Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2004
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Aktuelle Forschungsprojekte (3/04)
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In dieser Rubrik stellt die VHN laufende Forschungsprojekte zu heilpädagogischen Fragestellungen in Kurzform vor. Für das Einholen weiterer Informationen durch interessierte Leserinnen und Leser geben die Autoren eine E-Mail-Adresse an. Wir bitten unsere Leserschaft um die Zusendung solcher Kurzberichte über laufende Forschungsprojekte.
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313 Projekt EVES Evaluation eines Vorschultrainings zur Prävention von Schriftspracherwerbsproblemen sowie Verlauf und Entwicklung des Schriftspracherwerbes in der Grundschule Jeanette Roos, Hermann Schöler Pädagogische Hochschule Heidelberg Im Rahmen des Projektes EVES werden die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten zweier Einschulungsjahrgänge (2001 und 2002) aus 16 Heidelberger Grundschulen über die gesamte Grundschulzeit hinweg längsschnittlich verfolgt. Ein Ziel des Projektes ist die Evaluation der in den Heidelberger städtischen Kindertagesstätten 2002 durchgeführten Vorschulprogramme (Würzburger Trainingsprogramm/ Buchstaben-Laut-Training), mit denen Vorläuferfertigkeiten für den Schriftspracherwerb trainiert werden sollen und die eingesetzt werden, um Probleme und Schwierigkeiten, die im Kontext des Schriftspracherwerbes auftreten können, zu mindern. Ein weiteres Ziel des Projektes ist die Beschreibung und Analyse der Entwicklung des Schriftspracherwerbs in Abhängigkeit von unterschiedlichen Faktoren: Als individuelle Voraussetzungen werden u. a. das Geschlecht, die kognitive Leistungsfähigkeit der Kinder sowie deren Schulleistungen, Ablenkbarkeit und Konzentrationsfähigkeit erhoben. Als soziokulturelle Merkmale dienen die Ein- oder Mehrsprachigkeit und die Sprachfertigkeiten des Kindes, die Besuchsdauer in Einrichtungen des Elementarbereiches sowie das Ausbildungsniveau der Eltern. Erfasste soziographische Faktoren sind Schul- und Klassenzugehörigkeit sowie Klassengröße. Zudem werden Angaben der Lehrpersonen zu den Methoden des Anfangsunterrichtes herangezogen. In den weiteren, jeweils zum Schuljahresende stattfindenden Erhebungswellen ist geplant, auch Variablen zum Fähigkeitsselbstkonzept der Schülerinnen und Schüler sowie zu deren Leistungsmotivation zu erheben. Bislang ausgewertet sind die Ergebnisse der ersten Klassen der Heidelberger Grundschulen im Schuljahr 2001/ 2002 (vgl. auch Schöler/ Scheib/ Roos/ Link 2003; www.ph-heidelberg.de/ wp/ schoeler/ EVES_Nr2.pdf). Der 2001 eingeschulte Jahrgang diente für die Evaluation als Vergleichsgruppe. In dieser Alterskohorte wurde kein Training im Vorschulalter durchgeführt. Im 2002 eingeschulten Jahrgang befinden sich die in den Kindertagesstätten trainierten Kinder (Untersuchungsgruppe). Beabsichtigt ist, die Entwicklung der trainierten und untrainierten Kinder im Lesen und Schreiben zu vergleichen. Dazu werden in einem nächsten Schritt die Kinder beider Gruppen nach bestimmen Variablen (z. B. Alter, Geschlecht, Ausbildungsniveau/ sozioökonomischer Status der Eltern) parallelisiert. Die Daten der Untersuchung dienen auch der Prüfung, inwieweit die Bewertungen der Leistungen im Rechtschreiben und Lesen mit den eingesetzten standardisierten Lese- und Rechtschreibtests kovariieren. Seit Jahren wird inzwischen auch die Zunahme von Auffälligkeiten im Bereich der Aufmerksamkeit und Konzentration berichtet und diskutiert. Da sowohl die Aufmerksamkeit als auch die Konzentration, eingeschätzt durch die Lehrerinnen/ Lehrer, als Indikatoren erhoben werden, kann die Häufigkeit solcher Auffälligkeiten in der Grundschule wie auch ihr Zusammenhang mit den schulischen und den Testleistungen der Kinder analysiert werden. Die bislang vorliegenden Ergebnisse der Daten der Vergleichsgruppe (Einschulungsjahrgang 2001) am Ende des ersten Schuljahres (2001/ 2002) zeigen eine Vielfalt von Einflussfaktoren auf die Test- und Schulleistungen eines Kindes. Daten liegen von 782 Kindern von 16 der insgesamt 17 Heidelberger Grundschulen aus 40 ersten Klassen vor. Laut Schulamtsstatistik (2001) entspricht dies einem Anteil von 81.5 % aller in diesen 40 Klassen angemeldeten Kinder (N = 960). Die mittlere Kinderzahl pro Klasse beträgt demzufolge 23.8 Schülerinnen/ Schüler, wobei die Häufigkeiten in den einzelnen Klassen zwischen VHN, 73. Jg., S. 313 - 320 (2004) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Aktuelle Forschungsprojekte In dieser Rubrik stellt die VHN laufende Forschungsprojekte zu heilpädagogischen Fragestellungen in Kurzform vor. Für das Einholen weiterer Informationen durch interessierte Leserinnen und Leser geben die Autoren eine E-Mail-Adresse an. Wir bitten unsere Leserschaft um die Zusendung solcher Kurzberichte über laufende Forschungsprojekte. 17 und 32 Kindern variieren. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund liegt in der Gesamtpopulation bei 15 % (N = 148). Jungen sind mit 53.1 % gegenüber den Mädchen mit 46.9 % überrepräsentiert. Die Leistungsverteilung der Kinder in zwei Lesetests entspricht in beiden Fällen den durchschnittlich erbrachten Leistungen der Normierungsstichproben. Unter Berücksichtigung beider Testergebnisse liegt die Leseleistung von nur 54 Kindern (7.6%) unterhalb des Durchschnittsbereiches. Allerdings muss gegenüber der Normierungsstichprobe von einer Leistungseinschränkung der Rechtschreibleistung am Ende der ersten Klasse ausgegangen werden. Die Leistungen in den Lese- und Rechtschreibtests stehen in einem mittleren Zusammenhang zu den schulischen Bewertungen im Lesen und Rechtschreiben durch die Lehrpersonen. Jüngere Kinder schneiden erstaunlicherweise in allen Belangen besser ab als zeitlich „normal“ eingeschulte oder ältere Kinder. Es stellt sich die Frage, ob das bessere Abschneiden der jüngeren Kinder auf einen Entwicklungsvorsprung im Bereich der kognitiven Entwicklung zurückzuführen ist, oder ob es sich dabei eher um das Resultat vorangegangener Lernvorgänge in den Familien handelt. Die Rolle der Intelligenz bei der Leistungsentwicklung im Lesen und Rechtschreiben ist nicht hinreichend geklärt. Zwischen kognitiven Fähigkeiten auf der einen und Lese-Rechtschreibleistungen auf der anderen Seite sind in der vorliegenden Untersuchung bestenfalls mittlere Zusammenhänge zu beobachten, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die Intelligenz zwar einen notwendigen, aber keinen hinreichenden Indikator für schriftsprachliche Lernprozesse darzustellen scheint. Die landläufige Auffassung, dass Mädchen bessere schulische Leistungen im Lesen und Rechtschreiben erbringen, lässt sich durch die Ergebnisse dieser Erhebung nicht bestätigen. Ein bedeutsamer Leistungsvorteil der Mädchen ist lediglich bei den Leistungen im Lesetest KNUS- PEL zu beobachten. Kinder, die von den Lehrpersonen als häufig ablenkbar und gering konzentrationsfähig eingeschätzt werden (30%), erreichen schlechtere Testwie auch Schulleistungen. Allerdings weisen nicht alle diese Kinder auch Probleme beim Lesen und Rechtschreiben auf. Auswirkungen auf die schulischen wie die Testleistungen hat auch die Sprachsituation eines Kindes. Mehrsprachig aufwachsende Kinder zeigen vergleichsweise schlechtere Leistungen. Bei der Beobachtung der Lese-Rechtschreibentwicklung dürfen Einflüsse des schulischen Kontextes nicht ausgespart bleiben. Die Schul- und damit die Stadtteilzugehörigkeit können als ein grober Indikator für das soziale Milieu dienen, in dem die Kinder aufwachsen. Der Einzugsbereich der Schule wirkt sich bedeutsam auf schulische wie Testleistungen aus. In Abhängigkeit von der besuchten Schule ergeben sich Leistungsunterschiede von bis zu zwei Standardabweichungen. Ähnliche Unterschiede in den Lese- und Rechtschreibleistungen sind allerdings auch in Abhängigkeit von der besuchten Klasse innerhalb ein und derselben Schule zu beobachten. Ohne die Methoden des Anfangsunterrichtes hier näher betrachten zu können, müssen diese Differenzen zwischen den Klassen innerhalb einer Schule sowohl auf den Einfluss von Unterrichtsmerkmalen wie auf Effekte der Lehrkraft zurückgeführt werden. Die Klassengröße hat keine Auswirkungen auf die Leistungen im Lesen oder Rechtschreiben. Die demnächst möglichen längsschnittlichen Analysen werden zur weiteren Klärung der komplexen Wirkmechanismen beitragen können. Empirische Schulforschung ist ein Feld, das in Deutschland bislang wenig entwickelt und kultiviert ist. Insofern kann die Studie für Schulen wie für Forschende auch einen lebendigen Prozess wechselseitigen Lernens und der Professionalisierung darstellen. Weitere Informationen können eingeholt werden unter k40@ix.urz.uni-heidelberg.de/ , Website: h tt p : / / w w w . p h h e i d e l b e r g . d e / w p / s c h o e l e r/ EVES.htm Projekt EVER Entwicklung eines Vorschulscreenings zur Erfassung von Risikokindern für Sprach- und Schriftspracherwerbsprobleme Jeanette Roos, Hermann Schöler Pädagogische Hochschule Heidelberg Ziel des Projektes ist die Optimierung der Einschulungsuntersuchungen, u. a. um Risikokinder besser auffinden zu können und die Ressourcenallokation für Interventionen zu optimieren. Im Rahmen dieses Projektes sollen Defizite frühzeitig und zuverlässig erkannt werden, die zu Schwierigkeiten beim Erwerb des Lesens und Schreibens führen können. Aktuelle Forschungsprojekte 314 VHN 3/ 2004 Aktuelle Forschungsprojekte 315 VHN 3/ 2004 Dazu werden in Zusammenarbeit mit Gesundheitsämtern (insbesondere mit dem Gesundheitsamt der Stadt Mannheim) Kompletterhebungen eines Jahrgangs mit einem Screening im Rahmen der obligatorischen Einschulungsuntersuchung durchgeführt. Der Bericht über die Einschulungsuntersuchung 2002 in Mannheim liegt vor und ist als Download im pdf-Format abrufbar (www.ph-heidelberg.de/ wp/ EVER.htm). Das für die Erhebung 2003 neu zusammengestellte Screening (Heidelberger Auditives Screening für die Einschulungsuntersuchung HASE, Brunner/ Schöler 2002) besteht aus vier einzelnen Aufgabengruppen aus bereits erprobten diagnostischen Verfahren: (1) NS - Nachsprechen von Sätzen, (2) WZ - Wiedergabe von Zahlenfolgen, (3) EW - Erkennen von Wortfamilien und (4) NK - Nachsprechen von Kunstwörtern sowie eines Zauberwortes. Die prognostische Validität des Screenings wird im Rahmen des Projektes bestimmt. Dazu sollen die Einschulungsjahrgänge 2002 und 2003 in Mannheim bis zum Ende der Grundschulzeit längsschnittlich in ihrer schulischen Leistungsentwicklung verfolgt werden. Weitere Informationen können eingeholt werden unter k40@ix.urz.uni-heidelberg.de/ . Website: h tt p : / / w w w . p h h e i d e l b e r g . d e / w p / s c h o e l e r/ EVER.htm Literatur Brunner, M.; Schöler, H. (2002); HASE - Heidelberger Auditives Screening in der Einschulungsdiagnostik. Wertingen: Westra Zum Einfluss der Schulklasse auf den individuellen Bildungserfolg Winfried Kronig Universität Freiburg/ CH Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Daten, die im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekts „Kulturelle und leistungsbezogene Heterogenität in Schulklassen - Empirische Studien über günstige und ungünstige Konstellationen“ (SNF-Nr. 1114-055572.98) erhoben worden sind. Die Messungen wurden im Schuljahr 2001/ 2002 durchgeführt. Ein Schlussbericht in Buchform ist Ende 2004 zu erwarten. Leistungsunterschiede zwischen einzelnen Schulklassen gehören seit jeher zu den Kernthemen der modernen Bildungsforschung. Zahlreiche Studien, Theorien und Theoriefragmente lagern sich um diese Unterschiede an, versuchen sie aufzuklären und ihre Wirkung auf die Lernentwicklung von Schülerinnen und Schülern zu prognostizieren. Zwei Beobachtungen haben diese Leistungsunterschiede auch für die Sonderpädagogik interessant werden lassen. Zunächst scheint die institutionelle Grenze zwischen Regel- und Sonderklassen für Lernbehinderte gerade in Bezug auf die Lernfähigkeit ihrer Schüler nicht so gesichert zu sein, wie es für ihre Aufrechterhaltung notwendig wäre. Leis-tungsüberschneidungen zwischen den beiden hierarchisch geordneten Schultypen sind nicht die Ausnahme, sie sind eine Regel (vgl. z. B. Kronig 2003 a). Das Problem übersteigt die gewohnten psychometrischen Unebenheiten, wie sie sich im Zusammenhang mit Leistungsdiagnosen ergeben, bei weitem und ist offensichtlich von grundsätzlicher systemstruktureller Natur. Es ist vorstellbar, dass Unterschiede hinsichtlich Lernstand und Leistungsvarianz zwischen Schulklassen dafür mitverantwortlich sind. Als abgebende Institution scheinen Regelklassen den Übertritt in eine Sonderklasse maßgeblich zu beeinflussen. Im Zusammenhang mit dem Bemühen um integrative Schulformen werden Unterschiede zwischen Schulklassen darüber hinaus zu einer unmittelbaren diagnostischen Erschwernis für die Sonderpädagogik (Bless 1995; Wocken 1996). Zumindest ist unklar, wie sonderpädagogische Ressourcen auf die Schulklassen verteilt werden sollen. Und schließlich bedeuten die Unterschiede zwischen Schulklassen, dass das Lernumfeld und damit auch die Lerngelegenheiten, insbesondere auch für Kinder mit Leistungsschwächen, unterschiedlich sind. Eine laufende Längsschnittuntersuchung in der deutschsprachigen Schweiz versucht, diese Gedankengänge auf eine breitere empirische Basis zu stellen. Um die Lernentwicklung in Abhängigkeit vom Lernumfeld zu messen, wurden in 112 Schulklassen mit insgesamt 2.095 Schulkindern des 6. Primarschuljahres im Herbst und im Frühjahr die Leistungen in Mathematik und in Sprache erhoben. In den meisten Kantonen der Schweiz werden die Schüler erst nach dem 6. Schuljahr in weiterführende Schulzüge mit unterschiedlichen Anspruchsniveaus aufgeteilt. Die Schulkinder der Stichprobe standen also vor den Selektionsentscheiden, so dass die Heterogenität innerhalb der Schulklassen noch größer sein dürfte als nach den Zuteilungen. In Bezug auf die Heterogenität - und dies ist für die Untersuchungsanlage ausschlaggebend - gibt es beträchtliche Differenzen zwischen den untersuchten Schulklassen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich des Anteils der Kinder aus Zuwandererfamilien, der klasseninternen Verteilung der sozialen Herkunft oder auch bezüglich des Standes der Vorkenntnisse. Insgesamt resultiert daraus eine Leistungsheterogenität zwischen Schulklassen, die nicht mehr zur organisatorischen Logik des Bildungssystems und deren Begrifflichkeiten passt. In einigen Fällen ist die Leistungsstreuung innerhalb einer Klasse kleiner als die durchschnittliche Leistungsstreuung zwischen den Klassen. Das Problem ist entgegen der verbreiteten Meinung nur unzureichend mit der Anwesenheit von Kindern aus Zuwandererfamilien zu erklären. Immerhin ist in mehr als der Hälfte der untersuchten Klassen mit Immigrantenkindern der Schüler oder die Schülerin mit der schwächsten Leistungsperformanz ein Schweizer Kind. Wir vermuten, dass die Theorien, welche üblicherweise zur Erklärung von unterschiedlichen Wirkungen zwischen hierarchischen Schultypen herangezogen werden, auch auf Schulklasseneffekte übertragbar sind. Die Theorie des Sozialen Lernumfeldes (z. B. bei Dar/ Resch 1986) beispielsweise sagt einen größeren Leistungszuwachs leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler voraus, wenn sie mit leistungsstarken Mitschülern in einer Lerngruppe unterrichtet werden. Eigentlich handelt es sich bei dieser Erklärung eher um ein Theorienkonglomerat, das einzelne Effekte wie den Einfluss gruppendominierender, leistungsfördernder Normorientierungen, kompetitiver Lernanreize und die Qualität von Schüler-Schüler-Interaktionen zu verbinden versucht. Ihre Gemeinsamkeit liegt weniger in ihren theoretischen Ursprüngen als vielmehr in der Richtung der Voraussage für die vorliegende Problemstellung. Zu einer gegenteiligen Prognose führen hingegen bezugsgruppentheoretische Überlegungen. Der fortgesetzte Vergleich mit leistungsstärkeren Mitschülern belastet das Selbstkonzept leistungsschwächerer Schüler und hemmt deshalb ihre Lernprozesse. Erste Ergebnisse der Längsschnittuntersuchung scheinen die Befunde aus den beiden Studien in verschiedenen sozioökonomischen Settings von Dar und Resh (1986) zu bestätigen. Vor allem Schülerinnen und Schüler mit Leistungsschwächen scheinen sensibel auf das durch die Mitschüler definierte Lernumfeld zu reagieren. Je stärker der Leistungsstand der Gruppe, desto größer der Lernzuwachs der leistungsschwächeren Schüler. Der Lernprozess der leistungsstärkeren Schüler hingegen scheint gegenüber der Variabilität des Lernumfeldes robuster zu sein. Unsere Daten unterstützen somit die in jüngerer Zeit wieder häufiger diskutierte Hypothese, dass Klasseneffekte vor allem bei leistungsschwächeren Schülern wirksam werden. Wir werten dieses Ergebnis nicht als Widerlegung bezugsgruppentheoretischer Erwägungen. Eher scheinen sich die unterschiedlichen Einflussgrößen zu überlagern und insgesamt der Theorie des Sozialen Lernumfeldes zu einer größeren Erklärungskraft zu verhelfen. Eine offensichtlich völlig andere Frage ist die Bewertung der erzielten Leistungsfortschritte (vgl. Kronig 2003 b). Im deutschsprachigen Raum war es vor allem Ingenkamp (1971), der früh auf das Problem der Bezugsgruppenabhängigkeit von Leistungsbewertungen eindringlich hingewiesen hat (vgl. z. B. auch Rheinberg 2001). Am konkreten Beispiel unserer Stichprobe bedeutet das, dass Schülerinnen und Schüler mit der Note 4 im Zeugnis einen Leistungsstand erreichen, der bei anderen mit der Note 6 bewertet wird1. In Extremfällen belegen Schulklassen die gleiche Bandbreite auf der Notenskala, obwohl die leistungsstärksten Schüler der einen Klasse einen tieferen Lernstand haben als die leistungsschwächsten der anderen. Der in Form von Zensuren, Selektionsentscheiden und Abschlüssen institutionell beglaubigte Bildungserfolg eines Schülers ist damit von den Leistungsmerkmalen seiner Mitschüler und so von einer schwer einschätzbaren Zufälligkeit abhängig. Im weiteren Verlauf der Untersuchung soll unter anderem aufgeklärt werden, inwieweit Merkmale wie das Geschlecht oder die soziale Herkunft zusätzlich einen verzerrenden Effekt auf die Notengebung ausüben. Weitere Informationen können eingeholt werden unter Winfried.Kronig@llb.unibe.ch Anmerkung 1 In der Schweiz ist die 6 die beste, die 1 die schlechteste Note. Eine Bewertung unter 4 gilt als ungenügend. Die Tatsache, dass es lediglich zwei ganze Notenstufen von der besten bis zur ungenügenden Leistung gibt, strukturiert möglicherweise die Bewertungspraxis mit. Da es nachweislich eine Hemmschwelle bei der Vergabe ungenügender Zensuren gibt (vgl. Ziegenspeck Aktuelle Forschungsprojekte 316 VHN 3/ 2004 1999, 121), häufen sich die Notenwerte innerhalb dieser beiden Stufen (4 - 6), während diese Spanne in anderen Ländern drei oder mehr Notenstufen umfasst. Literatur Bless, G. (1995): Zur Wirksamkeit der Integration. Bern/ Stuttgart: Haupt Dar, Y.; Resh, N. (1986): Classroom Intellectual Composition and Academic Achievement. In: American Educational Research Journal 23, 357 - 374 Ingenkamp, K. (1971): Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Weinheim: Beltz Kronig, W. (2003 a): Das Konstrukt des leistungsschwachen Immigrantenkindes. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (ZfE) 6, 124 - 139 Kronig, W. (2003 b): Flawed Selection - The Example of Immigrant Children in Swiss Education System. In: Lasonen, J.; Lestinen, L.: UNESCO Conference on Intercultural Education, 15 - 18 June 2003, Jyväskylä, Finland Rheinberg, F. (2001): Bezugsnormen und schulische Leistungsbeurteilung. In: Weinert, F. E. (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim: Beltz, 59 - 71 Wocken, H. (1996): Sonderpädagogischer Förderbedarf als systemischer Begriff. In: Sonderpädagogik 26, 34 - 38 Ziegenspeck, J. W. (1999): Handbuch Zensur und Zeugnis in der Schule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Der Einfluss von Klassenzusammensetzungen auf die soziale Akzeptanz gegenüber ausländischen und schulleistungsschwachen Kindern Michael Eckhart Universität Freiburg/ CH Die vorliegende Untersuchung wurde im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekts „Kulturelle und leistungsbezogene Heterogenität in Schulklassen - Empirische Studien über günstige und ungünstige Konstellationen“ realisiert (SFN-Nr. 1114-055572; Laufzeit: 6. Januar 2000 - 1. August 2004). Das Gesamtprojekt wird von Prof. Dr. Urs Haeberlin geleitet und durch Dr. Winfried Kronig sowie lic. phil. Michael Eckhart bearbeitet. Die Studie geht der Frage nach, wie sich bei einheimischen Kindern in kulturell und leistungsbezogen verschieden zusammengesetzten Schulklassen tolerante Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber ausländischen Kindern und Kindern mit Schulproblemen entwickeln. Ausgangsproblematik des Projekts bilden die angesichts zunehmender kultureller Heterogenität formulierten Befürchtungen und Hoffnungen in der öffentlichen und fachlichen Diskussion. So wird einerseits befürchtet, dass ein Unterricht in einer Schulklasse mit vielen ausländischen Kindern für die soziale und leistungsbezogene Entwicklung der Schweizer Kinder unvorteilhaft sei (vgl. Eidgenössische Kommission gegen Rassismus 1999). Andererseits steht die Hoffnung vieler Verfechter der integrativen und interkulturellen Pädagogik, dass sich gerade im Rahmen eines Unterrichts in einer heterogen zusammengesetzten Schulklasse soziale Kompetenzen der Kinder entwickeln können, die für das Leben in einer vielfältigen und multikulturellen Gesellschaft unabdingbar sind (Nieke 1995; Preuss- Lausitz 1998, 223). Mit der vorliegenden Studie soll der emotional geführten Debatte eine rationalere Basis zur Verfügung gestellt werden. Dafür werden in einer umfangreichen Quer- und Längsschnittuntersuchung die Entwicklungen von Einstellungsmassen und Verhaltensindikatoren untersucht. Mit mehr als 2.000 Kindern aus allen Kantonen der deutschsprachigen Schweiz sowie des Fürstentums Liechtenstein wurden verschiedene Verfahren zur Erfassung einstellungs- und verhaltensbezogener Aspekte durchgeführt. Fokussiert wurde dabei auf die Soziale Distanz und die Vorurteilsneigung einerseits sowie auf Interaktionsbeurteilungen, Freundschaftswahlen und die Soziale Integration andererseits. In Fragebogenerhebungen wurden zusätzlich Eckdaten, Informationen zum Klassenklima und zu Unterrichtsmethoden sowie Beurteilungen des Unterrichts in einer vielfältig zusammengesetzten Schulklasse erhoben. Eine Besonderheit der Untersuchung bildet die Möglichkeit, soziale Entwicklungen über den Zeitraum von mehr als fünf Primarschuljahren verfolgen zu können. Von der Auswertung solcher Längsschnittdaten versprechen sich die Projektbearbeiter zusätzliche Aufklärung der schwierigen sozialen Situation, in welcher sich Immigrantenkinder und schulleistungsschwache Kinder in ihren Schulklassen häufig befinden (vgl. Kronig/ Haeberlin/ Eckhart 2000). Aktuelle Forschungsprojekte 317 VHN 3/ 2004 Um die Bedeutung der kulturellen Heterogenität für die verschiedenen abhängigen Variablen zu überprüfen, wurde die Gesamtstichprobe in Heterogenitätsgruppierungen eingeteilt. Dabei wurden in Anlehnung an das Bundesamt für Statistik (vgl. Borkowsky 1991) vier kulturelle Heterogenitätsgruppierungen gebildet (von kulturell homogen bis sehr heterogen zusammengesetzten Schulklassen). Verglichen werden Kinder, die den Unterricht in Schulklassen besuchen, die den verschiedenen Heterogenitätsgruppen angehören. Hierfür werden einander aus den unterschiedlich heterogenen Schulklassen Kinder zugeordnet, die bezüglich potenzieller Störvariablen über vergleichbare Ausgangswerte verfügen. Zudem werden durch die Analyse Linearer Strukturgleichungsmodelle systematische Zusammenhänge evaluiert. Die Ergebnisse zeigen zusammenfassend ein ambivalentes Bild: Zum einen bestätigen sich die ungünstigen sozialen Ausgangslagen, welche Immigrantenkinder und im Besonderen Kinder mit Schulleistungsschwächen oft einnehmen. Illustriert werden kann dies an der Entwicklung der Sozialen Distanz und an den Interaktionsbeurteilungen der Schweizer Kinder. Schweizer Kinder geben gegenüber ausländischen Kindern, vor allem aber gegenüber Kindern mit Schulleistungsschwächen überhöhte soziale Distanzen an. Gleichzeitig ist die Situation dieser Kinder in den Schulklassen durch seltene Sprech-, aber häufige Ärgerkontakte gekennzeichnet. Zudem zeigt sich, dass Immigrantenkinder verhältnismäßig selten als Freunde oder Freundinnen gewählt werden. Diese Ergebnisse variieren jedoch zwischen den Klassen der vier Heterogenitätsgruppen. Dies zeigt andererseits, dass die Situation nicht in allen Schulklassen als gleich ungünstig einzustufen ist. Dabei ergibt sich das paradoxe Ergebnis, dass in kulturell sehr heterogen zusammengesetzten Schulklassen Schweizer Kinder gegenüber ausländischen Kindern positivere Einstellungsmasse und günstigere Interaktionswerte erreichen als vergleichbare Schweizer Kinder aus weniger heterogenen Schulklassen. Es sind also nicht Schulklassen mit wenigen, sondern solche mit vielen Immigrantenkindern, welche die positivsten Resultate erbringen. Mit Hilfe der Analyse von Linearen Strukturgleichungsmodellen wurden Bedingungen identifiziert, die zur Unterstützung von positiven Kontaktsituationen in einer Schulklasse konkrete Hinweise geben können. Die Ergebnisse werden eingeordnet und diskutiert im Rahmen kontakttheoretischer Überlegungen (vgl. Allport 1954; dt. Übersetzung 1971), wobei insbesondere auf Prozesse der sozialen Kategorisierung zurückgegriffen wird (vgl. Tajfel 1982). Zwischen den theoretischen Vorgaben und den gewonnenen empirischen Erkenntnissen bestehen deutliche Übereinstimmungen. Insgesamt stellt sich die Klassenzusammensetzung als wichtige Bedingung für die Unterstützung von einstellungs- und verhaltensbezogenen Aspekten zwischen Schweizer Kindern und Immigrantenkindern heraus. Dies wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ebenfalls durch die Schweizer Kinder selbst hervorgehoben: Als ein Ergebnis der schriftlichen Befragung zeigt sich, dass eine deutliche Mehrheit der Kinder multikulturelle Schulklassen als bereichernd erleben. Weitere Informationen können eingeholt werden unter michael.eckhart@unifr.ch Literatur Allport, G.W. (1971: Die Natur des Vorurteils. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Übersetzung der Originalausgabe „The Nature of Prejudice“ (1954). Garden City/ NY Borkowsky, A. (1991): Kinder und Jugendliche ausländischer Herkunft im Bildungssystem der Schweiz. Herausgegeben vom Schweizerischen Bundesamt für Statistik. Bern (BfS) Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (1999): Getrennte Klassen? Ein Dossier zu den politischen Forderungen nach Segregation fremdsprachiger Kinder in der Schule. Bern (EKR) Kronig, W.; Haeberlin, U.; Eckhart, M. (2000): Immigrantenkinder und schulische Selektion. Pädagogische Visionen, theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Wirkung integrierender und separierender Schulformen in den Grundschuljahren. Bern/ Stuttgart/ Wien: Haupt Nieke, W. (1995): Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag. Opladen: Leske & Budrich Preuss-Lausitz, U. (1998): Bewältigung von Vielfalt - Untersuchungen zu Transfereffekten gemeinsamer Erziehung. In: Hildeschmidt, A.; Schnell, I. (Hrsg.): Integrationspädagogik. Auf dem Weg zu einer Schule für alle. Weinheim/ München: Juventa, 223-240 Tajfel, H. (1982): Gruppenkonflikt und Vorurteil. Entstehung und Funktion von Stereotypen. Bern/ Stuttgart/ Wien: Hans Huber Aktuelle Forschungsprojekte 318 VHN 3/ 2004 Aktuelle Forschungsprojekte 319 VHN 3/ 2004 Schulqualifikation und Lehrstellensuche unter besonderer Berücksichtigung von nationaler Herkunft und Geschlecht Christian Imdorf Universität Freiburg/ CH Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms „Bildung und Beschäftigung“ (NFP 43) wurde am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg von 2000 - 2003 ein Forschungsprojekt unter dem Titel „Die Bedeutung formaler und inhaltlicher Bildungsqualifikationen für die Lehrstellensuche von in- und ausländischen Jugendlichen - unter besonderer Berücksichtigung des Geschlechts“ durchgeführt. Das Projekt stand unter der Leitung von Prof. Dr. Urs Haeberlin, lic. phil. Christian Imdorf war für die Projektbearbeitung, Dr. phil. Winfried Kronig für die Projektberatung zuständig. Die Studie hat sich mit Fragen zur Rolle der Volksschule hinsichtlich der Berufsfindung von SchulabgängerInnen befasst. Insbesondere wurde geprüft, inwiefern die Merkmale Schulqualifikation, Nationalität und Geschlecht mit den Eintrittschancen von SchulabgängerInnen in den schweizerischen Berufsbildungsmarkt zusammenhängen. Vorgängig wurde analysiert, inwiefern die schulischen Selektionen von AbgängerInnen der Primarschule in die berufsrelevanten Schulzüge bzw. Leistungsniveaus der Sekundarstufe I nach leistungsgerechten Kriterien verlaufen. Schließlich wurden Prozessdaten der Berufsfindung im Kontext eines nach Geschlecht und nationaler Herkunft segmentierten Ausbildungsmarkts ausgewertet. Die Resultate zeigen, dass die schulischen Selektionen im Anschluss an die Primarschule nicht nur nach Leistungskriterien verlaufen. Dies macht einerseits die regional variierende Verfügbarkeit von niedrig und höher qualifizierenden Schulangeboten deutlich, die sich auf die Überrepräsentation zugewanderter und männlicher Jugendlicher in niedrig qualifizierenden Schultypen auf der Sekundarstufe I auswirkt. Andererseits hat eine Auswertung von Untersuchungsdaten gezeigt, dass bei durchschnittlichen Schulleistungen Schweizer Mädchen im Vergleich zu ausländischen Jungen doppelt so hohe Chancen haben, am Ende der Primarschule einem Schultyp mit erweiterten Leistungsansprüchen zugewiesen zu werden. Von einer „leistungsgerechten“ Selektion scheint man nur im unteren und oberen Leistungsspektrum sprechen zu können, nicht aber im mittleren Leistungsbereich, in dem sich besonders viele SchülerInnen wiederfinden. Die ungleiche Leistungsselektion in Abhängigkeit von nationaler Herkunft und Geschlecht wird dabei teilweise durch eine ungleiche Gewichtung von Schulnoten in den Übertrittsverfahren verdeckt. Damit kann eine Selektion entlang sozialer Merkmale gleichzeitig als meritokratische Selektion legitimiert werden. Am Ende der Volksschule haben sich die Mathematiknote sowie der Schultyp als wichtig für eine erfolgreiche Lehrstellensuche herausgestellt. Die Aussicht ausländischer Schüler auf eine Lehrstelle hängt noch stärker davon ab als jene der Schweizer. Generell haben sich jedoch das Geschlecht und der Generationenstatus von Jugendlichen sowie das zur Verfügung stehende soziale Netzwerk von eher größerer Bedeutung für die Besetzung einer Lehrstelle erwiesen als schulische Qualifikationen. Deren Bedeutung zeigt sich insbesondere an der Art der gefundenen Lehrstelle (u.a. hinsichtlich des Berufsstatus) sowie an der Art der zu einer Lehrstelle vorliegenden Alternative (Überbrückungsangebot vs. weiterführende Mittelschule). Bei vergleichbaren Schulzeugnissen erhalten Jugendliche mit zwei Elternteilen schweizerischer Herkunft am häufigsten eine Lehrstelle, gefolgt von Schülern mit einem nicht-schweizerischen Elternteil und schließlich jenen mit zwei Elternteilen ausländischer Herkunft. Zugewanderte Jugendliche der ersten Generation haben bei kontrollierten Schulqualifikationen weitaus die schlechtesten Lehrstellenchancen. Um eine vergleichbar attraktive Lehrstelle zu erhalten, benötigen zudem junge Frauen eine bessere schulische Qualifikation als ihre männlichen Altersgenossen. Sekundarschulabschluss und gute Mathematiknoten ermöglichen generell Erfolg versprechendere Berufslehren. Jugendliche mit schlechten Mathematiknoten und/ oder einem Realschulabschluss (entspricht in etwa dem deutschen Hauptschulabschluss), müssen sich nach der Schule häufiger mit einer Zwischenlösung begnügen. Die Entwicklung der Berufswünsche verläuft in Bezug auf den Status der anvisierten Berufe in der Real- und Sekundarschule auf unterschiedlichen Niveaus. Dies zeigt sich am ausgeprägtesten bei den ausländischen Schülerinnen, die wesentlich höhere berufliche Aspirationen haben, wenn sie eine Sekundarschule besuchen. Generell werden die beruflichen Ambitionen im Verlauf des letzten Schuljahrs eher reduziert. Bei ungenügenden Mathematiknoten verschärft sich diese Tendenz. In nicht als geschlechtertypisch geltende Berufe führt eher die höher qualifizierende Sekundarschule als die Realschule. Wie erklärt sich, dass bei gleichen Schulqualifikationen die männlichen Schweizer die besten und die ausländischen Mädchen die schlechtesten Lehrstellenchancen haben? Zum einen erleichtern Privatkontakte im Sinne informeller Beziehungsnetze den Informationsfluss über offene Lehrstellen. Benachteiligungen bei der Lehrstellensuche aufgrund der Nationalität und des Geschlechts lassen sich teilweise darauf zurückführen. SchülerInnen ohne ausreichenden Zugang zu informellen Netzwerken sind auf den Ersatz angewiesen, der in den Angeboten der Berufsinformations- und Berufsberatungszentren gefunden werden kann. Eine weitere Möglichkeit, Kontakte zu Lehrbetrieben zu knüpfen, zeichnet sich im Absolvieren einer „Schnupperlehre“ (kurzzeitiges Betriebspraktikum) ab. Zum anderen entscheidet bei der Lehrstellenvergabe, wer eine positive Prognose im Hinblick auf ein erfolgreiches Absolvieren einer Lehre erhält. Zugeschriebene Tugenden wie Fleiß, Pflichtbewusstsein, Ordnung, Sauberkeit und Sorgfalt gelten möglicherweise als Garanten dafür, dass ein Lehrling bis zum Abschluss seiner Lehre durchhalten kann und damit eine Amortisation betrieblicher Investitionen in die Ausbildung gewährleisten kann. Bei Ausländerinnen kumuliert sich der Mangel an derartigen Vertrauenskrediten und an informellen Beziehungen besonders ausgeprägt. Die Untersuchungsresultate zur Funktion von Schulnoten in den Selektionsverfahren veranlassen zudem zur These, dass Jugendliche mit einem geringen Vertrauensvorschuss bei den jeweiligen Abnehmern (Sekundarstufe I, Lehrbetriebe) von einer härteren Notenselektion durch solche Schulnoten betroffen sind, die ihr Leistungspotential ins Negative verzerrt abbilden. Aus den theoretischen und empirischen Erkenntnissen können Schlussfolgerungen für die Schul- und Berufsbildungspraxis abgeleitet werden. Folgende Maßnahmen werden empfohlen: • herkunfts- und geschlechtsunabhängige Beurteilung von Lernleistungen durch die Schule, • vermehrte Unterstützung von Berufsfindungsprozessen benachteiligter Schüler in der Schule, • Erhöhung der Anzahl Ausbildungsplätze im privaten und öffentlichen Sektor, • Institutionalisierung von sozialen Netzwerken beim Übergang in die Berufsbildung, • rechtliche und politische Gleichstellung von In- und Ausländern, • Informations- und Sensibilisierungskampagnen für Betriebe und Verwaltungen, • neue Aufgaben der Berufsberatungs- und Berufsinformationszentren, • Schaffung frauenfreundlicherer Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Weitere Informationen können eingeholt werden unter christian.imdorf@unifr.ch Publikationen zum Projekt Haeberlin, U.; Imdorf, Ch.; Kronig, W. (2004): Chancenungleichheit bei der Lehrstellensuche: Der Einfluss von Schule, Herkunft und Geschlecht. NFP43 Synthesis7. Bern/ Aarau: NFP43/ SKBF (Download aus dem Internet: http: / / www. nfp43.unibe.ch/ documentation/ synthesis.htm) Haeberlin, U.; Imdorf, Ch.; Kronig, W. (2004): Von der Schule in die Berufslehre. Untersuchungen zur Benachteiligung von ausländischen und von weiblichen Jugendlichen bei der Lehrstellensuche. Bern: Haupt Aktuelle Forschungsprojekte 320 VHN 3/ 2004
