Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2004
734
Helfen im gemeinsamen Unterricht
101
2004
Rainer Benkmann
Das Thema Hilfe/Helfen wird in der Sonderpädagogik unter abstrakten Gesichtspunkten wie Verrechtlichung und Institutionalisierung diskutiert, die zu Vor- und Nachteilen für Hilfsbedürftige in der Gesellschaft geführt haben. Die vorliegende Untersuchung zielt dagegen auf die Erforschung alltäglicher Hilfen in der Kind-Kind-Interaktion und in der Lehrer-Kind-Interaktion. Dazu wurden teilnehmende Beobachtungen in neun Schulklassen der Veränderten Schuleingangsphase im ländlichen Raum Thüringens durchgeführt. Untersuchung A analysiert die Helfensprozesse von 13 lernbeeinträchtigten und sechs leistungsstarken Kindern mit anderen Gleichaltrigen, Untersuchung B die Prozesse von sechs lernbeeinträchtigten und drei leistungsstarken Kindern mit Lehrpersonen. Die Ergebnisse zeigen einen weitgehend harmonischen Umgang der Kinder untereinander, der aber für die Lernschwachen die große Gefahr enthält, dass ihnen die Identität des „Dummen“ und des „Handlangers“ zugeschrieben wird. Ferner sollten sich Lehrpersonen, vor allem Sonderpädagogen, der „unhintergehbaren Ambivalenz“ von Hilfe im integrativen Unterricht im Klaren sein.
5_073_2004_004_0377
377 1 Hilfe, Helfen „Die phänomenologische Bestimmung des Helfens als eines Grundbegriffs der Heilpädagogik ist alt (Rössel 1931). Neu ist die Problematisierung von Hilfe“ (Bleidick 1988, 71). Die Allgemeine Sonderpädagogik diskutiert Formen des Helfens unter theoretischen Perspektiven wie „Hilfe durch Verrechtlichung und Institutionalisierung“ und Gesichtspunkten wie „lebensweltliche, advokatorische, professionelle Hilfe und Selbsthilfe“ (Antor 1987, Bleidick 1988, Antor/ Bleidick 2001, Beck 1999). Das Hilfethema eröffnet ein umfangreiches Gebiet der Disziplin. Die Stichworte machen klar, dass das Thema in größere Zusammenhänge eingebettet werden kann. Darauf wird allerdings im Folgenden nur kurz eingegangen. Unsere Auf- 377 Helfen im gemeinsamen Unterricht Förderliche Prozesse in der Veränderten Schuleingangsphase Rainer Benkmann Universität Erfurt Zusammenfassung: Das Thema Hilfe/ Helfen wird in der Sonderpädagogik unter abstrakten Gesichtspunkten wie Verrechtlichung und Institutionalisierung diskutiert, die zu Vor- und Nachteilen für Hilfsbedürftige in der Gesellschaft geführt haben. Die vorliegende Untersuchung zielt dagegen auf die Erforschung alltäglicher Hilfen in der Kind-Kind-Interaktion und in der Lehrer-Kind-Interaktion. Dazu wurden teilnehmende Beobachtungen in neun Schulklassen der Veränderten Schuleingangsphase im ländlichen Raum Thüringens durchgeführt. Untersuchung A analysiert die Helfensprozesse von 13 lernbeeinträchtigten und sechs leistungsstarken Kindern mit anderen Gleichaltrigen, Untersuchung B die Prozesse von sechs lernbeeinträchtigten und drei leistungsstarken Kindern mit Lehrpersonen. Die Ergebnisse zeigen einen weitgehend harmonischen Umgang der Kinder untereinander, der aber für die Lernschwachen die große Gefahr enthält, dass ihnen die Identität des „Dummen“ und des „Handlangers“ zugeschrieben wird. Ferner sollten sich Lehrpersonen, vor allem Sonderpädagogen, der „unhintergehbaren Ambivalenz“ von Hilfe im integrativen Unterricht im Klaren sein. Schlüsselbegriffe: Helfen, Lernbeeinträchtigung, Inklusion, Kind-Kind-Interaktion, Lehrer-Kind-Interaktion Help and Assistance in Integrative Classroom Settings - Conducive Processes during the Modified Entry Phase of Basic Primary School Summary: In special education help and assistance are considered from rather abstract points of view such as institutionalisation and legalisation, which may result in advantages or disadvantages for people in need of help in our society. The following study however focuses on the everyday assistance in childchild-interactions and child-teacher-interactions. It is based on participating observations in nine classes of the modified entry phase of basic primary school in a rural area of Thüringen/ Germany. Survey A analyses the assistance interactions of 13 pupils with learning difficulties and six high-performing pupils with other peers. Survey B explores the interactions of six learning disabled children and three high-performing pupils with their teachers. The results show mostly harmonic interactions between the children, however the pupils with learning difficulties run a high risk of being labelled „handyman“ and „blockhead“. Furthermore, the (remedial) teachers have to be aware of the „unavoidable ambivalence“ of help and assistance as part of integrated classroom instruction. Keywords: Assistance, learning disability, inclusion, child-child-interaction, child-teacher-interaction Fachbeitrag VHN, 73. Jg., S. 377 - 387 (2004) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel merksamkeit richtet sich auf die alltäglichen Hilfen unter Kindern und auf die professionelle Hilfe von Lehrkräften im gemeinsamen Unterricht. Die zunehmende Tendenz zur Verrechtlichung und Institutionalisierung sozialer Auseinandersetzungen in der Geschichte moderner Gesellschaft führte zur Entwicklung des Sozialstaats (Habermas 1995, 522). Damit ging nicht zuletzt auch der Auf- und Ausbau verwalteter Hilfesysteme einher, zum Beispiel des Gesundheitswesens, der Sozialen Arbeit und der Behindertenhilfe. Prinzipiell trägt Verrechtlichung zur Sicherung von Rechtsansprüchen Hilfsbedürftiger bei, etwa in Form des Bundessozialhilfegesetzes. Institutionalisierung dokumentiert sich zum Beispiel in der Entwicklung besonderer Einrichtungen wie der Schule für Lern- und Geistigbehinderte. Das Sonderschulwesen entstand ja auch deshalb, weil die allgemeine Schule nicht in der Lage war, auf die über das übliche Maß hinausgehende Förder- und Hilfsbedürftigkeit der Kinder angemessen zu reagieren. Solche speziellen Institutionen bieten professionelle Hilfe. Helfer und Helferinnen sind aufgrund ihrer Berufsrolle verpflichtet, Unterstützung zu gewähren, während Hilfesuchende erwarten können, dass ihnen geholfen wird. Das hat fraglos große Vorteile für Gruppen Hilfsbedürftiger, schafft allerdings auch Probleme und Nachteile für sie in der Gesellschaft. Sollen nämlich staatliche Leistungen den „wirklich“ Bedürftigen zukommen, muss eine rechtliche Konstruktion gefunden werden, durch die sich die Anspruchsberechtigten von Nicht-Berechtigten unterscheiden lassen. „Hilfsbedürftigkeit“ kann per Gesetz nur an einer Typologie von Bedarfslagen festgemacht werden, die die Abstraktion von konkreten Lebenssituationen voraussetzt. Individuelle Bedürftigkeit ist jedoch rechtlich nicht normierbar, es sei denn, es werden Regelungen für die einzelne Person konstruiert, was systembürokratischen Belangen zuwiderläuft und unzweckmäßig ist. Die juristische Notwendigkeit einer weitgehenden Abstraktion von lebensweltlichen Hilfen führt für Institutionen zum Problem, „eine(r) Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas 1995, 522) Vorschub zu leisten. Staatliche Leistungen haben dann den unerwünschten Effekt, statt der Fähigkeit der Bedürftigen zur Eigenversorgung deren Abhängigkeit von Fremdhilfe zu fördern. Nachteile der Institutionalisierung sind Stigmatisierungseffekte von Sondereinrichtungen, etwa von Anstalten wie Großheime für geistig Behinderte und psychiatrische Krankenhäuser oder von Sonderschulen. Besondere Beachtung fand der Stigma-Ansatz in der bundesrepublikanischen Sonderpädagogik der siebziger Jahre. Ausgehend von Reformkonzepten und -bemühungen aus Skandinavien und den USA kritisierte diese Perspektive Vollzeit-Anstalten und Sonderschulen als „totale Institution“ (z. B. Grohnfeldt 1976, Homfeldt 1974, Thimm 1975). Spezielle Einrichtungen, so die Kritik, trügen zur Entmündigung der „Insassen“ bei und bekräftigten in der Öffentlichkeit verhaltenswirksame Negativvorstellungen. Sondereinrichtungen sind folglich Orte der Stigmatisierung (vgl. Kritik des Stigma-Ansatzes bei Benkmann, im Druck). Gleichwohl bleiben solche Institutionen auch immer Orte, die zur Hilfe verpflichtet sind. Helfende und zugleich stigmatisierende Funktion zu haben, kennzeichnet die „unhintergehbare Ambivalenz“ (Antor 1987, 104) besonderer gesellschaftlicher Organisationssysteme zur Hilfe. Unterlassene Hilfe, z. B. im Gesundheitswesen, kann zu erheblichen Konsequenzen führen bis hin zur Aberkennung einer beruflichen Zulassung wie der ärztlichen Approbation. So drastisch sind die Folgen im Erziehungssystem nicht. Kinder und Jugendliche können Lehrpersonen beim Auftreten von Schulschwierigkeiten nicht auf unterlassene Hilfeleistung verklagen, selbst wenn pädagogische Ansätze etwa die Forderung nach Hilfe zur Selbsthilfe enthalten oder Präambeln der Lehrpläne Hilfe bei der Persönlichkeitsbildung versprechen. Reiner Benkmann 378 VHN 4/ 2004 Prinzipiell ist umstritten, ob der Hilfebegriff überhaupt zu den Grundbegriffen der Pädagogik zählt (Antor 2001, 25). Sicherlich ist seine Bedeutung im Verhältnis zu klassischen Begriffen wie dem Erziehungs- oder Bildungsbegriff davon abhängig, welches Klientel und welches Lebensalter man im Blick hat. So konstituiert der Hilfebegriff Subdisziplinen wie die Sonder- und Sozialpädagogik. In anderen erziehungswissenschaftlichen Fächern spielt er aber kaum eine Rolle (vgl. Krüger/ Helsper 2002). Auf unser Thema bezogen heißt das: Je nach Altersstufe und Schulart sind Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht der allgemeinen Schule mehr oder weniger verpflichtet, den Bildungsprozess von Kindern und Jugendlichen professionell zu unterstützen. Für Sonderschullehrkräfte ist Hilfe eine berufsethische Verpflichtung. Im alltäglichen Unterricht bleibt es jedoch den Lehrpersonen überlassen, ob sie dieser Verpflichtung nachkommen. Im Unterschied dazu gibt es im Alltag keine institutionell-normierten Reziprozitätsmuster von beruflicher Verpflichtung und berechtigter Erwartung. Der Helfer handelt freiwillig, der anderen Person „eine Wohltat zu erweisen“ (Bierhoff 1988, 224). Die Person kann zwar Hilfsbedürftigkeit signalisieren oder Hilfe erbeten. Sie ist aber davon abhängig, dass ihr der Helfer aus freien Stücken beisteht. Keine Person im Alltag hat die Macht, die Unterstützung des Anderen zu erzwingen. Der Hilfeakt setzt die Wahrnehmung der Hilfsbedürftigkeit, die Hilfsbereitschaft und die Fähigkeit zur person- und situationsangemessenen Hilfe voraus (Krappmann/ Oswald 1995, 157). Dies lernen Kinder, indem Erwachsene sie zum Helfen anhalten und ihnen ein nachahmenswertes Vorbild sind. Hier wird Hilfe angeordnet und imitiert. Sie ist abhängig von der Autorität und dem Vorbild des Erwachsenen. Auf diese Weise wirken besonders Eltern, oft auch Lehrpersonen, auf die Entwicklung heteronomer Hilfsbereitschaft und -fähigkeit der Kinder ein. Autonome Kompetenzentwicklung jedoch wird entscheidend durch die Interaktionen unter Kindern stimuliert, die frei von Anordnung und Autorität der Erwachsenen sind. Diese Annahme geht auf Piagets (1973) Vorstellungen zur Bedeutung der Interaktionen gleichaltriger Kinder für die Entwicklung von Fähigkeiten zurück. Spätere Forschungen haben gezeigt: Die Kind-Kind-Beziehung ist strukturell verschieden von der Erwachsenen-Kind-Beziehung. Die letztere ist komplementär und asymmetrisch - Erwachsene sind durch Alter und Erfahrungsvorsprung immer überlegen und haben prinzipiell die Definitionsmacht. Denken und Handeln des Kindes bleiben, so Piaget, in den Auseinandersetzungen mit Eltern und Lehrern letztlich in der eigenen Perspektive verhaftet. Die symmetrisch-kooperative Beziehung unter Kindern stellt die Gleichaltrigen vor andere Anforderungen. Hier sind Interaktionen um ihrer Fortsetzung willen so zu ko-konstruieren, dass die Vorstellung von relativer Gleichheit als Regulativ zu beachten ist. Gleichaltrigkeit bedeutet nicht gleiches Alter, sondern prinzipielle Gleichrangigkeit, Gleichheit von Rechten und Pflichten. Generell besitzt kein Kind Autorität oder Macht, anderen Gleichrangigen Befehle und Anweisungen zu erteilen. Durch die Konfrontation divergierender Sichtweisen in der Kinderwelt wird die Überwindung der eingeschränkten Perspektive gefördert, problemlösendes Denken, soziale Perspektivenübernahme und moralisches Urteilen werden stimuliert. Autonome Handlungskompetenz und -kontrolle resultieren daraus, dass das produktive Potenzial der egalitären Interaktion unter Kindern genutzt wird (Hartup 1983, Krappmann/ Oser 1991, Rogoff 1990, Selman 1984, Youniss 1994). Um Aussagen über dieses Potenzial machen zu können, wollen wir im Folgenden Helfensprozesse von Kindern mit und ohne besonderen Förderbedarf in der Veränderten Schuleingangsphase der Grundschule untersuchen. Uns interessiert zuerst die freiwillig gewährte, spontan angebotene Hilfe unter Kindern und die von Helfen im gemeinsamen Unterricht 379 VHN 4/ 2004 einem an ein anderes Kind gerichtete Bitte um Hilfe. Bisherige Forschungen stellen fest, dass Helfen unter Kindern eine asymmetrische soziale Situation schafft, „in der der Hilfsbedürftige vom Helfer abhängig wird“ (Krappmann/ Oswald 1995, 159). Dass - wie in unserem Fall - zwei sehr unterschiedlich kompetente Kinder aufeinander treffen, erhöht die strukturelle Asymmetrie zusätzlich. Wie also bewältigen Kinder mit und ohne Lernbeeinträchtigungen diese besondere strukturelle Anforderung der Helfenssituation? Zweitens wollen wir dem Einfluss des Lehrerverhaltens auf Helfensprozesse der Kinder nachgehen. Wir fragen, wie Lehrpersonen Kinder mit Lernbeeinträchtigungen in der Veränderten Schuleingangsphase unterstützen. 2 Forschungsfeld, Datenerhebung und Datenauswertung 2.1 Veränderte Schuleingangsphase Die Datenerhebung fand unter den Bedingungen des Schulprojekts zur Veränderten Schuleingangsphase in Thüringen statt. In die Eingangsphase der Grundschule werden alle Kinder des unmittelbaren Wohnumfeldes eingeschult, um eine wohnortnahe Beschulung zu garantieren. Die ersten beiden Jahrgangsklassen sind zusammengelegt, so dass Kinder verschiedenen Alters zusammen kommen. Dem Leistungsvermögen entsprechend ist für Schüler und Schülerinnen eine variable Verweildauer von einem bis zu drei Jahren vorgesehen. Der Unterricht soll so gestaltet werden, dass jedem Kind, auch demjenigen mit besonderem Förderbedarf, ein erfolgreiches schulisches Fortkommen ermöglicht wird. Offener Unterricht, selbstständiges und individualisiertes Lernen sowie soziale Interaktion unter den Kindern sollen verstärkt umgesetzt werden. Zusätzlich ist zeitweise eine Sonderschullehrerin präsent, die besonders für die Förderung lernschwacher Kinder zuständig ist. Die Veränderung des Schulanfangs ist zuvörderst eine Reaktion der Bildungspolitik auf die demografische Entwicklung in den neuen Bundesländern. Der massive Geburtenrückgang nach 1989 hat zum Beispiel in Thüringen zur Schließung vieler kleiner Grundschulen geführt mit teils erheblichen gesellschaftspolitischen Verwerfungen wie etwa der Entvölkerung ländlicher Regionen oder des Wegzugs von Familien mit Kindern und jungen Erwachsenen mit potenziellem Kinderwunsch. Auch werden mit dem veränderten Schulanfang eine Senkung der überhöhten Quote der Zurückstellungen vom Schulbesuch sowie eine Verringerung der frühen Überweisung von Kindern mit besonderem Förderbedarf auf die Schule für Lernbehinderte angestrebt. 2.2 Datenerhebung und Auswertung Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf zwei Untersuchungen, die am Lehrstuhl Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen der Universität Erfurt betreut wurden (vgl. Pabst 2000, Smollen 2001). Die Untersuchungsdaten werden reanalysiert und für unsere Fragestellung neu aufbereitet. Untersuchung A zur Frage nach dem produktiven Einfluss der Kind-Kind-Interaktion beim Helfen fand in sechs Klassen der Veränderten Schuleingangsphase dreier Grundschulen in der zweiten Hälfte des Schuljahres 1998/ 99 statt. Untersuchung B zur Frage nach dem Einfluss des Lehrerhandelns wurde in drei Klassen der Eingangsphase zweier Grundschulen in der zweiten Hälfte des Schuljahres 2000/ 2001 durchgeführt. Alle neun Schulen lagen im ländlichen Raum Thüringens. Die Klassenstärke variierte zwischen 17 und 25 Schülern und Schülerinnen. Erst- und Zweitklässler waren in etwa gleich verteilt. Pro Klasse wurden je zwei Kinder mit besonderem Förderbedarf im Lernen und je ein leistungsstarkes Kind ausgewählt. Da alle Kinder mit Lernbeeinträchtigungen ohne Überprüfung der Schulfähigkeit aufgenommen worden waren und nur vereinzelt amtliche Gutachten zur sonderpädagogischen Förderbedürftigkeit Reiner Benkmann 380 VHN 4/ 2004 vorlagen, wurde die Auswahl durch die Lehrkräfte vorgenommen. Sie verfassten anhand von vorgegebenen Kriterien ein Schülerportrait, das den besonderen Förderbedarf begründete (vgl. Kornmann 1998, 46f). In Untersuchung A wurden insgesamt 19 Kinder beobachtet (zehn Mädchen, neun Jungen). Davon hatten 13 Kinder einen besonderen Förderbedarf im Lernen, fünf Mädchen und acht Jungen; die Vergleichsgruppe bildeten sechs leistungsstarke Schüler und Schülerinnen (fünf Mädchen, ein Junge). In Untersuchung B wurden Beobachtungsdaten von insgesamt neun Kindern erhoben, von denen sechs einen besonderen Förderbedarf im Lernen hatten, zwei Mädchen und vier Jungen. Zum Vergleich wurden drei leistungsstarke Kinder ausgewählt (zwei Mädchen, ein Junge). Die Beobachtungen fanden in Klassenräumen meist mit vier bis sechs Sitzgruppen zu je zwei bis fünf Schülern statt. Die Räume boten genügend Platz und waren kinderfreundlich gestaltet: An den Wänden befanden sich Arbeitsprodukte der Kinder. Es gab eine Sitzecke und einen Computerarbeitsplatz, Schränke und Regale enthielten Hilfsmittel für den Unterricht. Möglichkeiten für Entspannungsübungen, zur Bildung eines Morgenkreises usw. waren gegeben. Der Unterricht wurde meist im Zwei- Pädagogen-System erteilt. Neben der Grundschullehrerin kamen eine weitere Grundschullehrerin, eine Diagnose-Förderlehrerin, eine Sonderpädagogin oder eine Erzieherin zeitweise oder über die gesamte Unterrichtszeit zum Einsatz. Die Absicht des Konzepts Veränderte Schuleingangsphase, sonderpädagogische Kompetenz einzusetzen, konnte nicht immer erfüllt werden. Das Verfahren teilnehmender Beobachtung aus der qualitativen Sozialforschung war Thema längerer Erörterung in einer studentischen Forschungsgruppe. Außerdem wurde es vorab praktisch erprobt. Bei den Untersuchungen wurden die Beobachtungen gemeinsam von zwei Studierenden durchgeführt. Zwei Studentinnen beobachteten die Kind-Kind-Interaktion in Untersuchung A, ein Student und eine Studentin die Lehrer-Kind-Interaktion in Untersuchung B. Dabei orientierten sie sich am Beobachtungsverfahren des qualitativen Forschungsprojekts „Alltag der Schulkinder“ (Krappmann/ Oswald 1995, 31ff). Möglichst alle Hilfeinteraktionen eines ausgewählten Kindes sollten zwei Unterrichtsstunden lang aus unterschiedlichen Perspektiven fokussiert werden. So lagen für jedes Kind Beobachtungsdaten über mindestens zwei Stunden vor. Der Einsatz zweier Beobachter diente der Kontrolle und Ergänzung der auszuarbeitenden Protokolle. Ein kleines Aufnahmegerät mit Mikrofon als weiteres Kontrollinstrument erwies sich aufgrund der Arbeitsplatzveränderungen der Fokuskinder im offenen Unterricht als untauglich. Das zwang die Beobachter, sich öfter auf neue Kinder einzustellen. Insofern mussten sie von dem Verfahren der „doppelten Überkreuz- Fokussierung“ (Krappmann/ Oswald 1995, 32) abweichen, das nur im Frontalunterricht realisiert werden kann, wenn dieselben Kinder über längere Zeit an einem Tisch sitzen. Im nächsten Schritt fertigten die Beobachter getrennt ihre Protokolle aus dem Gedächtnis und anhand ihrer Notizen an. Nach deren Fertigstellung wurden die Aufzeichnungen verglichen, um Ergänzungen und nicht übereinstimmende Beobachtungen zu erörtern. Die Beobachtungsdaten wurden mit dem Software-Programm zur qualitativen Datenanalyse „winMAX pro“ ausgewertet. Das Programm ermöglicht es, verschriftete Interaktionssequenzen aus den Protokollen herauszulösen, ihnen Kodeworte zuzuordnen und die Sequenzen mit den Kodeworten auszudrucken. Der gemeinsamen Aufgabe der Zuordnung stellte sich die Forschungsgruppe mit den Beobachtern so lange, bis die Kodierung von den Beobachtern allein fortgesetzt werden konnte. Nur schwierig zuzuordnende Sequenzen wurden weiterhin in der Gruppe diskutiert. Helfen im gemeinsamen Unterricht 381 VHN 4/ 2004 3 Ergebnisse 3.1 Untersuchung A: Kind-Kind-Interaktion In den Beobachtungsprotokollen der Untersuchung A ließen sich 160 Hilfesituationen der Fokuskinder mit anderen Kindern identifizieren. Die Situationen wurden mit Kodierungen versehen und folgenden, aus dem Material generierten Kategorien zugeordnet: erbeten versus unerbeten, Anlass der Hilfe, Verlauf der Interaktion und Akteure (vgl. Abb. 1). Die Zahlenangaben sind von der quantitativen Auswahl der Beobachtungskinder abhängig. Insofern ist die Verteilung der Abbildung 1 dafür aussagekräftig, welche situativen Identitäten lernschwachen und -starken Kindern in der Schulklasse zugeschrieben werden. Die Hilfesituationen (N = 160) wurden zunächst auf den Hilfeanlass hin analysiert: War die Hilfe erbeten (32 %) oder unerbeten (68 %)? Der größte Anteil entfiel auf unerbetene Hilfen, von denen - wie die weitere Analyse des Datenmaterials zeigte - die meisten angenommen und wenige abgelehnt wurden (90 % zu 10 %). Das knappe Drittel der erbetenen Hilfen wurde überwiegend gewährt (75 %), zu einem Fünftel (22%) verweigert. Bei der Kategorie unterrichtsbezogene Hilfe kamen die meisten Hilfen in Aufgabensituationen vor. Fast zwei Drittel aller kodierten Hilfen (63 %) betrafen Lernhilfen. Der hohe Prozentsatz dieser Hilfen hängt damit zusammen, dass von 19 dreizehn Kinder einen besonderen Hilfebedarf im Lernen hatten, von denen elf Erstklässler mit ganz niedrigem Lernstand und nur zwei Zweitklässler waren. Bei 23 % der Hilfen handelte es sich um Situationen, in denen es um den Bedarf an Arbeitsmitteln ging. Zudem ergaben sich kinderweltbezogene Hilfen mit einem Anteil von 14 %, wenn zum Beispiel einem anderen Peer beigestanden wurde, etwa ein Partner gelobt oder gegenüber Vorwürfen Dritter verteidigt wurde. Der Verlauf von 160 Hilfeszenen enthielt insgesamt 128 unproblematische und 32 problematische Interaktionen (80 % zu 20 %). Letztere waren durch Disharmonie und Interessendivergenz mit Herabsetzungen gekennzeichnet. Dieses Resultat zeugte von einem weitgehend harmonischen Umgang der Kinder untereinander. Abbildung 2 verkodet bei der Kategorie Akteure weiterhin alle Interaktionen, in denen Kinder mit besonderem Förderbedarf oder leistungsstarke Schülerinnen und Schüler als Empfänger oder Helfer beteiligt waren. Alle übrigen Interaktionen wurden der Gruppe Kinder mittleren Leistungsniveaus zugeordnet. Abbildung 2 zufolge halfen Kinder des mittleren Leistungsniveaus am häufigsten (68 %), leistungsstarke relativ wenig (20 %) und Kinder mit Förderbedarf selten, die letzteren nur in 19 (12 %) von 160 Hilfeinteraktionen. Umgekehrt waren lernschwache Kinder die häufigsten Empfänger von Hilfe (73 %). Kinder des mittleren Bereichs empfingen relativ selten Hilfe (19 %) und leistungsstarke fast gar nicht (8 %). Wenn Kinder mit besonderem Förderbedarf überhaupt Hilfen erteilten, handelte es sich fast Reiner Benkmann 382 VHN 4/ 2004 unterrichtsbezogene Hilfen 86 % Hilfesituationen N = 160 erbeten: 32 %* unerbeten: 68 % Lernhilfen 63 % Arbeitsmittel 23 % Beistand 14 % kinderweltbezogene Hilfen 14 % * Prozentuierungen sind auf- oder abgerundet Abb. 1: Kind-Kind-Hilfen Helfen im gemeinsamen Unterricht 383 VHN 4/ 2004 nur um erbetene und unerbetene kinderweltbezogene Hilfen. Als Helfer beim Lernen schalteten sich Kinder mit Förderbedarf nicht ein, abgesehen von zwei Hilfen. In knapp drei Vierteln der Fälle (73 %) waren lernschwache Kinder Hilfeempfänger. Dabei ging es weitgehend um Lernhilfen (67 % aller empfangenen Hilfen). Unerbetene lernbezogene Hilfen wurden den Schwachen viel öfter erteilt als sie erbetene lernbezogene Hilfen in Anspruch nahmen (70 % zu 27 %). Ganz überwiegend halfen ihnen Kinder mittleren Leistungsniveaus, die sich insgesamt selten problematisch verhielten (5 %). Zusätzlich wurden lernschwache Kinder zu je einem Fünftel mit kinderweltbezogenen und unerbetenen allgemeinen Hilfen unterstützt (17 % zu 17 %). 3.2 Untersuchung B: Lehrer-Kind-Interaktion Untersuchung B basiert auf der Analyse von insgesamt 78 Szenen zur Lehrer-Schüler-Interaktion, die sich, wie in Abbildung 3 dargestellt, mehrfach verkodet verteilten. Erwartungsgemäß halfen Lehrpersonen ihren Schülern und Schülerinnen. In 78 Situationen unterstützten die Lehrpersonen Kinder, in drei Fällen die Kinder Lehrpersonen, was im Folgenden unberücksichtigt bleibt. 40 % waren erbetene, 60 % unerbetene Hilfen, davon entfielen allein 83 % auf Hilfen im Lernprozess und 17% auf Hilfen bei der Lernkontrolle. Das Verhältnis erbetener und unerbetener Lernhilfen (26 % zu 58 %) spiegelt die Erfüllung der institutionalisierten Hilfserwartung der Beteiligten wider: Die Lehrperson hilft, gefragt oder ungefragt. Ihre Maßnahmen betrafen vor allem Hinweise auf die Aufgabenlösung während der Wochenplanarbeit, gelegentlich auch Hilfe bei der Suche nach Interessenten für Partner- und Gruppenarbeit. Bemerkenswert ist, dass 20% der Lernhilfen als nicht förderlich kodiert wurden, sei es, dass die Lehrperson aufgabenbezogene Interaktionen der Kinder unterbrach oder das Zustandekommen von Helfensprozessen behinderte. erbeten 26 % unerbeten 58 % erbeten 14 % unerbeten 2 % Hilfesituationen N = 78 erbeten: 40 %* unerbeten: 60 % Lernhilfe 83 % Lernkontrolle 17 % * Prozentuierungen sind auf- oder abgerundet Abb. 3: Lehrer-Schüler-Hilfen Kinder mit besonderem Förderbedarf 12 % Helfer leistungsstarke Kinder 20 % Kinder mittleren Leistungsniveaus 68 % Kinder mit besonderem Förderbedarf 73 % Empfänger leistungsstarke Kinder 8 % Kinder mittleren Leistungsniveaus 19 % Abb. 2: Akteure als Helfer und Empfänger Lernbeeinträchtigte Kinder erhielten doppelt so viele Lernhilfen wie leistungsstarke: Durchschnittlich entfielen acht Hilfen auf lernbeeinträchtigte und vier auf leistungsstarke Schüler. Der hohe Anteil für die Schwachen hing mit dem Verhalten der Sonderschullehrerin zusammen, die ihre Aufgabe in der Förderung der Kinder mit besonderem Bedarf sah. 4 Diskussion Die Ergebnisse der Analyse aller Hilfeinteraktionen der Beobachtungskinder untereinander in Untersuchung A zeigen einen weitgehend harmonischen Umgang der Kinder mit und ohne besonderen Förderbedarf im Lernen in der Veränderten Schuleingangsphase. Vier Fünftel aller Helfensprozesse verliefen unproblematisch. Besonders lassen dies Hilfehandlungen der Gleichaltrigen erkennen, die von den lernschwachen Schülern nicht erbeten, aber wegen der Schwierigkeit der Aufgabenbearbeitung dringend benötigt wurden. Die Gleichaltrigen nahmen deren Hilfsbedürftigkeit beim Lernen wahr und boten von sich aus Hilfe an. Obwohl wir eine besondere Auswahl von Kindern - Lernschwache und Lernstärkste - vorgenommen hatten, kommen wir zu einem vergleichbaren Ergebnis wie mehrere Beobachtungsstudien in ersten und zweiten Berliner Grundschulklassen. Auch hier stand weitgehend unproblematische Hilfe beim Lernen im Vordergrund der Kind-Kind-Interaktion. Unproblematische Hilfe spielt eine signifikant größere Rolle unter jüngeren als unter älteren Schulkindern (Kauke/ Auhagen 1996, 236, Krappmann/ Oswald 1995, 165ff). Vor allem Schüler und Schülerinnen mit durchschnittlichen Leistungen übernehmen unaufgefordert eine Helferrolle im Sinne eines Tutors (vgl. Abb. 2). Dies lässt sich als besondere Form des Peer Tutoring verstehen, in welchem das Potenzial der Gleichaltrigeninteraktion zum Ausdruck kommt. Forschungen zeigen positive Effekte des Peer Tutoring insbesondere in integrativen Settings, in denen durchschnittliche Schüler den Lernschwachen helfen, dies allerdings unter pädagogischer Anleitung und Kontrolle im Sinne institutionellnormierter Hilfe (Benkmann 1998, 155ff). Offensichtlich fühlen sich die „durchschnittlichen“ Kinder verantwortlich für die Schwachen und hegen Sympathie für sie. Dabei wird das bereichsspezifische Wissen der lernbeeinträchtigten Kinder gefördert. Der Einfluss der Gleichaltrigen sollte nicht unterschätzt werden, wenn man an die Bedeutung bereichsspezifischen Wissens für kognitive Entwicklung und Schulleistung denkt (Weinert/ Helmke 1997). Außerdem wird die Lernmotivation der Schwachen stimuliert und verhindert weitere Misserfolgserlebnisse mit negativen Folgen für deren Selbst- und Kompetenzeinschätzung. Sind neben diesen Vorteilen für Kinder mit Lernbeeinträchtigungen beim Lernen auch Vorteile für ihre Mitschüler auszumachen? Mit Sicherheit. Indem sie in Helfensprozesse involviert sind, passen sie sich an das Niveau dieser Kinder an, deren Lern- und Entwicklungsalter üblicherweise um ein bis zwei Jahre verzögert ist. Sie dezentrieren ihre Fähigkeiten zur sozialen Perspektivenübernahme und praktizieren Handlungskompetenzen im Umgang mit Schwachen. Fürsorge und Solidarität werden erprobt. Dies lässt sich besonders gut auch an den nicht erbetenen kindbezogenen Hilfen der Kompetenten aufzeigen. Sie heben die Identität der Schwachen positiv hervor und schützen sie bei Bedrohung. Fürsorgliches und solidarisches Verhalten erscheint für den gesellschaftlichen Zusammenhalt umso wichtiger, je mehr soziale Ungleichheit in der Gesellschaft zunimmt. Doch der tutorielle Einfluss der Kompetenten ist unilateral. Die Identität als Hilfegeber und Hilfeempfänger ist situativ festgelegt. Wechselseitiges Helfen beim Lernen findet nicht statt. Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen sind zu ungleich, als dass die Kinder mit Förderbedarf in der Lage wären, den anderen hilfreiche Hinweise beim Lernen zu bieten. Wechselseitigkeit und relative Gleichheit, an de- Reiner Benkmann 384 VHN 4/ 2004 nen sich symmetrisch-kooperative Beziehungen in der mittleren Kindheit prinzipiell orientieren, gelten nicht. Bemühungen der Lernschwachen um Ausgleich sind vielleicht in ihren nicht erbetenen Angeboten materieller Hilfen gegenüber den Anderen verborgen. Beim ganz überwiegenden Teil der beobachteten Interaktionen handelt es sich folglich nicht um symmetrisch-kooperative, sondern um asymmetrisch-komplementäre Prozesse. Damit wird der Gefahr der Entwicklung von Überlegenheitsgefühlen bei Kindern ohne Lernprobleme Vorschub geleistet. Diese Asymmetrie der Beziehungen lässt sich auf den Tatbestand der Lern- und Entwicklungsrückstände der Kinder mit besonderem Förderbedarf zurückführen. Die Verzögerungen beziehen sich typischerweise auf kognitive und soziale Kompetenzen. Das Lern- und Entwicklungsniveau der lernbeeinträchtigten Kinder ähnelt dem Niveau von Vorschulkindern. Beziehungen werden auf diesem Entwicklungsniveau unilateral gestaltet. Kinder mit besonderem Förderbedarf halfen kaum, und wenn, boten sie vor allem Hilfe an, wenn Bedarf an Arbeitsmitteln signalisiert wurde. Die Befriedigung materieller Interessen der anderen macht deutlich, dass sie deren Hilfsbedürftigkeit wahrnahmen. Berücksichtigen wir allerdings, dass sie beim Lernen fast gar nicht halfen, stimmt diese Art materieller Hilfe bedenklich. Haben die Kinder auf der Basis ihrer sozialen Erfahrungen schon zu Beginn ihrer Schulzeit die Identitätsvorstellung eines inkompetenten Lerners entwickelt bzw. fungieren sie nur noch als Helfer bei materiellem Bedarf? Ist dies bereits ein Hinweis auf das misserfolgsorientierte Attribuierungsmuster hinsichtlich des schulischen Lernens, das so viele Schüler der Lernbehindertenschule kennzeichnet (vgl. Überblick Schröder 2000, 139ff)? Irritierend ist schließlich, dass Kinder mit Förderbedarf erbetene materielle Hilfen fast immer gewährten. Offenbar können sie es sich nicht leisten, den Anderen eine Bitte abzuschlagen. Beim Lernen sind sie auf deren Hilfe dringend angewiesen. Dies ist eine Konstellation, in der sie schnell instrumentalisiert werden können. Sie erinnern an Kinder, die immer wieder zu „Opfern“ bei Bitten um Gefälligkeiten werden, weil sie aufgrund eines schwachen Selbstbewusstseins und mangelnder sozialer Fähigkeiten nicht in der Lage sind, Ansprüche anderer abzuweisen (Eisenberg/ Mussen 1995, 63). Untersuchung B zeigt die berufliche Verpflichtung der Grund- und Sonderschulpädagogin, das Lernen insbesondere der Gruppe lernbeeinträchtigter Kinder zu unterstützen. Mehr als vier Fünftel der Hilfen entfielen auf den Lernprozess, nur ein Fünftel auf die Lernkontrolle. Wurden mehr als die Hälfte der Lernprozesshilfen von den Erwachsenen unerbeten gegeben, so war der Anteil bei unerbetenen Lernkontrollhilfen sehr gering. Dass die Lehrerinnen sich den schwachen Schulkindern zuwandten, hängt auch damit zusammen, dass es sich um ein Schulprojekt handelt. Bemühung und Engagement der Lehrkräfte zielen auf den pädagogischen Erfolg des Projekts ab. Insofern könnte es sich hier um ein Artefakt handeln. Damit ist generell bei Schulprojekten und -versuchen zu rechnen. Sei es, wie es will, naheliegend ist, dass der Einsatz einer Sonderpädagogin in integrativen Settings zur vermehrten Lernhilfe für die Kinder mit Lernbeeinträchtigungen führt. Und würden die Hilfen im Sinne des Konzepts der direkten Instruktion eingesetzt, etwa Festlegung angemessener Lehrziele, klare schrittweise Darbietung des Stoffs, Zur-Verfügung-Stellen ausreichender aktiver Lernzeit, häufig korrigierende Rückmeldung, so käme diese Hilfe dem Lernen der Kinder zugute: Der Ansatz eines weitgehend lehrergesteuerten Lernens hat sich für Lernschwache und jüngere Schulkinder in der empirischen Unterrichts- und Trainingsforschung als sehr wirksam erwiesen (vgl. Neber 1996, 423ff, Weinert 1996, 30f, Zielinski 1996). Übrigens: Gute didaktisch-methodische Konzepte der Lernbehindertenpädagogik haben schon immer auf die Vorzüge eines strukturierten, lehrergelenkten Unterrichts bei Kindern mit Lernbeein- Helfen im gemeinsamen Unterricht 385 VHN 4/ 2004 trächtigungen hingewiesen (vgl. Überblick bei Schröder 2000, 198 - 213). Doch selbst wenn effektive Hilfe gerade für die Schwachen sehr wichtig ist, sollten sich Grund- und Sondersschullehrerinnen prinzipiell über das Problem der „unhintergehbaren Ambivalenz“ von Hilfe im Klaren sein. Das Phänomen der Ambivalenz betrifft, wie gesagt, die stigmatisierenden Effekte helfender Institutionen, beschränkt sich aber nicht nur darauf, sondern tritt ebenso in Interaktionsprozessen auf. Vermehrt helfende Zuwendung - ein wesentliches Element des Berufsethos von Sonderpädagogen - kann zur Stigmatisierung des Hilfeempfängers führen. Bei schulischer Integration lernbeeinträchtigter Kinder droht die Gefahr, als dumm bzw. „doof“ etikettiert zu werden. Für ihre Identitätsentwicklung können solche Zuschreibungen schädigende Folgen haben. Um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, müssen pädagogische Absprachen und Entscheidungen zwischen den kooperierenden Lehrpersonen auf verschiedenen Ebenen getroffen werden, auf der Persönlichkeits-, Sach-, Beziehungs- und Organisationsebene. Diese Ebenen bezeichnen Hauptkategorien von Problemfeldern, die auf der Basis von Aussagen zusammenarbeitender Regel- und Sonderschullehrer in Schweizer Grundschulklassen identifiziert wurden (Haeberlin u. a. 1992, 92ff). Betrachten wir unsere Ergebnisse, sollten die in der Schuleingangsphase Kooperierenden vornehmlich auf der Persönlichkeits- und Beziehungsebene Fragen der Spezialistenrolle der Sonderpädagogin und der Generalistenrolle der Grundschulpädagogin problematisieren. Stigmatisierungen können dann verringert werden, wenn sonderpädagogisches Handeln nicht nur auf die Förderung der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zielt, sondern auf die Förderung aller Kinder. Kooperation zwischen Personen mit verschiedenen Lehramtsabschlüssen und schulartspezifischen Erfahrungen in integrativen Settings führt zur Veränderung und Neudefinition der Berufsrolle, die Chancen und Risiken zugleich enthalten. Literatur Antor, Georg (1987): Hilfe - einige Problemaspekte in Sonderpädagogik und Sozialpolitik. In: Sonderpädagogik 17, 97 - 111 Antor, Georg (2001): Helfen, Hilfe. In: Antor, Georg; Bleidick, Ulrich (Hrsg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, 25 - 27 Antor, Georg; Bleidick, Ulrich (Hrsg.) (2001): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer Bleidick, Ulrich (1988): Ethos, Caritas, System oder der Versuch, pädagogische Hilfe für Behinderte auf einen kategorialen Begriff zu bringen. In: Blickenstorfer, Jürg; Dohrenbusch, Hans; Klein, Ferdinand (Hrsg.): Ethik in der Sonderpädagogik. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Heinz Bach. Berlin: Marhold, 61 - 79 Beck, Iris (1999): Auswirkungen der Sozialgesetzgebung auf die Lebenswirklichkeit behinderter Kinder und Jugendlicher. In: Die neue Sonderschule 44, 318 - 333 Benkmann, Rainer (1998): Entwicklungspädagogik und Kooperation. Sozial-konstruktivistische Perspektiven der Förderung von Kindern mit gravierenden Lernschwierigkeiten in der allgemeinen Schule. Weinheim: Deutscher Studien Verlag Benkmann, Rainer (im Druck): Das interaktionstheoretische Paradigma. In: Walter, Jürgen; Wember, Franz B. (Hrsg.): Handbuch der Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen. Förderschwerpunkt Lernen. Göttingen: Hogrefe Bierhoff, Hans Werner (1988): Verantwortungszuschreibung und Hilfsbereitschaft. In: Bierhoff, Hans Werner; Montada, Leo (Hrsg.): Altruismus. Bedingungen der Hilfsbereitschaft. Göttingen: Hogrefe, 224 - 252 Eisenberg, Nancy; Mussen, Paul H. (1995): The roots of prosocial behavior in children. Cambridge: University Press Goffman, Erving (1967): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Grohnfeldt, Manfred (1976): Stigmatisierung bei Hör- und Sprachbehinderten. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 27, 724 - 735 Reiner Benkmann 386 VHN 4/ 2004 Helfen im gemeinsamen Unterricht 387 VHN 4/ 2004 Habermas, Jürgen (1995): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Haeberlin, Urs; Jenny-Fuchs, Elisabeth; Moser Opitz, Elisabeth (1992): Zusammenarbeit. Wie Lehrpersonen Kooperation zwischen Regel- und Sonderpädagogik in integrativen Kindergärten und Schulklassen erfahren. Bern/ Stuttgart: Haupt Hartup, Willard W. (1983): Peer relations. In: Mussen, Paul H. (Ed.): Handbook of child psychology. Vol. 4: Hetherington, E. Mavis (Ed.): Sozialization, personality, and social development. New York: Wiley, 1 - 250 Homfeldt, Hans Günther (1974): Stigma und Schule. Düsseldorf: Schwann Kauke, Mario; Auhagen, Ann Elisabeth (1996): Wenn Kinder Kindern helfen - Eine Beobachtungsstudie prosozialen Verhaltens. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie 26, 224 - 241 Krappmann, Lothar; Oser, Fritz (1991): Moralische Konstruktion und konstruktive Moral. Eine Expertise über Voraussetzungen und Bedingungen einer förderlichen Moralerziehung in Kindheit und Jugendalter. Berlin: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Krappmann, Lothar; Oswald, Hans (1995): Alltag der Schulkinder. Beobachtungen und Analysen von Interaktionen und Sozialbeziehungen. Weinheim/ München: Juventa Krüger, Heinz-Hermann; Helsper, Werner (Hrsg.) (2002): Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft. 5. Aufl. Opladen: Leske + Budrich Kornmann, Reimer (1998): Die pädagogische Grundhaltung und das Unterrichtskonzept überprüfen. In: Burk, Karlheinz; Mangelsdorf, Marei; Schoeler, Udo u. a.: Die neue Schuleingangsstufe. Lernen und Lehren in entwicklungsheterogenen Gruppen. Weinheim/ Basel: Beltz, 40 - 50 Neber, Heinz (1996): Psychologische Prozesse und Möglichkeiten zur Steuerung remedialen Lernens. In: Weinert, Franz E. (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie. Pädagogische Psychologie. Band 2: Psychologie des Lernens und der Instruktion. Göttingen: Hogrefe, 403 - 443 Pabst, Kristina (2000): Wie Kinder einander helfen - Teilnehmende Beobachtung in der Veränderten Schuleingangsphase. Unveröffentl. Diplomarbeit, PH Erfurt Piaget, Jean (1973): Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt/ M.: Suhrkamp (zuerst 1932) Rogoff, Barbara (1990): Apprenticeship in thinking. Cognitive development in social context. New York: Oxford University Press Schröder, Ulrich (2000): Lernbehindertenpädagogik. Grundlagen und Perspektiven der sonderpädagogischen Lernhilfe. Stuttgart: Kohlhammer Selman, Robert L. (1984): Die Entwicklung des sozialen Verstehens. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Smollen, Manuel (2001): Schüler mit besonderem Förderbedarf in der Veränderten Schuleingangsphase. Einfluss des Lehrerhandelns auf Helfensprozesse. Unveröffentl. Diplomarbeit, PH Erfurt Thimm, Walter (1975): Lernbehinderung als Stigma. In: Brusten, Manfred; Hohmeier, Jürgen (Hrsg.): Stigmatisierung 1. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen. Neuwied/ Darmstadt: Luchterhand, 125 - 144 Weinert, Franz E.; Helmke, Andreas (1997): Theoretischer Ertrag und praktischer Nutzen der SCHOLASTIK-Studie zur Entwicklung im Grundschulalter. In: Weinert, Franz E.; Helmke, Andreas (Hrsg.): Entwicklung im Grundschulalter. Weinheim: Psychologie VerlagsUnion, 459 - 474 Youniss, James (1994): Soziale Konstruktion und psychische Entwicklung. Hrsg. von Krappmann, Lothar und Oswald, Hans. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Zielinski, Werner (1996): Lernschwierigkeiten. In: Weinert, Franz E. (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie. Pädagogische Psychologie. Band 2: Psychologie des Lernens und der Instruktion. Göttingen: Hogrefe, 369 - 402 Prof. Dr. Rainer Benkmann Universität Erfurt Postfach 90 02 21 D-99105 Erfurt Tel.: 00 49 (0) 3 617 37 10 97 Fax: 00 49 (0) 3 61 73 71 913 E-Mail: rainer.benkmann@uni-erfurt.de RainerBenkmann@aol.com
