unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2025.art38d
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2025
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Sozial oder parasozial? Anmerkungen zur Beziehungsqualität junger Menschen in den Sozialen Medien
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2025
Maria Kurz-Adam
Die Sozialen Medien beherrschen heute längst schon den Alltag von Kindern und Jugendlichen. Über die Schäden für die Entwicklung junger Menschen wird seitens der Pädagogik gewarnt, die Möglichkeiten werden oft pauschal kritisch gesehen. Zwei aktuelle Bücher – Johanna L. Degens „Swipe, like, love“ und Jacob Johanssens „Zwischen Eskalation und Selbstkontrolle“ – wählen den differenzierten Weg, über die digitale Beziehungssuche und das Bedürfnis junger Menschen nach Selbstfindung in der digitalen Welt nachzudenken. Obwohl Soziale Medien die Formen der Beziehungsgestaltung verändern und der Selbstdarstellung scheinbar freien Lauf lassen, bleiben die Grundbedürfnisse junger Menschen nach Verbundenheit und Anerkennung unverändert.
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340 unsere jugend, 77. Jg., S. 340 - 346 (2025) DOI 10.2378/ uj2025.art38d © Ernst Reinhardt Verlag Sozial oder parasozial? Anmerkungen zur Beziehungsqualität junger Menschen in den Sozialen Medien Die Sozialen Medien beherrschen heute längst schon den Alltag von Kindern und Jugendlichen. Über die Schäden für die Entwicklung junger Menschen wird seitens der Pädagogik gewarnt, die Möglichkeiten werden oft pauschal kritisch gesehen. Zwei aktuelle Bücher - Johanna L. Degens „Swipe, like, love“ und Jacob Johanssens „Zwischen Eskalation und Selbstkontrolle“ - wählen den differenzierten Weg, über die digitale Beziehungssuche und das Bedürfnis junger Menschen nach Selbstfindung in der digitalen Welt nachzudenken. Obwohl Soziale Medien die Formen der Beziehungsgestaltung verändern und der Selbstdarstellung scheinbar freien Lauf lassen, bleiben die Grundbedürfnisse junger Menschen nach Verbundenheit und Anerkennung unverändert. von Dr. Maria Kurz-Adam Diplompsychologin, ehemalige Professorin für Psychologie in der Sozialen Arbeit, ehemalige Leiterin des Stadtjugendamtes München, Autorin mehrerer Bücher Kinder und Jugendliche wachsen mit Sozialen Medien auf, deren mobile Nutzung am Handy Alltag ist und eine Selbstverständlichkeit in ihrer Lebenswelt darstellt. Das Fachgebiet Medienkompetenz ist seit vielen Jahren ein eigener Bereich in der Kinder- und Jugendarbeit. Digitale Kompetenz wird mittlerweile nicht mehr geübt, sondern in den Schulen vorausgesetzt; eine moderne Ausrüstung mit Endgeräten und ihre technische Beherrschbarkeit kennzeichnen eine fortschrittliche Pädagogik, welche die Zeichen der Zeit liest und mit der Geschwindigkeit und Ausdifferenzierung medialer Möglichkeiten mithalten will. Der pädagogische Blick auf die Welt der Sozialen Medien und die Bewegungen, die junge Menschen darin vollziehen, ist zugleich immer ambivalent. So sehr eigenständige Kompetenz erwartet wird, so argwöhnisch wird die Eigenständigkeit der Kinder und Jugendlichen in den digitalen Welten beobachtet. Sie lässt sich allen technischen Versuchen der Sperrung, Eingrenzung oder (vermeintlichen) Aufklärung zum Trotz nur schwer kontrollieren, und die Beziehungen, die Kinder und Jugendliche in der digitalen Welt eingehen oder aufbauen, folgen ihren eigenen Gesetzen, die mit der pädagogisch erwünschten Qualität sozialer Beziehungen (respektvoll, wertschätzend, verlässlich) kaum vergleichbar sind. Auf Tinder, OnlyFans, Instagram, Tiktok und vielen anderen Apps entsteht ein Universum der parasozialen Beziehungen, das längst den pädagogischen Raum der Medienkompetenz verlassen hat. Diese parasoziale Sphäre ist eine Welt, die strukturell un- 341 uj 7+8 | 2025 Beziehungsqualität junger Menschen in den Sozialen Medien endlich ist. Sie verspricht Spaß und Ablenkung, Freude und Lust, sie kann voll von Trost und Hilfe sein, von möglicher Selbstbestimmung und Selbstfindung. Aber ebenso ist diese parasoziale Beziehungswelt eine Sphäre der Enthemmung, in der Mobbing, Machtmissbrauch, Gewalt und eine völlige Entwertung des Subjekts stattfinden kann. Die Gefahr der Grenzüberschreitung, in der das Subjekt zum Objekt des Digitalen wird, ist ein alltägliches Risiko, ebenso die Gefahr der Enttäuschung und des Kummers. Die Möglichkeit der Unendlichkeit ist immer auch die Möglichkeit vollkommener Leere. Wie können Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in dieser Welt wachsen? Wie bildet sich heute in der Lebenswelt parasozialer Beziehungen in den jungen Menschen ein stabiles Selbst aus, eine Form der sicheren Identität, die sich in diesen unendlichen Möglichkeiten zurechtfindet, sich behaupten und entwickeln kann? Welche Auswirkungen haben Dating-Apps und -Plattformen und das Geschäft des Influencing auf die Formung eines sozialen Selbst, dessen Ausbildung auf die Verbundenheit und Spiegelung der anderen angewiesen ist? Vor Kurzem sind im Psychosozial-Verlag in der neu aufgelegten Reihe „Gegenwartsfragen“ zwei Bände erschienen, die einige Antworten auf diese Fragen bereitstellen: „Swipe, like, love“ von Johanna L. Degen (siehe auch das Interview im Anschluss an diesen Beitrag) befasst sich mit der Frage nach „Intimität und Beziehung im digitalen Zeitalter“, Jacob Johanssen stellt in seinem Buch „Zwischen Eskalation und Selbstkontrolle“ die Frage nach der „Ent/ Hemmung im Digitalen“. Beide Bände richten sich an interessierte Lesende ebenso wie an die Professionen psychosozialer Forschung und Praxis. Sie handeln zwar nicht unmittelbar von der medialen Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, aber sie sind eine Quelle und Inspiration für alle Menschen, die sich in ihrer Arbeit mit dem Aufwachsen, der Entwicklung und der Gegenwart der Lebenswelt von jungen Menschen befassen. Parasoziale Begegnung als Ersatz und Erweiterung „Swipe, like, love“ ist der Titel des kleinen und sehr lesenswerten Buches von Johanna L. Degen, die als Sozialpsychologin an der Europa-Universität Flensburg zu Beziehungen und Liebe im Kontext digitaler Entwicklung lehrt und forscht. Welche Einflüsse und welche sozialen und psychischen Veränderungen finden statt, wenn Begegnung und Liebe heute ein Gegenstand technischer Algorithmen werden? Wie werden Gefühle in die Sprache und die Regeln technisierter Begegnung übersetzt? Was bewegt Menschen dazu, in diese Welt der technisierten Begegnung einzutauchen und darin oft lange zu verharren? Was bringt sie dazu, sie wieder zu verlassen? Welche Möglichkeiten bietet eine parasoziale Beziehung, wie sie auf den Kanälen der Influencer: innen millionenfach (auf-)gesucht wird? Die Fragen, die Degen in ihrem Band stellt, führen tief hinein in die gegenwärtige Praxis des Onlinedatings, in die Hoffnungen und Wünsche unzähliger Nutzer: innen - aber mehr vielleicht noch in die substanzielle Frage nach der Bildung eines Selbst, das sich in diesem Meer von Beziehungsmöglichkeiten zurechtfinden muss und das am Ende nicht um die Frage herumkommt, was ein gutes Leben ist. Bevor die Beziehung beginnt, treffen die Nutzer: innen des Onlinedatings Vorkehrungen. Es geht immerhin um Zeit, die investiert wird, sowie um Selbstdarstellung und -entblößung, um Erwartungshaltungen und den Schutz vor Enttäuschung und Zurückweisung. Fragile Kontaktaufnahme heißt die Überschrift eines Abschnitts in Degens Buch. Darin wird die von Beginn an bestehende Ambivalenz der Beziehungssuche in der digitalen Welt beschrieben. Teil dieser Fragilität ist das ‚Ghosting‘, die einseitige Auflösung des Kontakts per Button oder Blocken. Bevor eine Beziehung beginnt, wird sie schon abgebrochen. „Beim Dating haben 100 Prozent aller Nutzerinnen und Nutzer schon Ghosting erlebt und knappe 100 Prozent schon selbst geghostet. Es ghosten also alle…“ (Degen 2024, 22). 342 uj 7+8 | 2025 Beziehungsqualität junger Menschen in den Sozialen Medien Eine Besonderheit des digitalen Beziehungsaufbaus ist die Vorsicht, die in der Lücke der Asynchronität des digitalen Beziehungsaufbaus möglich ist. Die Pause, die im digitalen Vermittlungsprozess erzeugt wird, ist der spannungsvolle Raum, in dem die Nutzer: innen über sich selbst reflektieren und in sich zurückziehen können - die Pause ist der kleine Raum der Selbstbestimmung im Netz: „Was gebe ich von mir preis, was lasse ich weg, wie stelle ich mich in einem besseren Licht dar, wann ziehe ich wie Grenzen? “, fragen sich die Nutzer: innen und entscheiden danach, ob sie den Raum wieder schließen oder weitermachen (Degen 2024, 24). Trotz seines zweifelhaften Rufes (es gehe nur um unverbindlichen Sex, die Nutzung selbst sei für das Leben/ die Beziehungen/ die Psyche toxisch) geht vom Onlinedating weiterhin eine erhebliche Attraktivität aus. Es löse, so schreibt Degen, Probleme, die in der modernen Gesellschaft entstanden sind - knappe Zeitfenster, wenige Begegnungsmöglichkeiten in der leiblichen Welt und hohe Mobilität erschweren heute das Finden und Bilden von Beziehungen. Nicht allein die große mögliche Reichweite von Begegnungen im Netz ist attraktiv. Mehr noch ist Onlinedating eine Möglichkeit, die Kontaktaufnahme in einem sicheren und selbstbestimmbaren Raum zu trainieren. Schüchternheit und Angst können überwunden werden, der (Furcht vor) Einsamkeit kann entgegengetreten werden, das Selbst erfährt Konturen durch die eigene und fremde Spiegelung, „man zeigt sich, bekommt Feedback, kann unverhohlen beobachten und schauen“ (Degen 2024, 27). Dieses Potenzial parasozialer Begegnung übt nicht nur für junge Menschen eine erhebliche Anziehung aus - Onlinedating ist generationenübergreifend und mitten im Leben, es ist Teil unserer Begegnungskultur und des Sozialen, das sich in der parasozialen Beziehungssuche spiegelt. Aber das soziale Selbst setzt sich auch einer Gefahr aus, die alle Selbstoptimierung mit sich bringt: sich den Stereotypen, die in den Sozialen Medien gebildet werden, zu unterwerfen. Bitte attraktiv, gesund und unkompliziert heißt daher ein Abschnitt des Buches. Darin wird deutlich, dass die vermeintlich unendlichen Möglichkeiten der Begegnung in die Konformität sozialer Erwartungen münden. Wie muss eine perfekte Frau, ein perfekter Mann aussehen und sich entsprechend zeigen? Wie muss ich mich präsentieren, damit ich attraktiv genug bin? Was muss ich korrigieren, wie muss ich mich anpassen? Das hässliche Selbst und die schönen Anderen heißt daher ein weiterer Abschnitt im Kapitel über die „Auswirkungen auf das soziale Selbst“, die vor allem darin münden, dass das Selbst sich zum Produkt macht, um der Zurückweisung zu entgehen und im Strom gleichförmiger Erwartungen mitzuschwimmen. Die Angst, etwas zu verpassen, steigt, die Angst vor Zurückweisung wird Teil der Nutzungsgefühle - Erschöpfung setzt ein. Die „Tinder Fatigue“ oder „Mobile Online-Dating- Erschöpfung“ wird zu einer neuen zivilisatorischen Psychodiagnose (Degen 2024, 42). Erfolg und Erschöpfung Dieser Befund einer anhaltenden Erschöpfung in der digitalen Beziehungssuche zeigt sich auch in der Welt der parasozialen Beziehungen, wie sie vor allem in der Nutzung der Influencing- Kanäle inszeniert wird. Trotz ständigem Kontaktangebot wirkten, so schreibt Degen angesichts der Forschungsbefunde, parasoziale Beziehungen vereinzelnd. Auch in der digitalen Welt wissen die Menschen, die dort Beziehungen suchen, intuitiv, dass diese Welt eine Scheinwahrheit ist. Konkrete Hilfe ist dort kaum zu erwarten. „Salopp gesagt bei der Lieblingsinfluencerin einziehen, wenn man in Wohnungsnot ist, wird auf jeden Fall nichts“ (Degen 2024, 125). In der Welt des Influencing ist alles irgendwie unwahr, indem es der binären Struktur des Entweder-oder unterworfen ist. Es gibt nur ‚following‘ und ‚unfollowing‘, es gibt Meinungsblasen, die jede abweichende Meinung diskreditieren, es gibt feste Bilder vom Geschlechterverhältnis und damit verbunden massive Abwertung von sozialer Diversität. Auf einigen 343 uj 7+8 | 2025 Beziehungsqualität junger Menschen in den Sozialen Medien Kanälen herrschen unverstellte Misogynie, Homophobie und offene Hetze gegen queere Personen. Die Welt der parasozialen Beziehungen fußt - selbst wenn Kanäle wie Instagram oder Youtube dem mit künstlicher Vielfalt entgegenzuwirken versuchen - auf dem „Einfachen und Dichotomen“ (Degen 2024, 127). Eine Verkürzung tritt ein: es gibt nur hässlich oder schön, gut oder böse, langweilig oder spannend, beliebt oder unbeliebt. Gibt es eine positive Nutzung der parasozialen Beziehungssuche und Beziehungswelt? Natürlich kenne jeder, so Degen, im Bekanntenkreis ein Paar, das sich über eine Dating-App kennengelernt hat. Es gibt Zeichen des Erfolgs und des Gelingens parasozialer Beziehungen, die sich in der Wirklichkeit bewähren. Auch in der parasozialen Welt kann Einsamkeit überwunden werden und ein Selbstbild entstehen, wenn gute Vorbilder gefunden werden oder sich eine Gemeinschaft bildet, eine ‚community‘, in der Verbundenheit erlebt wird. Gerade vulnerable Gruppen wie etwa queere Personen erleben die Beziehungswelt in den Sozialen Medien oftmals als hilfreichen Zugang. Onlinedating ist (manchmal) ein Erfolgsmodell, „vor allem, wenn die App nunmehr die einzige erlebte Möglichkeit der Begegnung in einem ansonsten resonanzarmen und politisch riskanten öffentlichen Raum darstellt“. Aber, so fragt Degen: „Sind das wirklich Good News? “ (Degen 2024, 130) Pädagogik und Emanzipation in der digitalen Welt Kinder und Jugendliche stehen im Fokus, wenn es um die Frage nach der richtigen oder unbedenklichen Nutzung Sozialer Medien geht. Soziale Medien geraten dann zum pädagogischen Raum, der durch geeignete erzieherische Impulse eingefriedet werden soll, um Gefahren und Risiken für die kindliche und jugendliche Entwicklung abzuwenden. Die pädagogische Inszenierung der Welt der parasozialen Beziehungen nimmt jedoch eine Trennung vor, die in der Welt der Nutzer: innen nicht besteht. Sie trennt in einen vermeintlich pädagogisch erreichbaren Raum und eine Welt freier Möglichkeiten. Aber das Spiel mit den Möglichkeiten steht allen offen, den Kindern, den Jugendlichen, auch den Pädagog: innen selbst. Auch sie spielen mit im Spiel des „swipe, like, love“, auch sie setzen sich der technisierten Dichotomie aus, leben wie ihre jugendliche Zielgruppe mit der leisen Erwartung, dort etwas Neuem oder Spannendem zu begegnen. Das Handy ist heute für nahezu alle Menschen „ständiger Begleiter und Bestandteil des Alltags“ (Degen 2024, 123), „es liegt unterm Kopfkissen, sitzt beim Familiendinner mit am Tisch, navigiert einen geografisch und wird habituell zur Verlängerung des Selbst“ (Degen 2024, 123). Das Handy, das wir alle nutzen, wirkt auch auf unser Selbst und unsere Beziehung zur Welt. Es sind nicht die anderen, die zur Zielgruppe pädagogischen Handelns werden sollen, nicht die Kinder und Jugendlichen, die zu einem kompetenten Selbst erzogen werden müssen. Wir, die Erwachsenen, müssen uns zuallererst selbst erziehen. In ihrem Buch schlägt Johanna Degen keinen dystopischen Ton an. Die Zukunftsaussichten medialer Nutzung sind, wie sie sind, und die Welt der parasozialen Beziehungen wird weiterhin milliardenfach genutzt werden. Aber sie zeigt uns, welche Möglichkeiten bestehen, um vor allem der überbordenden und erschöpfenden Nutzung Sozialer Medien ein Gegengewicht zu geben. Wenn die Warnzeichen - das Gefühl, Zeit zu verschwenden, Angst zu haben, gegen die innere Stimme zu handeln, mehr zu investieren, als man eigentlich will - den Alltag bestimmen, ist es Zeit, über die eigenen Erwartungen an ein lebenswertes Leben nachzudenken. Ist dies das Leben, das ich führen möchte? Degen antwortet darauf, dass „Resonanz und ein angeeignetes Leben trotz und mit Technisierung gelingen können“ (Degen 2024, 141). Eine Möglichkeit ist die kreative Aneignung Sozialer Medien - Musik produzieren, Kunst schaffen, Rezepte nachkochen und sich darüber austauschen, feste Kontakte halten und Reisen planen 344 uj 7+8 | 2025 Beziehungsqualität junger Menschen in den Sozialen Medien sind Aktivitäten, die das Selbst als Subjekt stärken und formen und als befriedigend erlebt werden. Eine andere Möglichkeit wäre die „Slow-Nutzungsweise“, die anderen Äußerungen des Selbst Zeit einräumt und die Erfahrung des eigenen Körpers in der Wirklichkeit spürbar macht - Sport, Bewegung, Kochen, ein Buch lesen, - alles, was die Beziehung zum Selbst in der wirklichen Welt erlebbar macht, kann dabei helfen, sich dem Sog der parasozialen Welt zu entziehen und das eigene Nutzungsverhalten zu reflektieren. Insgesamt gehe es wohl darum, die Nutzung der Sozialen Medien „bewusst zu gestalten - zu nutzen, nicht benutzt zu werden“ (Degen 2024, 140). Das freudsche Diktum zu psychischer Autonomie und Heilung - Wo Es war, soll Ich werden - hat auch in der technisierten Beziehungswelt Bestand. Licht in die Finsternis des Hasses - Ent/ Hemmung in der digitalen Welt Wie sehr das „Es“, der innere Ort unserer Triebe und unbewussten Wünsche, das Verhalten im Netz beherrscht, zeigt Jacob Johanssen in seinem spannenden und mit vielen Beispielen gefüllten Buch „Zwischen Eskalation und Selbstkontrolle - Zur Ent/ Hemmung im Digitalen“ auf, das ebenso aktuell in der Reihe „Gegenwartsfragen“ des Psychosozial-Verlags erschienen ist. Jacob Johanssen lehrt an der St. Mary’s University in London, seine Forschungsschwerpunkte liegen auf einem psychoanalytischen Zugang zur Kultur, den digitalen Medien und ihrer zivilisatorischen Geschichte und Bedeutung. Die psychoanalytische Theorie - Johannsen beruft sich vor allem auf Sigmund Freud und Jaques Lacan - leuchtet in die Finsternis der Empörungskultur und der Zurschaustellung der Körper in der digitalen Welt und sucht die tiefsten Bedürfnisse ihrer Nutzer: innen zu verstehen. Der psychoanalytische Zugang lässt sich von der Zurschaustellung der Enthemmung nicht täuschen. Das Internet sei, so schreibt Johanssen eindrucksvoll, nicht allein ein Ort der Enthemmung, in dem Hass und Pornografie im Übermaß gezeigt und konsumiert werden. Es ist ebenso ein Ort, in dem die Hemmungen der Gegenwart in ihrem Gegenbild der Enthemmung erscheinen. „Gerade die Psychoanalyse zeigt, dass dort, wo Enthemmung stattfindet, auch immer Hemmung vorhanden ist und umgekehrt. Aus diesem Grund führe ich den Begriff der Ent/ Hemmung ein“ (Johanssen 2024, 37). Innere Hemmung ist jedoch kein Zustand, der immer und überall der Auflösung bedarf, um dem Subjekt die absolute Freiheit zu ermöglichen. Vielmehr ist die innere Hemmung eine Voraussetzung der Zivilisation, die auf der Einhaltung von Geboten und Regeln beruht. Ohne die Fähigkeit, unsere Bedürfnisse und Wünsche zu kontrollieren, würde, so die tiefe Überzeugung Sigmund Freuds, die Zivilisation in Gewalt zerfallen. Was aber suchen die Menschen, die sich in der digitalen Welt vermeintlich enthemmt zeigen und dort ihren Hass, ihren Körper, ihre Sexualität zur Schau stellen? Welche Wünsche bewegen sie, mit welchen Hemmungen, die sich in ihrer Enthemmung verbergen, haben sie zu tun? Enthemmung und Unterwerfung Die digitale Welt verspricht ihren Nutzer: innen, alles zu sein, sich ohne Verbote zu äußern, endlosen Zugang zum Genuss zu haben, endlich gesehen zu werden. Aber ohne Feindbild funktioniert der Hass nicht, ohne die Sehnsucht nach Anerkennung funktioniert die Zurschaustellung nicht. Es braucht immer einen anderen, an den sich die Nutzer: innen binden. Ohne Feind, ohne Publikum läuft die Enthemmung in der digitalen Welt ins Leere. Dies ist die Logik der Ent/ Hemmung, die den „Autoritären Charakter“, wie ihn schon Erich Fromm oder Theodor W. Adorno in ihrer Analyse des Antisemitismus beschrieben haben, kennzeichnet. Im enthemmten Hass gegen einen Feind, gegen ein Feindbild, ist auch der pervertierte Wunsch enthalten, von einer Autorität, einem „Großen Anderen“, wie dies der Psychoanalytiker Jaques 345 uj 7+8 | 2025 Beziehungsqualität junger Menschen in den Sozialen Medien Lacan nennt, anerkannt zu werden. Lacan selbst hat diesen Begriff des „Großen Anderen“ im Raum des Symbolischen angesiedelt - der „Große Andere“ steht symbolisch für das Gesetz, dem sich das Ich beständig unterwirft, um Anerkennung zu bekommen. Angesichts der potenziell unendlichen Masse von Nutzer: innen der digitalen Beziehungswelt bekommt dieser Begriff heute nahezu eine konkrete Bedeutung. Der endlose digitale Raum ist der „Große Andere“, in dem sich die ent/ hemmten Nutzer: innen zugleich entblößen und unterwerfen. Der Wunsch nach einer Hemmung durch eine äußere Autorität, durch diesen „Großen Anderen“, ist in der Zurschaustellung der Enthemmung immer enthalten. Zugleich zeigt ungehemmter Hass seine extreme Bindung an das Objekt, das gehasst wird. Die Freiheit in der Enthemmung ist nur Schein. Ungehemmter Hass ist immer auch Ausdruck von Abhängigkeit und Wunsch nach völliger Kontrolle. Ent/ Hemmung in der digitalen Beziehungswelt ist also immer eine unterworfene Ent/ Hemmung unter ein Feindbild, eine Autorität oder ein imaginäres Publikum. Ebenso ambivalent verhält es sich mit dem Versprechen der digitalen Welt nach ungehemmtem, immer verfügbarem Genuss. Die Darstellung des ungehemmten Genusses in den amateurpornografischen Videos ist zugleich gehemmter Genuss, weil in der allseits verfügbaren Sichtbarkeit die Individualität, die Besonderheit, die Einzigartigkeit des Subjektes verschwindet. Wenn wir die zivilisatorischen Verbote aufheben und uns scheinbar befreit alle erdenkbaren Wünsche im digitalen Raum der Websites und Apps erfüllen, wenn wir sie sichtbar machen, ihren geheimen Räumen entlocken, dann verschwindet gerade das, was uns am Leben hält - die innere Kraft des Wunsches selbst. Am Ende bleibt die Enttäuschung, „weil die Enthüllung des Geheimnisses das Vergnügen nicht aufdeckt, sonders es im Gegenteil vernichtet“ (McGowan 2003, zit. nach Johanssen 2024, 36). Wenn alles gesehen werden kann, bleibt nichts mehr zu sehen. Der kreative Zweifel als Gegenbild zur Ent/ Hemmung Jacob Johanssen weist in seinem Buch auf die besondere Verletzlichkeit der jungen Menschen hin, die in der digitalen Welt unterwegs sind. Am Beispiel der Selfies, die sich in zahllosen Formen im Netz finden, zeigt er die fragile Verflochtenheit der inneren und äußeren Welt der jungen Nutzer: innen auf. Selfies sind für sie ein „Mittel zur Selbstinszenierung und um Anerkennung zu erlangen“ (Johanssen 2024, 115). Aber dieses Mittel ist angesiedelt in einer Lebenszeit intensiver Suche und eines intensiven Wandels, einer Zeit einer besonderen Verletzlichkeit. Daher ist das Selfie mehr als nur ein inszeniertes Foto, sondern immer auch eine Äußerungsform des „ängstlichen Narzissmus“ (Johannsen 2024, 115). Das Selfie sei, so Johanssen, „ein relationales Konstrukt, das sowohl Selbstvertrauen als auch Selbstzweifel ausdrückt“. Denn jedem Selfie „sind immer auch Selbstzweifel immanent, ob man gut genug aussieht, ob man genug Likes bekommt usw. Diesen Hemmungen zum Trotz lädt man ein Selfie hoch. Dies stellt auch immer einen Akt der Überwindung dar, der das Subjekt verletzbar macht und gleichzeitig seine Verletzlichkeit offen zur Schau stellt“ (Johanssen 2024, 115). Das Risiko des „ängstlichen Narzissmus“ ist die öffentliche Beschämung. Wie können gerade junge Menschen in diesen digitalen Mechanismen von Anerkennung und Beschämung ihren Weg finden, um sich selbst zu finden, zu fühlen, die eigenen Grenzen im entgrenzten Raum der digitalen Welt zu definieren? Johanssen führt uns zurück in die Wirklichkeit der Zeit. In jeder Zeit, die wir in der digitalen Welt aufwenden, gibt es den Moment der Pause, mag sie auch noch so klein sein. Johanssen nennt diesen Moment den Zweifel. Er ist die zögerliche Möglichkeit, die in der Nutzung der digitalen Welt vielfach zu fehlen scheint. Aber gerade dort, wo der Zweifel seinen Ort findet, wird die Kreativität in der Nutzung der digitalen Welt möglich. Sie ist 346 uj 7+8 | 2025 Beziehungsqualität junger Menschen in den Sozialen Medien dann nicht nur Konsum, sondern auch Schaffensraum, Spielraum, aber eben auch Raum, der dem Zweifel offensteht. Jeder Zweifel bedeutet ein Zögern. Jedes Zögern bedeutet Entschleunigung. Jedes Zögern kann zum Ausdruck einer zivilisatorisch notwendigen inneren Hemmung werden. „Ein Innehalten und Anerkennen, dass bestimmte Formen der Enthemmung nicht die gewünschte Aufmerksamkeit und Anerkennung bringen“, so schreibt Johanssen am Ende seines Buches, „wäre ein erster Schritt zu einer anderen Form der Ent/ Hemmung. So viele Aspekte des Menschen und der Kultur sind sowohl vom Loslassen als auch vom Festhalten geprägt. Es beginnt schon beim Ein- und Ausatmen“ (Johanssen 2024, 160). Soziale Beziehungen lassen sich in ihrem Wert nicht gegen parasoziale Beziehungen ausspielen. Es genügt nicht, wie Johanna L. Degen in ihrem Interview sagt, die jungen Menschen darauf hinzuweisen, dass parasoziale Beziehungen nicht real und soziale Beziehungen die bessere Option seien. Die Wirklichkeit ist nicht immer die bessere Alternative. Das wissen wir alle, wenn wir in der digitalen Welt unterwegs sind und ihren vielgestaltigen Versuchungen der Ent/ Hemmung zu erliegen drohen. Aber beide Autoren: innen zeigen, dass es in allen Beziehungswelten immer Wege der Selbstermächtigung und der Autonomie geben kann. Wenn wir den Zweifel nutzen, die zögerliche Pause zwischen Ein- und Ausatmen, zwischen ‚follow‘ und ‚unfollow‘, ja oder nein ein wenig ausweiten, um uns in dieser Stille zu fragen, welches Leben wir jetzt, in diesem Moment der stillen Pause führen wollen, dann wäre das wohl ein erster Schritt zu einem guten Leben. Dr. Maria Kurz-Adam E-Mail: kurz.adam@t-online.de Literatur Degen, J. L. (2024): Swipe, like, love. Intimität und Beziehung im digitalen Zeitalter. Psychosozial-Verlag, Gießen Johanssen, J. (2024): Zwischen Eskalation und Selbstkontrolle. Zur Ent/ Hemmung im Digitalen. Psychosozial-Verlag, Gießen McGowan, T. (2003): The End of Dissatisfaction? Jaques Lacan and the Emerging Society of Enjoyment. Suny Press, Albany
