Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2004
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Das Risiko der Freiheit wagen
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2004
Johannes Degen
Martin Th. Hahn
Sehr geehrter Herr Degen, nach Abschluss unserer Forschungsprojekte USTA (Umwandlung stationärer Einrichtungen in gemeinwesenintegrierte Wohnformen [Hahn et al. 2003]) und WISTA (Wohnen im Stadtteil für Erwachsene mit schwerer geistiger Behinderung [Hahn et al. 2004]) komme ich neugierig auf Sie zu, um zu erfahren, welche Fortschritte Sie im Veränderungsprozess der Komplexeinrichtung (ehemals: „Anstalt“) Hephata in Mönchengladbach gemacht haben. Ich weiß, dass Sie und Ihre Mitarbeiter/-innen in der Praxis genau das verwirklichen wollen, was wir mit den Möglichkeiten der Forschung an der Humboldt-Universität zu Berlin intendierten: Menschen mit geistiger Behinderung nicht mehr in Großeinrichtungen zentralisiert wohnen zu lassen, sondern ihnen zu einer am Normalisierungsprinzip orientierten Wohnsituation zu verhelfen.
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400 Gammertingen, 10. April 2004 Sehr geehrter Herr Degen, nach Abschluss unserer Forschungsprojekte USTA (Umwandlung stationärer Einrichtungen in gemeinwesenintegrierte Wohnformen [Hahn et al. 2003]) und WISTA (Wohnen im Stadtteil für Erwachsene mit schwerer geistiger Behinderung [Hahn et al. 2004]) komme ich neugierig auf Sie zu, um zu erfahren, welche Fortschritte Sie im Veränderungsprozess der Komplexeinrichtung (ehemals: „Anstalt“) Hephata in Mönchengladbach gemacht haben. Ich weiß, dass Sie und Ihre Mitarbeiter/ -innen in der Praxis genau das verwirklichen wollen, was wir mit den Möglichkeiten der Forschung an der Humboldt-Universität zu Berlin intendierten: Menschen mit geistiger Behinderung nicht mehr in Großeinrichtungen zentralisiert wohnen zu lassen, sondern ihnen zu einer am Normalisierungsprinzip orientierten Wohnsituation zu verhelfen. Während Sie Direktor der Diakonischen Akademie Berlin/ Stuttgart waren und ich an der Humboldt-Universität zu Berlin den Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik innehatte, gab es keinen Kontakt zwischen uns. Sie wechselten 1996 wieder in die „Praxis“, nachdem Sie vor Ihrer Akademiezeit bereits 15 Jahre im Diakoniewerk Kaiserswerth (Düsseldorf) Leitungserfahrung gesammelt hatten. Sie wurden nun Direktor der Evangelischen Stiftung Hephata in Mönchengladbach. - Unsere erste Begegnung hatte schon den Charakter eines Dialoges: Mit Ihren leitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern waren Sie zu einer Klausur in Berlin, um die Veränderung von Hephata vorzubereiten. Sie luden uns ein (Mitarbeiter/ -innen beider Forschungsgruppen), um die Ihnen bedeutsam erscheinenden Probleme des bevorstehenden Umwandlungsprozesses zu diskutieren. Den ersten realen Veränderungsschritt in Mönchengladbach konnte ich dann beim 140-jährigen Jubiläum von Hephata 1999 miterleben. Es war eine mehrtägige Veranstaltung: ein Fest, verbunden mit einer Fachtagung zur Auflösung der „altehrwürdigen Anstalt“, auf dem Plakat überschrieben „Das Risiko der Freiheit wagen“. Eindrucksvoll und vermutlich bei allen unvergessen sind die Dramaturgie des Festes und die szenische Gestaltung des Kirchenraumes, in dem der Veränderungsprozess unter Einbeziehung der Mobilität der Teilnehmer/ -innen sinnlich wahrnehmbar vermittelt wurde (noch habe ich das uralte Anstaltsbett auf dem Gerüst im Altarraum in der Vorstellung! ). Und nun hätte ich gerne gewusst, wie der Stand des Veränderungsprozesses im Frühjahr 2004 aussieht und welche Erfahrungen Sie bisher gesammelt haben. Ein Vergleich mit unseren Forschungsergebnissen würde sich anbieten. Mit freundlichen Grüßen Ihr Martin Th. Hahn Mönchengladbach, 29. April 2004 Sehr geehrter Herr Hahn, Sie fragen nach dem Stand des Veränderungsprozesses unserer Stiftung - wo soll ich da anfangen angesichts eines noch anhaltenden Pro- Das Risiko der Freiheit wagen Johannes Degen, Mönchengladbach Martin Th. Hahn, Gammertingen Dialog VHN, 73. Jg., S. 400 - 405 (2004) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel zesses, der nichts weniger als die komplette Konversion einer seit 1859 bestehenden „Behinderten-Anstalt“ zum Inhalt hat? Ich markiere die Ausgangssituation, die uns 1996/ 97 herausforderte. Damals lebten auf dem Stiftungskerngelände in Mönchengladbach 419 Menschen, dazu 117 Menschen in Wohnheimen innerhalb des Stadtgebietes von Mönchengladbach und in einer Wohneinrichtung in Essen. Wir fragten uns, ob es wünschenswert sei, die sogenannten „Fitteren“ (ich liebe diese Kategorisierung überhaupt nicht! ) weiterhin in „Außenwohngruppen“ umziehen zu lassen und im Kern die Anstalt beizubehalten als einen Ort, der mehr und mehr zu einem „Siechenhaus“ werden würde. Wir entschieden uns gegen diese Perspektive, wagten die Ansage „Die Zeit der Anstalt ist vorbei“ und machten uns auf den Weg der Dezentralisierung. Heute leben auf dem Stiftungskerngelände noch etwa 200 Menschen, 350 Menschen sind seit 1985 in dezentrale Wohnhäuser umgezogen, und weitere 150 Menschen, die zuvor nicht in der ‚Anstalt‘ gelebt hatten, sondern aus ihrer jeweiligen Familie kamen, haben ein Zuhause in einem von uns errichteten, angemieteten oder durch Investoren gebauten Wohnhaus gefunden. Mit dem vorläufigen Abschluss der Dezentralisierung unserer Kerneinrichtung werden Anfang 2005 noch etwas weniger als 150 Menschen im zentralen Stiftungsbereich leben. Wesentliche Teile des alten Anstaltsgeländes werden sich zu einem allgemein zugänglichen Wohngebiet entwickeln. Eine ähnliche Entwicklung haben wir für unsere Zweigeinrichtung Benninghof bei Mettmann/ Düsseldorf seit einigen Jahren eingeleitet. Dort leben zur Zeit noch über 300 Menschen in einer klassisch, um nicht zu sagen: museal anmutenden „Anstalt im Grünen“, während bereits 75 Menschen in gemeindeintegrierten Wohnhäusern leben. Die Zahl der ‚zentral‘ lebenden Menschen wird im Lauf der nächsten Jahre deutlich abnehmen. Wegen der isolierten Außenlage des Benninghofs wird diese Einrichtung auf längere Sicht kein Ort mehr sein, an dem wir Wohnmöglichkeiten anbieten. Um noch letzte Zahlen für den Veränderungsprozess von Hephata zu nennen: 1996 lebten rund 1000 Menschen mit Behinderung unter rund 25 Wohnadressen, die großen Anstaltsgebäude eingeschlossen. Heute leben mehr als 1100 Menschen unter nahezu 100 Wohnadressen an elf Orten im Rheinland. Dies alles ist durch die Mitarbeitenden möglich geworden, die mit vielfältigen Maßnahmen dafür gewonnen werden konnten, die Neuorientierung unserer Stiftung aktiv mitzugestalten - eine einfache Zielvorgabe von oben ändert ja schließlich wenig oder gar nichts. Auch die Angehörigen haben unterdessen eine ganz überwiegend positive Einstellung zu unseren Veränderungen gefunden. Das Wichtigste aber: Die Menschen selber, die bisher durch das Leben in der Anstalt behindert waren, erfahren ihren neuen Alltag außerhalb dieses einengenden Rahmens als eine befreiende Bereicherung. Aber vielleicht ist das ja ein Thema, das Sie des Näheren interessiert - oder? Ich grüße Sie für heute sehr herzlich vom Niederrhein Ihr Johannes Degen Gammertingen, den 1. Mai 2004 Sehr geehrter, lieber Herr Degen, für Ihren Brief besten Dank! In Fakten spiegelt er den aktuellen Stand des erstaunlichen Veränderungsprozesses. Mit Fortschritten hatte ich gerechnet, jedoch nicht in dieser Größenordnung. Unser Forschungsinteresse galt der Frage, weshalb sich so viele große stationäre Einrichtungen nicht zu gemeinwesenintegrierten Wohnmöglichkeiten weiterentwickeln. Seit mehr als 40 Jahren kennen wir das Normalisierungsprinzip, seit mehr als vierzig Jahren ent- Das Risiko der Freiheit wagen 401 VHN 4/ 2004 stehen von anderen Trägern gemeindenahe, dezentrale Wohneinrichtungen, mit denen nachgewiesen ist, dass es echte Alternativen zur „Anstalt“ gibt. Weshalb tut man sich mit Veränderungsprozessen so schwer? Mit Mitteln der Forschung haben wir die Wirkung zunächst heuristisch angenommener Einflussgrößen auf Veränderungsprozesse untersucht. Es waren 14 Variablen, deren Wirkungen sich zum Teil sehr komplex überlappten (Reihenfolge stellt keine Rangfolge dar): Philosophie des Trägers, Träger, Einrichtung, Leitung, Immobilie, Architektur/ Ausstattung, Wohnlage/ Infrastruktur, Bewohner/ -innen, Angehörige, Tagesstruktur, Soziales Umfeld, Mitarbeiter/ -innen, Rahmenbedingungen und Beratung. Von großem Interesse wäre für uns, ob diese Variablen bei dem Veränderungsprozess von Hephata ebenfalls wirksam waren (positiv oder negativ), ob sie nach Ihrer Erfahrung durch weitere ersetzt werden müssten, ob Sie eine Rang- oder Prioritätenliste der Bedeutsamkeit für einige angeben könnten, vielleicht auch mit inhaltlichen Hinweisen versehen? Unsere zweite „Ergebnis-These“ des Projektes USTA lautet: „Personen mit geistiger Behinderung, die in größeren stationären Wohneinrichtungen leben, werden in (unterlassenen, geplanten und stattfindenden) Veränderungsprozessen ihrer Einrichtung wie Gegenstände behandelt, die man hin- und herschieben kann“ (Hahn et al. 2003, 429ff). - Die Plakat-Ankündigung, „Das Risiko der Freiheit wagen“, lässt vermuten, dass der von Ihnen intendierte Veränderungsprozess eine anthropologische Begründung hat, die der Variable „Philosophie des Trägers“ eine entscheidende Rolle beimisst. Wäre es möglich, sie kurz zu umreißen? Für Ihre Antwort auf meine Fragen im Voraus besten Dank. Ich wünsche Ihnen am Niederrhein einen schönen Monat Mai und grüße herzlich von der Schwäbischen Alb Ihr Martin Hahn Mönchengladbach, den 11. Mai 2004 Sehr geehrter, lieber Herr Hahn, Ihr Brief - ganz herzlichen Dank! - regt mich dazu an, mit allem Nachdruck auf eine wesentliche Einflussgröße im Veränderungsprozess von Anstalten und Heimen hinzuweisen. Ich halte die Philosophie des Trägers für den entscheidenden Ausgangspunkt, mehr noch: die eindeutige wert- und zielorientierte Entscheidung der Leitungspersonen in einer Einrichtung. Wenn man die Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung an Orten, wo sie in großer Zahl konzentriert werden, weil man ihnen nur hier einen „Schutzraum“ und fachlich spezialisierte Hilfe meint bieten zu können, als ihrer persönlichen Entwicklung hinderlich, einschränkend und immer wieder auch entwürdigend ansieht, wofür Sie im Projekt USTA überzeugend Material geliefert haben, dann muss man das Veränderungsziel eindeutig angeben: „Heraus aus der Sonderwelt! “ Erstaunlich ist für mich: Widerstände gegen ein Leben ‚außerhalb‘ gibt es bei den entscheidend betroffenen Menschen kaum, sie nehmen die Möglichkeit dieses anderen, gemeindeintegrierten Lebens vielmehr gerne und im Rahmen ihrer speziellen Fähigkeiten aktiv wahr. Dagegen gewinne ich immer wieder den Eindruck, dass Leitungspersonen keine eindeutige Zielvorgabe machen, dass sie an anstaltsmäßigen Strukturen für die „schweren Fälle“ festhalten, ergänzt um Außenwohngruppen und weitere ambulante Angebote für die „Fitten“ - welch unwürdige Sortierung! -, dass sie den Erhalt von Immobilien, die Kontinuität von Organisationsmustern und die Sicherung professioneller Identitäten unbeabsichtigt über das Wohl der Menschen stellen, für die sie da sind. Und nun noch einige Worte zur Philosophie. Ihre positive Umschreibung, etwa mit der Aussage „Assistenz für Menschen mit Behinderung auf ihrem Weg zu Selbstbestimmung und Johannes Degen, Martin Th. Hahn 402 VHN 4/ 2004 Integration“, wie wir es für unsere Stiftung formulieren, das ist die eine Seite (vgl. Degen 2003, 100-106). Im Alltag kommt es andererseits darauf an, dass die Professionellen eine Haltung entwickeln, die sie sensibel macht und motiviert, Strukturen, Abläufe und eigenes Selbstverständnis kritisch dort wahrzunehmen, wo sie bevormundend Entwicklungen behindern, wo sie von den Menschen als Vorenthaltung von Lebens- und Teilhabemöglichkeiten erlebt werden müssen. Aus einer solchen Haltung heraus kann der Blick sich auf die Stärken richten, die jeder Mensch hat, weg von der Defizitorientierung, es können Wege der assistierenden Begleitung mit Menschen gegangen werden anstelle eines ersatzweisen Handelns für sie. Das Geschenk des Lebens in seiner individuellen Gegebenheit, in seiner Werdedynamik und seiner sozialen Einbindung ist Zeichen einer Gnade, von der niemand ausgeschlossen werden darf, abgeschoben und an einem separaten „Ort zum Leben“ „untergebracht“. Hier klingt für mich der tiefe ethische Wert an, der den Veränderungsprozess „Heraus aus der Sonderwelt“ prägt. Wenn Sie so wollen, äußert sich darin ein Menschenbild. Besser aber als von Bildern, die immer auch etwas Fixierendes, Unlebendiges haben, ist es, von einer Haltung zu sprechen, aus der heraus Veränderungen entstehen. Ich grüße Sie nach Berlin, wo Sie für einige Tage am alten Wirkungsort sind, Ihr Johannes Degen Berlin/ Gammertingen, 16./ 17. Mai 2004 Sehr geehrter, lieber Herr Degen, für Ihre Antwort danke ich. Sie deckt sich im Wesentlichen mit unseren Erfahrungen im Projekt, stehen doch alle aufgegriffenen Veränderungsvariablen unter dem Primat der „Philosophie“ einer Einrichtung resp. der leitenden Verantwortungsträger. Zurückkommen möchte ich auf zentrale Fragen des Veränderungsprozesses von stationären Großeinrichtungen. Es sind für mich Vermittlungsprobleme. Vermutlich haben Sie sich während Ihrer Tätigkeit an der Diakonischen Akademie ausführlich damit beschäftigt. Es geht um die Vermittlung der „Philosophie“ resp. der „Haltung“ oder des „Menschenbildes“ an Personenkreise, die sich in Aus-, Fort- und Weiterbildung befinden und potenziell oder real als Verantwortungsträger für Veränderungsprozesse anzusehen sind. Weiter geht es um Personenkreise, die Verantwortung tragen, von Angeboten der Aus-, Fort- und Weiterbildung aber keinen Gebrauch machen. Und es geht um Personenkreise in Gremien, die über die Besetzung von Leitungsstellen entscheiden. Einbezogen seien auch Personenkreise, die beratende Funktion haben, z. B. in den Verbänden (wir haben ein widersprüchliches Beratungsbeispiel im Projekt USTA dokumentiert). Im vergangenen Jahrzehnt entstand bei mir der Eindruck, dass die Besetzung von Leitungsstellen vorwiegend durch nachweisbare Qualifikationen im Bereich betriebswirtschaftlicher Kenntnisse geschah, weniger durch Überprüfung eines authentisch vertretenen „Menschenbildes“ resp. einer entsprechenden „Haltung“. Wäre eine solche Überprüfung überhaupt möglich? Wie könnte sie geschehen? Über Literaturnachweise? Über vorausgehende Tätigkeiten? Wie ließe sich Authentizität feststellen? - Fragen über Fragen, deren Klärung uns beschäftigen muss, wenn uns Menschen mit geistiger Behinderung und deren Lebensglück in Wohneinrichtungen nicht gleichgültig sein sollen. Gibt es darauf Antworten? - Ob unser Briefwechsel ausreicht, den Dialog dazu zu Ende zu führen? Mit guten Wünschen für die Fortsetzung des Veränderungsprozesses von Hephata grüßt Sie herzlich Ihr Martin Hahn Das Risiko der Freiheit wagen 403 VHN 4/ 2004 Mönchengladbach, 23. Mai 2004 Sehr geehrter, lieber Herr Hahn, ja, es ist so: Unser Dialog ist jetzt noch gar nicht zu beenden, er beginnt eigentlich erst. Zum Thema „Haltung“ noch eine ganz gezielte These: Die Veränderung, präziser: die Auflösung stationärer Großeinrichtungen ist wirklich einfach und uneingeschränkt realistisch, wenn diesem Prozess eine eindeutige Haltung der leitenden Personen zugrunde liegt. Die ökonomischen oder organisatorischen Gegebenheiten eines Heimes oder einer Anstalt können beschwerlich sein, sie sind aber letztlich kein Hindernis. Am Anfang aller Veränderung sollte das Zutrauen zu den Eigenkräften der Menschen, der „Bewohner“ wie der Mitarbeitenden, stehen. Wichtig ist der Abbau von übermäßiger Spezialisierung in der Betreuung. Die Mitarbeitenden müssen zu gemeinwesenorientierten Integrationsfachkräften werden. Menschen mit Behinderung sind nicht als „Last“, sondern als Bereicherung in einer nachbarschaftlichen Vielfaltskultur zu sehen. Das Geld, das in die Ausbildung und laufende Reflexion einer solchen Haltung gesteckt wird, ist die beste Investition im Sinne der Menschen. Mit der schlichten Auflösung von Großeinrichtungen ist es allerdings nicht getan. Vielmehr ist umfassende Bildung notwendig, nicht nur Fort-Bildung auf bekannten Gleisen. Und: Erneuerung sozialer Dienste ist nur möglich mit den Menschen, nicht fürsorglich für sie. Man muss in allem das „Risiko der Freiheit“ wagen, heraus aus den eingefahrenen Wegen, heraus aus den bevormundenden Sonderwelten, mit den Menschen, sich lösen von dem mitleidigen Blick auf die „Schwachen“, die Freiheit zur Gestaltung eines individuellen Lebens fördern. Es entspricht meiner christlich-humanen Einstellung und Lebenserfahrung, dass jeder Mensch mit dem Wunsch nach Freiheit begabt ist, mit einer solidarischen, sicherlich auch mit Risiko und lebenslangem Lernen verbundenen Freiheit. Wer sind wir, dass wir diese Freiheit Menschen mit Behinderung durch die Enge und Abgeschlossenheit großer Heime und Anstalten vorenthalten wollten? Ich schließe am Ende dieses Briefwechsels mit dem Eindruck, dass wir ganz am Anfang eines notwendigen Dialogs stehen und grüße Sie mit guten Wünschen und der Hoffnung, dass Sie in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit auch künftig den Wind der Veränderung kräftig wehen lassen, Ihr Johannes Degen Literatur Degen, J. (2004): Diakonie im Kontext von Exklusion. Bedeutung und Wandel des Anstaltsparadigmas. In: Schibilsky, M.; Zitt, R. (Hrsg.): Theologie und Diakonie. Gütersloh (erscheint demnächst) Degen, J. (2003): Selbstbestimmung, Assistenz und Integration als Zielwerte professionellen Handelns. In: Degen, J.: Freiheit und Profil. Plädoyer für eine zukunftsfähige Diakonie. Gütersloh, 100 - 106 Dörner, K. (Hrsg.) (1998): Ende der Veranstaltung. Gütersloh Eisenberger, J.; Hahn, M. Th.; Hall, C.; Koepp, A.; Krüger, C.; Poch-Lisser, B. (Hrsg.) (1998): Menschen mit geistiger Behinderung auf dem Weg in die Gemeinde. Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis (Berliner Beiträge zu Pädagogik und Andragogik von Menschen mit geistiger Behinderung, Bd. 5). Reutlingen Eisenberger, J.; Hahn, M. Th.; Hall, C.; Koepp, A.; Krüger, C. (Hrsg.) (1998): Das Normalisierungsprinzip - vier Jahrzehnte danach. Veränderungsprozesse stationärer Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung (Berliner Beiträge, Bd. 7). Reutlingen Fischer, U.; Hahn, M. Th.; Klingmüller, B.; Seifert, M. (Hrsg.) (1994): WISTA-Experten-Hearing 1993. Wohnen im Stadtteil für Erwachsene mit schwerer geistiger Behinderung (Berliner Beiträge, Bd. 1). Reutlingen Fischer, U.; Hahn, M. Th.; Klingmüller, B.; Seifert, M. (Hrsg.) (1996): Urbanes Wohnen für Er- Johannes Degen, Martin Th. Hahn 404 VHN 4/ 2004 Das Risiko der Freiheit wagen 405 VHN 4/ 2004 wachsene mit schwerer geistiger Behinderung. Herausforderung - Realität - Perspektiven (Berliner Beiträge, Bd. 2). Reutlingen Fischer, U.; Hahn, M. Th.; Lindmeier, Chr.; Reimann, B.; Richardt, M. (Hrsg.) (1998): Wohlbefinden und Wohnen von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung. Tagungsbericht des Projektes WISTA (Berliner Beiträge, Bd. 6). Reutlingen Hackl, M. (gestützt durch Stubenvoll I.) (2003): Im Gemeinschaftszwang irgendwie ein Ich entwickeln. In: Orientierung 3, 2 - 4 Hahn, M. Th.; Eisenberger, J.; Hall, C.; Koepp, A.; Krüger, C. (2003): Die Leute sind ja draußen aufgeblüht… Zusammenfassende Gesamtdarstellung des Projektes USTA (Berliner Beiträge, Bd. 10). Reutlingen Hahn, M. Th.; Fischer, U.; Klingmüller, B.; Lindmeier, Chr.; Reimann, B.; Richardt, M.; Seifert, M. (Hrsg.) (2004): Warum sollen sie nicht mit uns leben? Stadtteilintegriertes Wohnen von Erwachsenen mit schwerer geistiger Behinderung und ihre Situation in Wohnheimen (Berliner Beiträge, Bd. 11). Reutlingen Lüpke, K., Von (2004): Das machbare Glück von Dromstaedt. Essen PD Dr. Johannes Degen Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Stiftung Hephata Rheydter Strasse 128 - 130 D-41065 Mönchengladbach E-Mail: johannes.degen@t-online.de Dr. Martin Th. Hahn Universitätsprofessor i. R. Humboldt-Universität zu Berlin Hochbergstrasse 1 D-72501 Gammertingen Martin-Th.Hahn@t-online.de
