eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 73/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2004
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Heilpädagogik als Profession und als Disziplin

101
2004
Karl-Ernst Ackermann
In Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik wird in der Diskussion um die Klärung des theoretischen Selbstverständnisses schon seit längerer Zeit auf die Kategorien „Profession“ und „Disziplin“ zurückgegriffen. Im vorliegenden Beitrag wird die seit kurzem zu beobachtende Rezeption dieses Begriffspaares innerhalb der Heilpädagogik skizziert. Abgesehen davon, dass kontrovers diskutiert wird, ob es sich bei pädagogischen Berufen überhaupt um eine Profession handelt, zeichnet sich deutlich ab, dass die Tätigkeit von Heilpädagogen und Heilpädagoginnen einem „Mandat“ folgt. Diese für die heilpädagogische Profession typische Orientierung wirkt sich offensichtlich auch auf der argumentativen Ebene der Disziplin aus. Doch was auf der Ebene der heilpädagogischen Profession unverzichtbar sein mag (z. B. Orientierung an Anwaltschaft oder Stellvertretung), führt möglicherweise in der Disziplin zu Problemen. Dies kann jedoch nicht bedeuten, beispielsweise die „Praxisfigur“ der Anwaltschaft oder der Stellvertretung im Diskurs vorschnell zu streichen, vielmehr müsste nach den bisherigen Leistungen dieses Mandates auch für die Theoriebildung gefragt werden.
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Am Horizont der gegenwärtigen heilpädagogischen Fachdiskussion zeichnet sich ein neues Begriffspaar ab - es ist die Rede von „Profession und Disziplin“. Was hat es damit auf sich? Löst dieses Begriffspaar, das in der allgemeinen Erziehungswissenschaft, in der Erwachsenenbildung und in der Sozialpädagogik schon seit längerem diskutiert wird und das nunmehr in der Sonderpädagogik ankommt, die bisherige Entgegensetzung von „Theorie und Praxis“ ab? Handelt es sich also nur um ein neues Gewand für das alte Dilemma eines ungeklärten Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis - oder werden durch diese neue Terminologie möglicherweise gänzlich neue Differenzierungen sichtbar? Die Einführung dieses Begriffs-Novums scheint von dem allgemeinen Reform-Klima begünstigt zu sein, das gegenwärtig herrscht. Besonders im Kontext um die „Neuorganisation“ der universitären Ausbildung der Heil- und Sonderpädagogen in Bachelor- und Master-Studiengängen - sozusagen im Sog des Bologna- Prozesses - zieht die Frage nach der Profession und deren Professionalisierung Aufmerksamkeit auf sich. Alles starrt gebannt auf die Profession 344 Heilpädagogik als Profession und als Disziplin Karl-Ernst Ackermann Humboldt-Universität zu Berlin Zusammenfassung: In Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik wird in der Diskussion um die Klärung des theoretischen Selbstverständnisses schon seit längerer Zeit auf die Kategorien „Profession“ und „Disziplin“ zurückgegriffen. Im vorliegenden Beitrag wird die seit kurzem zu beobachtende Rezeption dieses Begriffspaares innerhalb der Heilpädagogik skizziert. Abgesehen davon, dass kontrovers diskutiert wird, ob es sich bei pädagogischen Berufen überhaupt um eine Profession handelt, zeichnet sich deutlich ab, dass die Tätigkeit von Heilpädagogen und Heilpädagoginnen einem „Mandat“ folgt. Diese für die heilpädagogische Profession typische Orientierung wirkt sich offensichtlich auch auf der argumentativen Ebene der Disziplin aus. Doch was auf der Ebene der heilpädagogischen Profession unverzichtbar sein mag (z. B. Orientierung an Anwaltschaft oder Stellvertretung), führt möglicherweise in der Disziplin zu Problemen. Dies kann jedoch nicht bedeuten, beispielsweise die „Praxisfigur“ der Anwaltschaft oder der Stellvertretung im Diskurs vorschnell zu streichen, vielmehr müsste nach den bisherigen Leistungen dieses Mandates auch für die Theoriebildung gefragt werden. Schlüsselbegriffe: Disziplin, Profession, Mandat der Heilpädagogik Special Education as Profession and Academic Discipline Summary: Lately the categories “profession” and “discipline” help to clarify the theoretical foundations of educational science and social pedagogics. In this article the author outlines the perception and adaptation of the two notions in special education. It is controversially discussed whether special education is a profession or not, but it is obvious that special educators act according to a “mandate”. This typical orientation with regard to the profession has its effect also on the argumentative level of the discipline. But what seems to be absolutely necessary for the special educational profession (e. g. advocacy and deputyship) may possibly cause problems on the level of the discipline. But still the practical aspects of deputyship and advocacy have to be part of the discourse and this “mandate” should even become a topic for theory. Keywords: Academic discipline, profession, mandate for special education Das provokative Essay VHN, 73. Jg., S. 344 - 349 (2004) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel - und die Frage, wie diese effektiv ausgerüstet werden kann, d.h. welche Kompetenzen notwendig sind, um die Qualität sonderpädagogischer Arbeit zu sichern und zu steigern. So ist zum Beispiel auch in der allgemeinen Lehrerbildung allenthalben von „Berufswissenschaften“ die Rede, mit denen offensichtlich die Hoffnung verbunden ist, dass alle Novizen möglichst schnell alle Kompetenzen der Profession - nein: nicht erwerben, sondern aus sich heraus zu generieren in die Lage versetzt werden. Die Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen lässt sich vielleicht am besten durch die damit einhergehende Arbeitsteilung als ein hierarchisches Verhältnis fassen: Die Disziplin ist zuständig für das Forschungswissen, das in der Hochschule produziert wird, das Professionswissen soll den Abnehmern dazu dienen, sich Berufsfelder zu öffnen und dort über angemessene Handlungsorientierungen zu verfügen. Soeben hat sich an der Peripherie der heilpädagogischen Disziplin ein neuer Konflikt entzündet, der auf dieses Begriffspaar „Profession und Disziplin“ Bezug nimmt: Von der allgemeinen Schultheorie wurde auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass die Sonderschule und Sonderpädagogik in der allgemeinen Erziehungswissenschaft zu wenig beachtet wurde und wird - insbesondere in der Schulsystemforschung -, ein Umstand, der mit den Interessen der Profession in Verbindung gebracht wird. „Dass die Sonderschule … aus dem Blick der Schultheorie verschwindet, ist mit der zunehmenden Verselbständigung der Sonderschule gegenüber der Regelschule zu erklären, die von der Sonderpädagogik als Profession vorangetrieben wurde und die in der Sonderpädagogik als Disziplin ihre Stütze und Begründung fand“ (Hänsel 2003, 591). Ob die Ausdifferenzierung der Sonderpädagogik nun durch berufspolitische Eigeninteressen der sonderpädagogischen Profession hervorgerufen wurde oder ob das Desinteresse der allgemeinen Schultheorie dazu herausforderte, eine eigene Sonderinstitution Sonderschule und dementsprechend eine Profession und Disziplin zu etablieren - diese Frage kann hier nicht entschieden werden. Doch kann konstatiert werden, dass die ersten sonderpädagogischen Reaktionen auf diese Erklärung (Möckel 2004, Ellger-Rüttgardt 2004) sich besonders gegen die Angriffe auf die Profession richten - und weniger auf der Ebene der Disziplin und den Legitimationsvorwurf reagieren. Sollte hiermit unbeabsichtigt ein Indiz dafür vorliegen, dass die Sonderpädagogik in ihrer Theorieentwicklung zwar möglicherweise schon den Status von Professionswissen erreicht hat, aber eben noch keine wissenschaftliche Disziplin darstellt, sondern noch immer eher Sonderschulpädagogik ist? Genug der provozierenden Assoziationen, die sich um den neuen Zwillingsbegriff ranken. Im Folgenden soll versucht werden zu klären, was dieser neue Dual „Profession und Disziplin“ bedeutet? Weshalb zieht das Verhältnis von Wissenschaft und Beruf in Pädagogik und Sonderpädagogik solche Aufmerksamkeit auf sich? Stellt seine Einführung etwa ein Symptom für die Wirkungslosigkeit der bisherigen Theorie dar? Heilpädagogik als Profession Der Ursprung der Heilpädagogik lag nicht in einer Wissenschaftsdisziplin, sondern in der Praxis und in den ersten Ausprägungen einer sich abzeichnenden Profession, die - im wahren Sinne des Wortes - sich zur Bildsamkeit des Menschen mit Behinderung, insbesondere zur Bildsamkeit des Menschen mit geistiger Behinderung (Ellger-Rüttgardt/ Tenorth 1998) bekannte. Diese Bildsamkeit musste gegen alle Auffassungen zunächst erst einmal entdeckt und dann gegen gesellschaftliche Meinungen durchgesetzt werden. Doch bis aus den ersten Anfängen der heilpädagogischen Praxis sich eine Profession entwickeln konnte, bedurfte es eines langen Weges. Inwieweit pädagogischen Berufen überhaupt der Status einer Profession zukommt, ist jedoch umstritten. Zum Beispiel spricht Nittel Heilpädagogik als Profession und Disziplin 345 VHN 4/ 2004 (2004, 345) den in außerschulischen Berufen tätigen Pädagogen diesen Status ab. Gleichwohl hat sich dieser Begriff zur Bezeichnung der besonders qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in heil- und sonderpädagogischen Arbeitsfeldern durchgesetzt. Zur Klärung des Begriffes Profession werden immer wieder die folgenden Merkmale herangezogen und genannt: 1. Profession zeichnet sich durch die wissenschaftliche Fundierung einer Tätigkeit aus (Böllert/ Gogolin 2002, 367) bzw. durch einen besonders ausgewiesenen akademischen Beruf; insofern kann ein wesentliches Kriterium der Profession darin ausgemacht werden, dass „eine lange, spezialisierte Ausbildung in abstraktem Wissen (Expertise)“ (Fuchs-Brüninghoff 2001, 261) vorliegt. 2. Die Tätigkeit wird in „gesellschaftlich relevanten, ethisch normierten Feldern wie Recht oder Gesundheit“ (Böllert/ Gogolin 2002, 367) ausgeführt. Ein sogenannter „Zentralwertbezug“ (Nittel 2004, 344) wird beispielsweise in dem gesellschaftlichen Bereich der Bildung gesehen. 3. Zentrales Element ist ein „Mandat zur Problemlösung bzw. zum Eingriff in die Lebenspraxis von Individuen“ (Böllert/ Gogolin 2002) bzw. die „Aushandlung eines gesellschaftlichen Mandats“ (Nittel 344). Aus historisch orientierter Perspektive wird das Verhältnis zwischen den beiden hiermit angesprochenen Bereichen folgendermaßen bezeichnet: Die Professionalisierung der Pädagogik nahm ihren Anfang beim Professionswissen. Das Wissen der Profession wurde erst nach und nach zu einer Disziplin weiterentwickelt (Tenorth 1990, 1994). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der heilpädagogischen Professionalität legte Lindmeier (2000) vor. Vor dem Hintergrund der aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskussion zur Profession entwickelt er ein Verständnis von heilpädagogischer Professionalität, in dem er die Spezifität der heilpädagogischen Tätigkeit besonders herausstellt und betont - im Gegensatz zu anderen Ansätzen, in denen die heilpädagogische Professionalität insgesamt in einer pädagogischen Professionalität aufgeht (vgl. Reiser 1996 und 1997). Nach seinem Verständnis muss über die bis dahin in der Heilpädagogik vorliegenden Überlegungen zur Professionalität hinausgegangen werden. Es genüge nicht, die den sogenannten freien Berufen zugewiesenen Merkmale festzustellen und zu benennen - wie z. B. akademische Ausbildung, die Existenz von Berufsvertretungen, den gesellschaftlichen Auftrag für die berufliche Tätigkeit, ethische Selbstkontrolle über die beruflichen Anforderungen und weitgehende Autonomie in der Ausübung des Berufs. Vielmehr müsse die Notwendigkeit erfasst werden, aus der heraus eine Profession ihre typischen Handlungsprobleme zu lösen versucht. Erst durch eine solche Herangehensweise werde die Entwicklung einer „spezifischen Reflexions- und Handlungskompetenz als Kern der Professionalität“ (Lindmeier 2000, 170) zugänglich. Aus seiner Sicht besteht die „handlungslogische Notwendigkeit“, aus der heraus in der Heilpädagogik eine spezifische Professionalität entfaltet wurde, in der Tatsache des Misslingens von Erziehung und Bildung innerhalb der „Normalpädagogik“. Sein heilpädagogisches Selbstverständnis setzt also an Prozessen des Scheiterns von Erziehung und Bildung im Bereich der Normalpädagogik an. Es handelt sich also bei der heilpädagogischen Professionalität um eine Kompetenz, die einem allgemein pädagogischen Kontext entspringt. Und umgekehrt gilt aber auch, dass Prozesse der Professionalisierung weniger von der Pädagogik, sondern vielmehr von Seiten der Heil- und Sonderpädagogik erfolgen (vgl. auch Heimlich 1999, 167), was unter anderem darauf zurückzuführen sei, dass die generelle pädagogische Praxis sich auf die Wissens- und Normvermittlung beschränke, die Heil- und Sonderpädagogik hingegen die jedem pädagogischen Handeln implizite therapeutische Dimension wahrnehme (Lindmeier 2000, 172, in Anknüpfung an Oevermann). Karl-Ernst Ackermann 346 VHN 4/ 2004 Ein besonderes Merkmal der heilpädagogischen Kompetenz besteht darin, dass der Pädagoge stellvertretend für den Aufwachsenden dessen gescheiterte Erziehung und Bildung deutet (Lindmeier 2000, 173). Mandat und Anwaltschaft in der Heilpädagogik Wesentlicher Bestandteil des professionellen Selbstverständnisses bildet das „Mandat“ der Heilpädagogik, das jedoch dort, wo es überhaupt thematisiert wird, zum Teil recht unterschiedlich gefasst wird. Kobi hat dieses Mandat folgendermaßen aufgefasst: Heilpädagogik könne nicht lediglich eine Wissenschaft sein, sondern habe darüber hinaus ein besonderes Anliegen. „Sie hat nicht nur einen Forschungsgegenstand auf der Objektebene der behinderten Person, sondern auch ein Mandat auf der Subjektebene der behinderten Person. Dieses Mandat ist - in Praxis und Theorie - die Frage nach dem Sein des Menschen, der als behindert gilt, weil er in bezug auf die gemeinsame Daseinsgestaltung als hinderlich empfunden wird“ (Kobi 1985, zitiert nach Haeberlin 1996, 35). Haeberlin verweist darauf, dass mit diesem Mandat die „heilpädagogische Haltung“ gemeint ist, die der modernen Wissenschaft kaum zugänglich ist. In seinem zu Kobis Ansatz deutlich abgegrenzten theoretischen Selbstverständnis einer wertgeleiteten Wissenschaft formuliert Haeberlin (vgl. Haeberlin 1996, 320) ebenfalls das Mandat. Der Heilpädagoge bzw. die Heilpädagogin soll „Anwalt“ des wertgeleiteten Denkens und Empfindens sein: „Als Anwälte übernehmen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen … die Verantwortung für die Erhaltung der Würde der ihnen anvertrauten behinderten oder auffälligen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen“ (Haeberlin 1996, 34). Und in einem explizit auf Professionalisierung ausgerichteten Kontext heißt es, Heilpädagogik habe als eine Pädagogik für Benachteiligte und Ausgegrenzte einen über didaktische und schulorganisatorische Aufgaben hinausgehenden Auftrag: Sie übernimmt eine pädagogische und gesellschaftspolitische Anwaltschaft für ihre „Klientel“. Das heißt, über die Ausbildung von Lehrern der allgemeinen Schule hinausgehend habe die heilpädagogische Ausbildung spezifische Dimensionen zu berücksichtigen, die auf diese Anwaltschaft zurückgehen. Haeberlin nennt hier die „Dimension der Verantwortung einer ethischen Grundhaltung in der Persönlichkeit der heilpädagogischen Lehrperson, … Dimension des Leidens am Grundwiderspruch zwischen heilpädagogischer Vision und gesellschaftlicher Realität, … Dimension der Zusammenarbeit mit anderen Lehrpersonen, Spezialisten und Eltern und … Dimension der individualisierten Entwicklungs- und Lerndiagnostik sowie der individualisierten Entwicklungsanregung und Lernförderung“ (Haeberlin 1999, 134). Eine Professionalisierung, die diesen Dimensionen verpflichtet ist, dürfte dazu beitragen, die Orientierung an den Grundwerten einer wertgeleiteten Heilpädagogik durch die Ausbildung der Profession zu festigen. Gleichwohl ist jedoch hierdurch nicht auch schon die Gefahr der Entsolidarisierung gebannt, die u. a. mit der Institutionalisierung von Ausbildungsgängen und der hiermit verbundenen Bürokratisierung einhergeht. So kann gerade auch die Professionalisierung der Heilpädagogen unbeabsichtigt zur Instrumentalisierung behinderter Menschen (Haeberlin 1996, 80) dienen - eine Entwicklung, die dann zu der folgenden, oftmals so oder anders formulierten Pointe führt: Der Prozess der Professionalisierung nütze allein der Profession, nicht der Klientel! Heilpädagogik als Disziplin Die Geschichte der heil- und sonderpädagogischen Professionalisierung, die mit dem Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt einsetzt - insbesondere die Forderung nach einer Akademisierung der sonderpädagogischen Lehrerbildung -, Heilpädagogik als Profession und Disziplin 347 VHN 4/ 2004 zog die Etablierung der Heilpädagogik als einer wissenschaftlichen Disziplin nach sich (Heimlich 1999, 165) und führte letztendlich, wie in der allgemeinen Pädagogik, zu einer wechselseitigen Verselbständigung von pädagogischer Profession und erziehungswissenschaftlicher Disziplin (Tenorth 1994). Ausgehend von der Annahme, dass die Sonderpädagogik - ebenso wie die Erziehungswissenschaft überhaupt - sich von einem Professionswissen zu einer Disziplin entwickelt habe, vertritt Vera Moser die These, dass die sonderpädagogische Theorieentwicklung professionsbezogene Begründungsmuster wiederhole (Moser 2000, 47). Als ein solches Begründungsmuster nennt sie die „Anwaltschaft (Stellvertretung)“. Sie kritisiert, dass in der heilpädagogischen Diskussion die gesellschaftliche Seite der Anwaltschaft ausgeblendet wurde und stattdessen nur die auf die Subjektebene bezogene Seite betont wurde. Insgesamt wurde die in der Sozialpädagogik vertraute Annahme vernachlässigt, dass es sich nicht um ein subjektives Mandat, sondern um ein „Doppelmandat“ handle (Moser 2000, 45), das heißt, dass die Heilpädagogin nicht nur ihr Mandat für das Subjekt wahrnimmt, sondern auch ein Mandat der Gesellschaft berücksichtigen muss. Die einseitige Parteilichkeit für das Subjekt werde in einer spezifisch ethischen Dimension der Profession weiter gestützt, anstatt aus professionswissenschaftlicher Sicht reflektiert und analysiert. Brisant ist in diesem Kontext, dass im Blick auf behinderte, besonders auf geistig behinderte Menschen die Anwaltschaft zugleich mit dem Konzept der Stellvertretung verbunden wird. Moser macht auch darauf aufmerksam, dass die Klientel zum Teil durch berufliche Standespolitik und Etablierung sonderpädagogischer Institutionen erst geschaffen wird, dass also nicht von einer vorhandenen Klientel und deren notwendiger Stellvertretung auszugehen sei. In Bezug auf das sonderpädagogische Prinzip der Anwaltschaft verweist sie darauf, dass meist ungeklärt sei, wer das Mandat erteilt habe - und wie die Interessen derjenigen, die vertreten werden sollen, bestimmt werden (2003, 142). Die Kritik richtet sich nun darauf, dass die Heilpädagogik als Disziplin dem Blick der Profession verhaftet bleibt, anstatt in kritischer Distanz die Begründungsfigur des professionellen Wissens zu identifizieren und aus Sicht der Disziplin kritisch zu hinterfragen. Ein Ansatz zu einer solchen Entwicklung in Richtung einer heilpädagogischen Disziplin liegt vielleicht dort vor, wo die paternalistische Figur des Stellvertreters von der Gedankenfigur der Selbstbestimmung abgelöst wird. Bevor jedoch vorschnell die Praxisfigur der Stellvertretung aus der Disziplin ausgeschlossen wird, möchte ich auf die Bedeutung verweisen, die ihr in Blick auf die Entdeckung der Bildsamkeit von Menschen mit Behinderung zukommt. Gerade die Verbindung des Leitgedankens der Anwaltschaft mit der Praxisfigur der „Stellvertretung“ innerhalb der heilpädagogischen Praxis dürfte jene „Haltung“ mit erzeugt haben, aus der heraus die Kraft zu einer kontrafaktischen Unterstellung der Bildsamkeit von Menschen mit geistiger Behinderung erwachsen konnte, die den Anfang ihrer Bildung ermöglicht haben mag. Literatur Böllert, Karin; Gogolin, Ingrid (2002): Stichwort: Professionalisierung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 5, 367 - 383 Ellger-Rüttgardt, Sieglind (2004): Sonderpädagogik - ein blinder Fleck der Allgemeinen Pädagogik? In: Zeitschrift für Pädagogik 50, 416 - 429 Ellger-Rüttgardt, Sieglind; Tenorth, Heinz-Elmar (1998): Die Erweiterung von Idee und Praxis der Bildsamkeit durch die Entdeckung der Bildbarkeit Behinderter. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 49, 438 - 441 Fuchs-Brüninghoff, Elisabeth (2001): Professionalität. In: Arnold, Rolf; Nolda, Sigrid; Nuissl, Ekkehard (Hrsg.): Wörterbuch Erwachsenenpädagogik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 260 - 264 Karl-Ernst Ackermann 348 VHN 4/ 2004 Haeberlin, Urs (1996): Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft. Ein propädeutisches Einführungsbuch in Grundfragen einer Pädagogik für Benachteiligte und Ausgegrenzte. Bern/ Stuttgart/ Wien: Haupt Haeberlin, Urs (1999): Heil- und sonderpädagogische Lehrerbildung - Wozu eigentlich? In: Heimlich, Ulrich (Hrsg.): Sonderpädagogische Fördersysteme. Auf dem Weg zur Integration. Stuttgart/ Berlin/ Köln: Kohlhammer, 129 - 146 Hänsel, Dagmar (2003): Die Sonderschule - ein blinder Fleck in der Schulsystemforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik 49, 591-609 Hänsel, Dagmar; Schwager, Hans J. (2003): Einführung in die sonderpädagogische Schultheorie. Weinheim/ Basel/ Berlin: Beltz Heimlich, Ulrich (1999): Der heilpädagogische Blick - Sonderpädagogische Professionalisierung auf dem Weg zur Integration. In: Heimlich, Ulrich (Hrsg.): Sonderpädagogische Fördersysteme. Auf dem Weg zur Integration. Stuttgart/ Berlin/ Köln: Kohlhammer, 163 - 182 Lindmeier, Christian (2000): Heilpädagogische Professionalität. In: Sonderpädagogik 30, 166 - 180 Möckel, Andreas (2004): „Die Sonderschule - ein blinder Fleck in der Schulsystemforschung? “ In: Zeitschrift für Pädagogik 50, 406 - 415 Moser, Vera (2003): Konstruktion und Kritik. Sonderpädagogik als Disziplin. Opladen: Leske + Budrich Nittel, Dieter (2004): Die „Veralltäglichung“ pädagogischen Wissens im Horizont von Profession, Professionalisierung und Professionalität. In: Zeitschrift für Pädagogik 50, 342 - 357 Reiser, Helmut: Sonderpädagogik als Service-Leistung? Perspektiven der sonderpädagogischen Berufsrolle. Zur Professionalisierung der Hilfsschulbzw. Sonderschullehrerin. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 49, 46 - 54 Reiser, Helmut: Arbeitsplatzbeschreibungen: Veränderungen der sonderpädagogischen Berufsrolle. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 47, 178 - 186 Tenorth, Heinz-Elmar (1994): Profession und Disziplin. In: Krüger, Heinz-Hermann; Rauschenbach, Thomas (Hrsg.): Erziehungswissenschaft. Die Disziplin am Beginn einer neuen Epoche. Weinheim/ München: Juventa, 17 - 28 Tenorth, Heinz-Elmar (1990): Profession und Disziplin. Bemerkungen über die krisenhafte Beziehung zwischen pädagogischer Arbeit und Erziehungswissenschaft. In: Drerup, Heiner; Terhart, Ewald (Hrsg.): Erkenntnis und Gestaltung. Vom Nutzen erziehungswissenschaftlicher Forschung in praktischen Verwendungskontexten. Weinheim: Deutscher Studienverlag, 81 - 97 Prof. Dr. Karl-Ernst Ackermann Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät IV Institut für Rehabilitationswissenschaften Georgenstrasse 36 D-10117 Berlin Tel.: ++ 49 (0) 30 20 93 43 75 Fax: ++ 49 (0) 30 20 93 44 37 E-Mail: karl-ernst.ackermann@rz.hu-berlin.de Heilpädagogik als Profession und Disziplin 349 VHN 4/ 2004