt deswegen viele Jugendliche, die stumm sind und/ oder stumm gemacht werden, weil sie als wenig relevant abgestempelt werden und das genau wissen. Nur, wenn ein Angebot diese Jugendlichen und Gruppen von Anfang an offensiv adressiert und sichtbar macht, können auch diejenigen beteiligt werden, die sonst keine Lobby und keinen Platz im öffentlichen Diskurs haben. Gerade Jugendliche mit Ausgrenzungserfahrungen müssen sehen, dass sie gemeint sind; sie müssen aktiv adressiert und wertgeschätzt werden. Sie müssen von der Erwachsenenwelt die Nachricht erhalten: Wir wollen dich/ euch explizit, ihr seid nicht nur mitgemeint, sondern ihr steht im Zentrum. Jugendliche, die gute Bildungszugänge haben und in sicheren Verhältnissen leben, verfügen auch über Zugänge zu Jugend- und Bildungsangeboten. Junge Menschen mit weniger Privilegien fühlen sich von solchen Angeboten oftmals nicht angesprochen oder die Angebote erreichen sie erst gar nicht. Deshalb ist das Konzept von „meinTestgelände“, solche Jugendlichen aktiv aufzusuchen und explizit zur Teilnahme einzuladen. Das Konzept des Gendermagazins ist erfolgreich. Die Anwesenheit und Sichtbarkeit von Jugendlichen mit sichtbarer Migrationsgeschichte, mit Handicaps und unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten haben die Plattform „meinTestgelände“ aktiv für Jugendliche geöffnet, die sich in den Beiträgen wiedererkennen und dadurch zur eigenen Partizipation eingeladen fühlen. Um Vielfalt zu vermitteln, muss zuerst der Begriff selbst definiert werden. Außerdem sollten die Zielgruppen adressiert und deren Bedürfnisse formuliert werden. Ein respektvoller Umgang ist dabei unerlässlich. Die Projektmitarbeitenden der Webseite suchen aufmerksam in den Sozialen Netzwerken, auf genderbezogenen und jugendkulturellen Seiten sowie auf Jugendportalen nach jungen Menschen und Jugendgruppen, nehmen Kontakt auf und laden sie ein, ihre Sichtweisen auf „meinTestgelände“ zu präsentieren. Junge Menschen aller Geschlechter und Sexualitäten sind Teil von „meinTestgelände“ Die Zahl der Autor: innen auf „meinTestgelände“ steigt stetig an; Jugendliche und junge Erwachsene unterschiedlicher sexueller Orientierungen sowie verschiedener geschlechtlicher Verortungen veröffentlichen ihre Geschichten und Sichtweisen im Gendermagazin. Die Frage ist: Wie ist das gelungen? Denn oftmals sind die Welten auch im Netz getrennt. Es gibt queere Portale, die sich mit den Belangen von schwulen, lesbischen, bi- oder pansexuellen Jugendlichen befassen (Queerblick o. J.). Es gibt Webseiten und Zeitschriften, die Themen von trans* und inter* Jugendlichen in den Mittelpunkt stellen (Bundesverband Trans* 2017), und solche, die sich gezielt an Mädchen (bvkm 2024) oder an Jungen (Scholz o. J.) richten. Webseiten, die alle Geschlechterperspektiven in den Blick nehmen (z. B. klischee frei.de, gender-mediathek.de), sind nicht spezifisch auf Jugendliche ausgerichtet und fassen Beiträge ÜBER Jugendliche zusammen, veröffentlichen aber selten Beiträge VON Jugendlichen. Die große Chance eines Onlineportals ist, dass verschiedene Menschen sich beteiligen können, ohne direkt miteinander agieren zu müssen, gleichzeitig aber einheitlich und solidarisch miteinander kommunizieren können. Das ist 221 uj 5 | 2025 Wie Partizipation geschlechtergerecht gelingen kann für die jungen Autor: innen auch eine große Chance, Menschen verschiedener Geschlechter und Sexualitäten wahrzunehmen und einen gemeinsamen Ort der Solidarität zu kreieren. Es zeigt sich, dass die Autor: innen sich durch dieses Konzept als gleichwertige Teile eines Ganzen verstehen, dessen Ziel (auch) ist, politisch zu agieren und „die Welt“ aufzufordern, Respekt und Anerkennung zu zeigen für alle Geschlechter, für alle Sexualitäten, für alle Lebenslagen junger Menschen. Dafür sind sie bereit, auch persönliche Erfahrungen öffentlich zu teilen. „Wir sind für alle Jugendlichen offen“ ist kein vielfältiges Konzept Vielfaltskonzepte müssen berücksichtigen, dass gesellschaftliche Hierarchien bestehen, die Jugendlichen Partizipationsmöglichkeiten zuerkennen oder verweigern, sodass eine gleichwertige Beteiligung nicht durch eine gleiche Ansprache, sondern gerade durch adäquate gruppenbezogene Adressierung hergestellt wird. Das ist der fachliche Ansatz, den das Projekt "meinTestgelände“ vertritt und anwendet. Die Erfahrung zeigt: Jugendliche mit Ausgrenzungserfahrungen fühlen sich nur dann eingeladen mitzumachen, wenn sie explizit dazu angesprochen werden. Im Kontext des Geschlechterdiskurses sind das insbesondere trans* und inter* Jugendliche sowie schwule, lesbische, bi- oder pansexuelle junge Menschen. Das hängt einerseits mit der Ausgrenzung dieser Gruppen zusammen (sie wissen, dass Formulierungen wie „mitgemeint“ sie oft eben nicht mitmeinen) und andererseits, dass - wie oben beschrieben - Projekte für Jugendliche diese Gruppen in der Regel getrennt ansprechen. Aber auch Jungen und Mädchen fühlen sich bei Geschlechterthemen unterschiedlich angesprochen: Jungen zeigen sich in der Auseinandersetzung mit Geschlechterthemen zögerlicher, weil dies den Vorstellungen von "Männlichkeit“ angeblich nicht entspricht. Es gilt als „unmännlich“, sich mit Geschlechterthemen zu befassen. Deshalb ist es sogar möglich, dass gerade Jungen, die klassische Männlichkeitsbilder nicht erfüllen, zur Wahrung ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der Männer Abstand zu Genderthemen halten. Mädchen sind die Geschlechtergruppe, die am ehesten Zugang findet und sich selbstständig und aktiv an einem Gendermagazin wie „meinTestgelände“ beteiligt. Das hat damit zu tun, dass Geschlechterthemen eher weiblich konnotiert sind. Marginalisierung als Hemmfaktor der Beteiligung bezieht sich aber nicht nur auf Geschlecht und sexuelle Orientierung, sondern auf alle Ausgrenzungsfaktoren: Jugendliche mit Handicap/ Behinderung, mit sichtbarem oder zugeschriebenem Migrationshintergrund, medial oder politisch problematisierter Religionszugehörigkeit, PoCs oder von Armut betroffene Jugendliche haben im Aufwachsen gelernt, dass sie nicht gemeint sind, dass ihre Standpunkte und Sichtweisen nicht zählen, nicht interessieren. Insofern sind auch sie unserer Erfahrung nach zurückhaltend, Partizipationsangebote anzunehmen, wenn Jugendliche allgemein dazu eingeladen werden. Wir meinen genau dich! Zwei Konsequenzen wurden aus diesen Erfahrungen für den Aufbau und das Betreiben des Gendermagazins „meinTestgelände“ gezogen: ➤ Es muss von Anfang an aktiv darauf hingewirkt werden, dass genau diese jugendlichen Zielgruppen adressiert und explizit zur Partizipation eingeladen werden. ➤ Dieses Prinzip muss permanent überprüft und umgesetzt werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass benachteiligte junge Menschen sich wieder zurückziehen. 222 uj 5 | 2025 Wie Partizipation geschlechtergerecht gelingen kann Deshalb wurde gerade in den ersten Jahren viel Energie darin investiert, Jugendliche marginalisierter Gruppen zu finden und gezielt zum Mitmachen einzuladen. So gelang es, die Seite von Anfang an breit aufzustellen, was wiederum dazu führte, dass weitere Jugendliche und Gruppen sich beteiligen wollten, die sonst kein Gehör finden. Es wurden also genau solche Jugendliche aktiv gesucht. Sie dann zur Mitarbeit zu bewegen, war oftmals gar nicht schwer, weil diese jungen Menschen es als Möglichkeit für sich erkannten, gleichwertig als Autor: innen mit vielen anderen sichtbar zu werden und damit zum Mainstream dazuzugehören. Dies gilt bspw. für junge Menschen mit Behinderung oder Handicap, die oftmals nur auf Portalen zum Thema Behinderung präsent sind, selten aber in Jugendprojekten selbstbestimmt und selbstverständlich teilhaben können. Welche Perspektiven werfen Jugendliche auf Geschlechterthemen? Was also sagen junge Menschen auf „meinTestgelände“ zu Geschlechterthemen? Vorweg: Geschlecht im Körper, als Identitätsmerkmal, in gesellschaftlichen Vorstellungen und in der sexuellen Orientierung ist für Jugendliche eher problematisch als ein Grund zur Freude. Allein das ist schon eine erschreckende Erkenntnis. Jugendliche und junge Erwachsene berichten von dem Druck, rollenkonform sein zu müssen oder aber als trans* oder inter* Jugendliche weder Vorbilder zu haben noch Anerkennung zu bekommen. Die meisten Jugendlichen berichten von ihren Schwierigkeiten und Nöten, nur wenige von Freude und Lust: ➤ Inter* oder nicht-binäre Jugendliche, die also von der vermeintlichen Norm „weiblich oder männlich“ abweichen, sich keinem dieser beiden Geschlechter zuordnen wollen oder können, beschreiben in erster Linie harte Ablehnung von anderen Menschen. Auch fehlende Alltagsstrukturen gehören dazu: Was ist mein Pronomen? Wie werde ich angesprochen, wie wird über mich gesprochen, wenn ich kein Pronomen habe, weil es in der deutschen Sprache nur ‚er‘, ‚sie‘ und ‚es‘ gibt und nichts davon für mich passt? Wo kann ich mich umziehen oder auf Toilette gehen, wenn es immer nur Frauen und Männerräume gibt? Inter* Jugendliche berichten von Gewalt, von Versuchen, sie ins Geschlechtersystem zu zwingen, und von den Ängsten, nicht anerkannt zu werden oder nicht unversehrt durch die Jugend zu kommen. Innere Prozesse der Klärung, wer sie sind, beschreiben sie eher als positiv oder zu bewältigende Aufgabe. Die Ausgrenzung und Abwertung durch Menschen hingegen wird als sehr belastend erlebt. ➤ Mädchen beschreiben, dass sie mit gesellschaftlichen Rollenbildern zu kämpfen haben, insbesondere, was Vorstellungen von weiblichen Körpern angeht: das Bewerten von Mädchenkörpern durch andere Menschen, aber auch in den Sozialen Medien und durch Influencer: innen, übt auf viele Mädchen psychischen Druck aus. Viele Mädchen hadern mit sich und ihrem Körper und fühlen sich unzulänglich, weil die von außen formulierten Bilder und Ansprüche zu einseitig und zu drastisch sind. ➤ Verbale und körperliche Übergriffe auf Mädchen sind nach wie vor ein großes Thema für sie. Viele können aus dem Stegreif dutzende Situationen beschreiben, in denen sie ungebeten angefasst, taxiert, bewertet oder beschimpft wurden - und das über viele Jahre hinweg. Öffentliche Räume erscheinen oftmals nicht sicher, bildlich gesprochen bewegen sich viele Mädchen mit eingezogenem Kopf, um nicht aufzufallen und ungebetene negative Zuschreibungen und Berührungen zu vermeiden. 223 uj 5 | 2025 Wie Partizipation geschlechtergerecht gelingen kann ➤ Mädchen wissen, dass sie theoretisch die gleichen Rechte haben wie Jungen. Sie wissen aber auch, dass dies oftmals leere Versprechungen sind: Viele können sich nicht so bewegen, wie sie es gerne möchten, haben Angst, am späten Abend draußen unterwegs zu sein, werden stärker als Jungen kontrolliert. Das gesellschaftliche Gleichberechtigungsversprechen macht es ihnen jedoch schwer, diese Erfahrungen als Benachteiligungen einzuordnen. ➤ Interessanterweise gibt es kaum Mädchen, die das Lesbischsein thematisieren (im Gegensatz zu schwulen Jungen). Einerseits ist lesbisch zu sein gesellschaftlich weniger skandalisiert als schwul zu sein und findet vielleicht deshalb bei den jungen Autor: innen nicht so viel Aufmerksamkeit. Andererseits war und ist das Lesbischsein auch heute noch nicht als gleichwertige sexuelle Orientierung wie Heterosexualität anerkannt und wird oft mit Pornografie verknüpft. Auch das kann dazu führen, dass junge Autor: innen das Thema kaum bearbeiten. ➤ Jungen beschreiben oft Probleme mit Genderthemen, insbesondere zu enge oder als nicht passend empfundene Männlichkeitsanforderungen, unter denen sie leiden, weil sie anders sind oder anders leben wollen. Dazu gehört etwa das Ideal des Starkseins oder auch die Verurteilung oder Abwertung von Tätigkeiten und Vorlieben in weiblich zugeschriebenen Feldern, wie etwa Tanz, Fürsorge, Zuhören, bestimmte Farben oder Berufe. Dies gilt auch für Jungen, die als muslimisch/ arabisch/ türkisch gelesen werden und denen deshalb ein patriarchales Männerbild unterstellt wird. Auseinandersetzungen mit Männlichkeiten erzeugen bei vielen Jungen hohen (Leidens-)Druck und oftmals wissen sie nicht, wie sie positiv mit Männlichkeitsbildern in Verbindung treten können. ➤ Jungen setzen sich mit patriarchalen Verhältnissen und Unterdrückungs- und Abwertungsinstrumenten gegenüber Mädchen und Queers auseinander. Sie zeigen Solidarität, denken darüber nach, ob sie Feministen sein können oder doch eher Allys, um jungen Frauen nicht deren Kämpfe wegzunehmen. Auch viele Jungen finden, dass die Geschlechterverhältnisse nicht gerecht sind und dringend geändert werden müssen. ➤ Schwulsein ist immer noch das Gegenteil akzeptierter Männlichkeit, weshalb gerade homosexuelle Liebensweisen bei Jungen große Ängste und Schamgefühle auslösen. Sie fühlen sich nicht akzeptiert, ausgegrenzt, abgelehnt, und berichten über Gewalterfahrungen. ➤ Wenig Auseinandersetzung gibt es mit Körperthemen: Jungen beschreiben kaum ihr Verhältnis zum eigenen Körper und thematisieren auch nur selten, wenn sie von außen auf ihre Körper angesprochen werden. Auch das Thema Gewalt - eine Erfahrung, die viele Jungen mit ihrem Körper machen - wird selten thematisiert. Wenn dies doch geschieht, dann beschreiben Jungen eher eine Hilflosigkeit, mit dem eigenen Körper umzugehen oder ihn zu zeigen, wenn er nicht den gängigen Schönheitsidealen entspricht. Auch Nacktheit wird als Problem beschrieben, weil die Annahme vorherrscht, dass der nackte männliche Körper immer sexualisiert (betrachtet) wird. ➤ Besonders das Thema Gefühle ist bei Jungen stark tabuisiert. Nicht nur, dass sie Gefühle nur in klar definierten Sequenzen zeigen dürfen (z. B. beim Torjubel bzw. Wettkampfende oder in Extremsituationen wie Tod und Geburt), Jungen verlernen so das Empfinden von Gefühlen („Stell dich nicht so an! “, „Das ist kein Mädchensport“, „Ein Indianer kennt [sic! ] keinen Schmerz“), sind dann oft emotional verwirrt und gelten als ‚gefühlskalt‘. 224 uj 5 | 2025 Wie Partizipation geschlechtergerecht gelingen kann ➤ Trans* Jugendliche beschreiben auf „meinTestgelände“ zwei wichtige Themenbereiche: zum einen die innere und körperliche Anpassung, die oft wie das Erreichen eines großen Ziels positiv beschrieben wird. Zum anderen die Akzeptanz durch andere Menschen, die oftmals viel weniger positiv bewertet wird. Zu den schwersten Hürden gehört die Verweigerung der Anerkennung ihres Geschlechts: „Er war früher ein Mädchen“, „Sie ist ja gar kein richtiges Mädchen“, „Trans Jungen können nicht in Angebote der Jungenarbeit gehen und auch nicht in die Mädchenarbeit“, sind Zuschreibungen, die verletzen und ausgrenzen und ihnen das Gefühl vermitteln, eigentlich nirgendwo einen Platz zu haben. Sie bewegen sich scheinbar außerhalb der Geschlechtermatrix, obwohl gerade trans* Jugendliche sich intensiv mit ihrer Geschlechtszugehörigkeit beschäftigen und sich sehr klar bewusst sind, welchem Geschlecht sie angehören. Gender matters - leider In Bezug auf Geschlechterfragen geht es im Kern häufig um Abweichungen und Zuschreibungen, nur mit unterschiedlichen Themen. Deutlich wird aber in der Zusammenschau der vielen Beiträge von Jugendlichen auf „meinTestgelände“, dass die Geschlechtsidentität in der Jugendphase viele Probleme bereitet. Weil aber eine Gleichberechtigung der Geschlechter proklamiert wird und die falsche Annahme besteht, dass Geschlecht heute keine Rolle mehr spielt, sind all diese Probleme, die Jugendliche beschreiben, schwierig ansprechbar und die Bewältigung wird dadurch individualisiert. Umso wichtiger sind Gendermagazine wie „meinTestgelände“, in dem Jugendliche sagen können, welche Probleme sie mit Geschlechterthemen haben, und in dem Fachkräfte und Erwachsene lesen können, was Jugendliche bewegt, um sie besser zu verstehen. Dr. Claudia Wallner Scheibenstr. 102 48153 Münster Literatur Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) (Hrsg.) (2025): Klischeefrei. Initiative zur Berufs- und Studienwahl. In: https: / / www.klischee-frei.de/ de/ klischeefrei_53412. php, 6. 2. 2025 Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e. V. (bvkm) (Hrsg.) (2024): MiMMi - Mädchen-Mitmachmagazin-Mittendrin. In: https: / / bvkm. de/ ueber-uns/ unsere-magazine/ #mimmi, 4. 2. 2025 Bundesverband Trans* (2017): Trans* - Ja und? ! Projekt für Empowerment und gegen Diskriminierung von jungen trans* Menschen. In: https: / / www.trans jaund.de/ , 4. 2. 2025 Heinrich-Böll-Stiftung e.V. (Hrsg.) (2025): Gender-Mediathek. In: https: / / gender-mediathek.de/ de, 6. 2. 2025 Queerblick e. V. (o. J.): Das Medienprojekt für schwule, lesbische, bisexuelle und trans* Jugendliche. In: www.queerblick.de/ , 4. 2. 2025 Scholz, B. (o. J.): https: / / www.jungsfragen.de/ , 4. 2. 2025 Links zum Projekt www.meintestgelaende.de https: / / www.instagram.com/ meintestgelaende/ https: / / www.youtube.com/ @Durch_die_Blume (Jungenkanal von „meinTestgelände“) https: / / www.geschlechtersensible-paedagogik.de/ https: / / www.instagram.com/ geschlechtersensibel/ https: / / www.facebook.com/ groups/ geschlechter paedagogik https: / / www.geschlechtersensible-paedagogik.de/ category/ projekt/ veroeffentlichungen/