Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Der Trend
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Heinz Bach
Für jedes Heft wird ein Repräsentant oder eine Repräsentantin eines heilpädagogischen Fachgebiets dazu eingeladen, einen persönlich gefärbten Kurzbeitrag zu voraussichtlichen Trends der kommenden Jahre in Forschung, Theorie und Praxis zu verfassen. In den ersten Nummern der neuen VHN lassen wir nochmals einige Personen zu Wort kommen, welche die deutschsprachige Heil- bzw. Sonderpädagogik in früheren Jahrzehnten maßgeblich geprägt haben.
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304 Was eigentlich ist der Trend? Das von selbst sich Tragende, Verstärkende? Das Sicherheit Gebende? Das Erfolg Versprechende? Die Geborgenheit in der Wahrheit? Das nicht zu Hinterfragende? Die Suggestion der Richtigkeit? Die Aufforderung zu unkritischer Gläubigkeit? Die Entlastung von eigenen Wertentscheidungen? Das bereits Entschiedene? Das Forschung entbehrlich Machende? Das offene Fragen Zuscharrende? Das goldene Kalb der Heil-, Sonder-, Behinderten-, Rehabilitationspädagogik? Oder sollte Trend das Aufspüren der offenen oder gar unbequemen Fragen sein? Das der Kritik, des Widerspruchs Bedürftige? Das Unsicherheit Stiftende, das wütend, verzweifelt Machende? Das Wiederaufgreifen der vermeintlichen Klarheiten? Der Unruheherd unter den Etablierten, Einflussreichen? Der Trend gegen den Trend? Der Abgesang auf die Prognosen? Prof. Dr. Heinz Bach Am Eselsweg 33 D-55128 Mainz Der Trend Heinz Bach Trend Für jedes Heft wird ein Repräsentant oder eine Repräsentantin eines heilpädagogischen Fachgebiets dazu eingeladen, einen persönlich gefärbten Kurzbeitrag zu voraussichtlichen Trends der kommenden Jahre in Forschung, Theorie und Praxis zu verfassen. In den ersten Nummern der neuen VHN lassen wir nochmals einige Personen zu Wort kommen, welche die deutschsprachige Heilbzw. Sonderpädagogik in früheren Jahrzehnten maßgeblich geprägt haben. VHN, 73. Jg., S. 304 (2004) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 305 Die Geschichte der pädagogischen Zuwendung zu behinderten Menschen ist eine Erfolgsgeschichte. Vor 200 Jahren war der Schulbesuch behinderter Kinder seltene Ausnahme. Das Bildungsrecht wurde ihnen verwehrt. Es war nicht damit zu rechnen, dass sie einmal ihren Lebensunterhalt in Arbeit und Beruf verdienen würden. Heute halten die Industriestaaten ein differenziertes System der Früherziehung, der Schulbildung und der beruflichen Eingliederung bereit. Selbst für Schwerstbehinderte ist Sorge getragen. Der Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit fällt also zugunsten der ersteren aus. Dennoch sind wir nicht zufrieden. Im Frühbereich werden die Bildungschancen behinderter Kinder nicht genug genutzt. Schulische Aussonderung geht mit gesellschaftlicher Zurücksetzung einher. Die Arbeitslosigkeit behinderter Mitbürger ist überproportional hoch. Daraus resultieren berechtigte Forderungen: Es sind zusätzliche Investitionen zur Veränderung der Zustände erforderlich. Neue Solidarität mit den Benachteiligten ist vonnöten. Im Maßstab einer Verbesserung des zukünftigen Lebens ist die Gegenwart des „schlecht Vorhandenen“, wie es Ernst Bloch genannt hat, weit zurück. Die Rückstände im Bildungswesen entsprechen den Defiziten, die infolge der demographischen Entwicklung in den Industrienationen mit zunehmender Verknappung öffentlicher Mittel im Gesundheitswesen, in der beruflichen Beschäftigung, in der sozialen Sicherung und in der Altersfürsorge entstanden sind. Der Sozialstaat erscheint nicht mehr bezahlbar. Fast alle hoch entwickelten westlichen Länder haben beträchtliche Haushaltsdefizite und immense Staatsschulden. Einschneidende Sparmaßnahmen und schmerzliche Kürzungen der sozialen Leistungen sind die Folge. Es ist absehbar, dass sich die Lage in den kommenden Jahrzehnten nicht wesentlich ändern wird. Die goldenen Zeiten des großzügigen Ausbaus der sozialen Hilfesysteme sind vorbei. Die Politik hat auf die entstandene Situation eine Antwort bereit. Sie setzt auf wirtschaftliches Wachstum. Kaum eine Ideologie spielt in der ordnungspolitischen Gegenwartsdiskussion eine größere Rolle. Sie nährt die Hoffnung auf höhere Prosperität, Wohlstand für alle (Ludwig Erhard), steigende Steuereinnahmen, Vollbeschäftigung, Sanierung der öffentlichen Kassen. Diese Option befindet sich indessen in einem unvereinbaren Gegensatz zu allen langfristigen Vorhersagen über die Grenzen des Wachstums, angefangen von den ersten Alarmmeldungen des Club of Rome in den sechziger und siebziger Jahren und endend bei Paul Kennedys Bericht (Preparing for the Twenty-First Century, 1993). Vorschnelle Kassandrarufe über einen bevorstehenden dramatischen Niedergang wären gewiss unangebracht. Wie oft haben sich die Prognosen geirrt. Wer zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert die heute selbstverständlichen Errungenschaften der Arbeitszeitverkürzung, des Kündigungsschutzes und der Krankheits- und Altersversorgung vorausgesagt hätte, wäre einer bedenklichen Illusion geziehen worden. Der Fortschritt ließ sich nicht aufhalten, und er schien keine Grenzen zu kennen. Aber: Kann es immer so weitergehen? Es gibt unzählige Anzeichen dafür, dass eine Wende gekommen ist. Die Bäume wachsen nicht in den Himmel. Ein Wachstum ad infinitum wäre ein perpetuum mobile des sich immerzu selbsttragenden Aufschwungs, der bekanntlich nicht auf Dauer funktioniert. Wenn diese Einsicht richtig ist, dann müssen wir umkehren. Dann müssen wir uns auf ein Weniger an sozialer Unterstützung auch für Hilfsbedürftige und Vernachlässigte einstellen. VHN, 73. Jg., S. 305 - 306 (2004) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zukunftsperspektive Ulrich Bleidick Trend Maßnahmen und Einrichtungen der Behindertenpädagogik werden davon betroffen sein. Es wird weniger Geld für die Früherziehung geben. Die Klassenmesszahlen werden nicht sinken; ein Zwei-Pädagogen-Schlüssel für integrative Schulplätze ist schon gar nicht finanzierbar. Die Lehrer müssen länger arbeiten, pro Woche und ihr Leben lang. Zusätzliche Arbeitsplätze für behinderte Menschen wird es nicht geben. Die Erfolgsgeschichte der Behindertenpädagogik würde sich durch immer neue utopische Promemorien, so berechtigt sie auch sein mögen, um die Früchte des Erreichten bringen, wenn sie sich den ökonomischen Zwängen verschlösse. Eine solche Feststellung ist weder konservativ noch pessimistisch. Wir benötigen durchaus Visionen zur Bemeisterung der Zukunft. Die Vision ist die einer realistischen Bescheidenheit: Sicherheit statt illusionärer Versprechungen, die das schlechte Gewissen der Beteiligten wecken. Ausgestaltung und Konsolidierung der bestehenden und bewährten Formen statt ihrer bloßen Vermehrung, allenfalls behutsame Evolution, so heißt die Devise: im Frühbereich, im Beieinander von Sondereinrichtungen und integrativen Projekten, in der Nutzung der verbliebenen Beschäftigungsmöglichkeiten und in der Vorbereitung auf ein sinnerfülltes Dasein ohne bezahlte Arbeit, in der Erprobung weiterer Therapien. Eine Wiedergeburt der westlichen Zivilisation wird erst dann beginnen, wenn Politiker ihr durchaus vorhandenes Wissen um die Grenzen der Ressourcen gestehen und bereit sind, um demokratische Mehrheiten für die Umsetzung der erforderlichen Restriktionen zu kämpfen. Verzicht auf eine trügerische und verderbliche Wachstums-Ideologie ist die Voraussetzung. Die Ambivalenz des Fortschritts um jeden Preis belastet uns schon jetzt: in der Ökologie, in der Globalisierung der Märkte, im Verkehrswesen. Wir haben längst eine Gesundheitsfalle. Durch die Segnungen der Medizin bleiben Frühgeborene mit schweren Beeinträchtigungen am Leben; Pflege und Fürsorge für Alte und Gebrechliche haben nicht nur lebensverlängernde Wirkung, sie bringen auch zusätzliches Leiden mit sich. Die Wachstumsfalle bilanziert Vor- und Nachteile: auf der einen Seite wirtschaftlicher Reichtum und Arbeit für alle, auf der anderen Seite Ausplünderung der nicht regenerierbaren Energien, Zerstörung der Umwelt, Freisetzung von Unqualifizierten, Entsolidarisierung gegenüber Hilfsbedürftigen. Es ist dies die aus der Soziologie bekannte Beziehungsfalle, die Zwickmühle, in der nur Vorzug und Dilemma zugleich zu haben sind. Arnold Toynbee (A study of history, 1934) hat einst die Kulturgeschichte als wiederkehrenden Zyklus von Entstehung, Wachstum und Auflösung beschrieben. Man muss nicht seinen Beispielen aus 21 Weltkulturen folgen. In der Kunstgeschichte kennen wir die Abfolge von Archaik, Klassik und Hellenismus, die Folge von Renaissance, Barock und Rokoko. Fürsorgebewegung und Heilpädagogik des späten 19. Jahrhunderts vertraten den Gedanken der Rehabilitation behinderter Menschen. 100 Jahre später sucht Integration die segregative Tendenz der Sonderpädagogik zu überwinden. Wo ihre Erwartungen unerfüllt blieben, verheißt das neue Jahrhundert eine Inklusion der Pädagogik, die alle Fälle erschwerter Erziehung in ihre Omnipotenz einschließt. Auflösungserscheinungen - nach Niklas Luhmann sind sie eine Komplexitätskomplexion - lassen beredte Beispiele sprechen. Wo einst in vergleichsweise archaischer Zeit der Heilpädagoge mit vielfachen Belastungen fertig werden musste, haben sich differenzierte Diagnostiken der Legasthenie und der Dyskalkulie, der Störung der Sensorischen Integration, der Hyperaktivität und des Aufmerksamkeits- Defizit-Syndroms bemächtigt, ohne dass der neuen Unübersichtlichkeit auch eine probate pädagogische Abhilfe entspräche. Wenn die Vision einer neuen Bescheidenheit eintrifft, dann geht sie vermutlich mit der größeren Verantwortung einer strikten Einfachheit einher. Prof. Dr. Dr. h. c. Ulrich Bleidick Kornblumenweg 49 D-21217 Seevetal Ulrich Bleidick 306 VHN 3/ 2004
