eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 73/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2004
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Bioethik, Menschenwürde und Behinderung

71
2004
Markus Dederich
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatte über spezifische Fragen der „Bioethik“ wird die Bedeutung der Menschenwürde herausgearbeitet. Es wird die Frage beleuchtet, inwiefern dieser Diskurs ein Streit über Grenzziehungen ist, die über ethischen Einschluss und Ausschluss entscheiden. Einige Grundzüge des Versuchs der Begründung der Würde durch Kant werden nachgezeichnet und kritisch diskutiert. Hierbei geht es vor allem um die Frage, wem genau Menschenwürde zukommt und ob es spezifische Kriterien gibt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Menschenwürde sind. Darüber hinaus diskutiert der Text die Idee der Menschheit, den Prozess der Relativierung des Wertes von Menschenleben und das Verhältnis von Menschenwürde, Universalität und Andersheit.
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260 1 Grundsätzliche Überlegungen Durch die gesamte Geschichte zumindest der abendländischen Kultur zeigt sich die soziale, gesellschaftliche, aber auch rechtliche Situation behinderter Menschen in einem wechselhaften Spannungsverhältnis von Exklusion, gesellschaftlicher Marginalisierung und Separierung, Entrechtung und verweigerter Anerkennung, eingeschränkter Teilhabe bis hin zu Bemühungen um schulische, berufliche und soziale Integration (vgl. Haeberlin 1996). In den vergangenen Jahrzehnten haben sich behinderte Menschen selbst verstärkt zu Wort gemeldet, auf ihre Belange aufmerksam gemacht und in den gesellschaftlichen Diskurs eingegriffen. Wichtige Beispiele hierfür sind die politische Behindertenbewegung in Deutschland und die Disability Rights Movement in den USA. Die Rekonstruktion der historischen Veränderungen innerhalb dieses Spannungsverhältnisses zeigt keineswegs einen linearen, gradlinigen Verlauf, sondern vielfältige Verlagerungen und Verschiebungen. Ebenso ist eine Vielfalt an Deutungsmustern, Erklärungsmodellen und Repräsentationen von Behinderung in der Kultur zu beobachten. Diese Variabilität zeigt, dass menschliches Behindertsein nicht als isoliertes, objektives und unveränderbares Faktum zu sehen ist, sondern nur im Kontext gesellschaftlich-kultureller, etwa religiöser und wissenschaftlicher Deutungsmuster verstanden werden kann. Diese sind mit einem bestimmten „Wissen“ und mit gesellschaftlichen Praktiken, mit VHN, 73. Jg., S. 260 - 270 (2004) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Bioethik“, Menschenwürde und Behinderung Markus Dederich Universität Dortmund Zusammenfassung: Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatte über spezifische Fragen der „Bioethik“ wird die Bedeutung der Menschenwürde herausgearbeitet. Es wird die Frage beleuchtet, inwiefern dieser Diskurs ein Streit über Grenzziehungen ist, die über ethischen Einschluss und Ausschluss entscheiden. Einige Grundzüge des Versuchs der Begründung der Würde durch Kant werden nachgezeichnet und kritisch diskutiert. Hierbei geht es vor allem um die Frage, wem genau Menschenwürde zukommt und ob es spezifische Kriterien gibt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Menschenwürde sind. Darüber hinaus diskutiert der Text die Idee der Menschheit, den Prozess der Relativierung des Wertes von Menschenleben und das Verhältnis von Menschenwürde, Universalität und Andersheit. Schlüsselbegriffe: Menschenwürde, Behinderung, Universalität, Andersheit “Bioethics”, Human Dignity and Disability Summary: Regarding the present debates on specific questions of “bioethics”, this paper elaborates the significance of human dignity. The question is regarded, in what way this discourse is an argument about boundaries, which are decisive for ethical inclusion or exclusion. Some essentials of Kant’s foundation of dignity are outlined und critically discussed. The main point here is the question, who exactly is the subject of dignity and whether there are specific criteria, which are prerequisite for the granting of dignity. Further the paper discusses the idea of humanity, the process of the relativization of human lives and the relation between human dignity, universality and difference. Keywords: Human dignity, disability, universality, difference Fachbeitrag spezialisierten Institutionen und Expertenkulturen verbunden, die ihren „Gegenstand“ - menschliches Behindertsein - überhaupt erst auf eine bestimmte Weise erscheinen lassen. In der gegenwärtigen Bundesrepublik Deutschland ist die Lage in Bezug auf das Spannungsfeld von Ausschluss und Integration keineswegs eindeutig. Auf der einen Seite lässt sich zeigen, dass wahrscheinlich noch niemals zuvor so viele materielle und immaterielle Ressourcen für Menschen mit Behinderung aufgebracht und bereitgestellt wurden. Ob und in welchem Umfang sich dieses Niveau unter den gegenwärtigen Bedingungen des Umbaus und der Einschrumpfung des Sozialstaates wird halten lassen, wird die Zukunft erweisen. Gleichzeitig aber muss auf die bioethischen Diskurse der Gegenwart und die biomedizinischen Praktiken, auf die sich diese Diskurse beziehen, verwiesen werden. Gemeint sind in erster Linie die vorgeburtliche Diagnostik, Schwangerschaftsabbrüche (und hier vor allem die Spätabtreibungen), das „Liegenlassen“ schwer geschädigter Neugeborener und die sog. „Früheuthanasie“, aber auch Techniken wie das Klonieren oder die verbrauchende Embryonenforschung. Von diesen gehen nach Ansicht mancher Beobachter durchaus tief greifende Anfechtungen aus. Zum einen drohen sie fundamentale Rechte auszuhebeln, zum anderen könnten sie eine uneingeschränkte Annahme Behinderter durch die Gesellschaft erneut in Frage stellen. So schreiben die Mitglieder des Nationalen Ethikrates, die im Januar 2003 ein Minderheitsvotum zu Fragen der genetischen Diagnostik vor und während der Schwangerschaft abgegeben haben: „Es spricht einiges dafür, dass pränatale Diagnosemöglichkeiten die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen insgesamt negativ beeinflussen und weiterer Diskriminierung Vorschub leisten. Festzustellen ist, dass die unbestrittene Verbesserung der Lebensbedingungen behinderter Menschen zeitlich parallel mit dem Bestreben nach einer weiteren Ausweitung selektiver Verfügbarkeit vor der Geburt erfolgt. (…) Die genetischen Untersuchungsmethoden verstärken die technikorientierte Erwartungshaltung, gesunde Kinder zu bekommen. Zugleich wird Behinderung mit Leid, Belastung und verminderter Lebensqualität assoziiert“ (Nationaler Ethikrat 2003, 51f). Obgleich einige Mitglieder des Nationalen Ethikrates die These vertreten, Methoden der pränatalen Diagnostik und der Präimplantationsdiagnostik seien allenfalls als individuelle „Kränkung“ Behinderter anzusehen, wird auch von Befürwortern einer moderat-liberalen Praxis eingeräumt, behinderte Menschen würden durch vorgeburtliche Diagnostik damit konfrontiert, „dass jemand, der ebenso behindert sein würde wie sie selbst, legitimer Weise daran gehindert werden kann, überhaupt geboren zu werden“ (78). Der Diskurs über ethische Fragen der Medizin betrifft die unterschiedlichsten Phasen des Lebens und einen heterogenen Kreis von Individuen: die unbefruchtete oder befruchtete Eizelle vor und nach der Nidation, den frühen Embryo, Föten, Frühgeborene, schwer geschädigte Neugeborene, nicht einwilligungsfähige Menschen, etwa Kinder, schwer geistigbehinderte oder altersdemente Menschen und Menschen im Koma. Trotz der teilweise sehr unterschiedlichen Fragestellungen, die jeweils aufgeworfen werden, durchzieht eine zentrale Problematik das gesamte Feld. Das ist die Frage nach dem jeweils gültigen moralischen Status. Diese Frage ist, obwohl sie tief in die philosophische Ethik hineinführt, keine akademisch-theoretische, sondern eine ganz praktische. Sie betrifft letztlich die entsprechenden Rechte und damit die Schutzwürdigkeit. Insofern sind die Diskurse über die biomedizinischen Praktiken, die je nach Position ethisch legitimiert oder kritisiert werden sollen, de facto Verhandlungen und Auseinandersetzungen über Grenzziehungen. Hier nun kommt die Menschenwürde in den Blick. Diese Grenzziehungen - oder genauer, wie Jantzen sagt, „Grenzregimes“ (Jantzen 1998, 86) - sollen letztendlich bestimmen, wem Menschenwürde und damit auch ein verbriefter Schutz dieser Menschenwürde zukommt und wem nicht. Letztlich geht es also um ethischen, „Bioethik“, Menschenwürde und Behinderung 261 VHN 3/ 2004 rechtlichen und politischen Einschluss und Ausschluss, um Schutzwürdigkeit und Einschränkungen von Schutzwürdigkeit, und, wie die historische Erfahrung zeigt, um Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit. Der gegenwärtige Diskurs über die Menschenwürde ist vielstimmig und heterogen. Zu den kontrovers diskutierten Aspekten gehören die Fragen nach ihrer Reichweite, ihrem Umfang, ihrer konkreten Bedeutung (d. h. die Frage, worin diese Würde genau besteht) und ihrer Begründung. Während die Diskussion über die Reichweite im Kern um die Frage kreist, wem genau Menschenwürde zukommt, bezieht sich die Frage nach dem Umfang auf die Kontroverse, wann und in Bezug auf welche Probleme oder menschlichen Erfahrungen die Würde tatsächlich von Belang ist. Mit diesem Aspekt hängt die Kritik zusammen, die Idee der Würde werde gegenwärtig inflationär bemüht, was eine Verwässerung und einen Bedeutungsverlust zur Folge habe. Auf einige dieser Fragen werde ich nachfolgend zumindest ansatzweise eingehen. Weitere strittige Punkte beziehen sich auf die Frage, ob die Menschenwürde allein als oberste ethische Maxime und regulative Idee zu gelten habe oder ob sie auch mit einem gesellschaftlichen und politischen Gestaltungsauftrag verbunden ist. Hiermit hängt die Frage zusammen, ob die Würde des Menschen tatsächlich unantastbar ist oder ob es umgekehrt Lebensbedingungen und -umstände gibt, welche die menschliche Würde angreifen oder verletzen können, etwa Gewalterfahrungen, Hunger, politische Entrechtung oder Verweigerung sozialer Anerkennung. Für die Behindertenpädagogik ist die Menschenwürde Antor und Bleidick (2000) zufolge beides: Sie steht „nicht nur am Beginn von Pädagogik, sie bleibt auch ein wichtiges Ziel“ (13). In jüngerer Zeit wurde in Deutschland schließlich die Frage diskutiert, ob der Schutz der Menschenwürde ein selbstständiges Grundrecht mit vagem Rechtsgut sei, oder ob sie eine Fundamentalnorm darstelle, die die Grundlage aller anderen Grundrechte bildet. Ausgangspunkt für diese Debatte bildet der Neukommentar des Artikels 1 des Grundgesetzes durch Matthias Herdegen, der sich in genau diesem Punkt vom Erstkommentar Günter Dürigs aus dem Jahr 1957 absetzt. Stark vereinfacht gesagt: Während bei Dürig der unbestimmt wirkende Artikel 1 als Fundamentalnorm die Basis aller anderen Artikel bildet und deren „Geist“ und ihre Interpretation durchwirkt, stellt ihn Herdegen neben die anderen Artikel. Nach der Interpretation Dürigs stünden die Grundrechte im Dienste der Menschenwürde. Mit Blick auf behinderte Menschen wäre diese der letzte Grund ihrer Rechte und der Pflichten der Gesellschaft ihnen gegenüber und somit jeglicher Abwägung entzogen. Demgegenüber zieht Herdegen u. U. ein Zurückstehen der Würde hinter anderen Grundrechten in Betracht. Dies aber hätte zur Folge, so die Kritik, dass die im Prinzip der Menschenwürde angelegte Unantastbarkeit eben doch einer Abwägung unterzogen werden kann (vgl. hierzu den Kommentar von Bockenförde 2003). Dies aber würde eine Relativierung der Würde bedeuten. 2 Die Bedeutung der Idee der Menschenwürde für die Behindertenpädagogik Obwohl die Behindertenpädagogik in dem weit verzweigten und vielstimmigen gesellschaftlichen Diskurs bis heute nur eine marginale Rolle spielt und die in diesem Bereich entwickelten Positionen außerhalb der Behindertenpädagogik so gut wie gar nicht wahrgenommen werden, ist der Diskurs von fundamentaler Bedeutung für das Fach. Letztendlich betrifft er ihr Wertefundament. Der Ethikdiskurs in der Behindertenpädagogik ist lange Zeit weitgehend reaktiv betrieben worden, nämlich als Antwort auf die Thesen von Peter Singer. Dies scheint mir ein wesentlicher Grund dafür zu sein, dass der Begriff der Person gegenüber dem Konzept der Menschenwürde in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts deutlich im Vordergrund gestanden hat. Markus Dederich 262 VHN 3/ 2004 Der Begriff der Person hat philosophiegeschichtlich eine Reihe von Bedeutungsveränderungen erfahren und wird bis in die Gegenwart hinein kontrovers diskutiert. In der neuzeitlichen Philosophie ist er insofern eng mit der Idee der Menschenwürde verknüpft, als er auf die Unableitbarkeit des Menschen und damit auf seinen Eigenwert abzielt, eben darauf, dass er eine Würde besitzt. Jüngst hat Bleidick noch einmal auf die zentrale Funktion eines nicht ausschließenden Personbegriffs hingewiesen: Er dient der Bewahrung und Achtung „der personalen Würde und der Unverletzlichkeit behinderter Menschen als Schutz gegen vermeidbare Benachteiligung bis hin zur Bedrohung durch Euthanasie“ (Bleidick 2003, 36). Als Schutz gegen politisch, gesellschaftlich oder auch wissenschaftlich-ökonomisch motivierte Relativierungen und Erosionen stehen nach Bleidick im Prinzip zwei Begründungswege offen. Wie er betont, ist diese Diskussion auf einer Ebene angesiedelt, die ganz ohne metaphysische Vorannahmen oder vorab erfolgte Wertentscheidungen kaum zu führen ist. Die erste Begründungsstrategie zielt auf einen normativ-theologisch abgeleiteten Personbegriff, die zweite auf die gattungsspezifisch zugeschriebene Personalität. Gemeinsam ist beiden Begriffen „die ausdrückliche Normativität als Wertvergewisserung“ (ebd.). Für Bleidick ist in Bezug auf den Begriff der Person eine normative Legitimation unumgänglich. Allein sie kann empirischen oder pseudoempirischen Einschränkungen umfassend geltender Personalität widerstehen. Das unverzichtbare Wertfundament der Behindertenpädagogik ist Bleidick zufolge die „Anerkennung der Personalität ausnahmslos aller Menschen“: Sie „ist ein absoluter, d. h. von allen weiteren Bedingungen ,losgelöster‘, unabhängiger Wert“ (37). Bleidick ist Realist genug, um das Spannungsverhältnis wahrzunehmen, das zwischen allgemeinen ethischen Prinzipien oder universalen moralischen Geboten einerseits und dem konkreten Anlass, etwa durch persönliche Betroffenheit, besteht. Trotz der Widersprüche in der Moralgeltung hält Bleidick an der vielleicht utopischen Zielsetzung fest, dass die Gegenwartsgesellschaft die prinzipielle Möglichkeit hat, ein „freiverantwortetes Bekenntnis zur Personalität“ (43) abzulegen. Dies wäre ein Bekenntnis zu unverrückbaren ethischen Maximen, wie sie - zumindest in bestimmten Deutungen - im Prinzip der Menschenwürde angelegt sind. Die hier sehr gerafft rekapitulierte Position von Bleidick kann als durchaus exemplarisch angesehen werden. Trotz der starken Fokussierung auf den Begriff der Person in den 90er Jahren wurde auch explizit auf die Menschenwürde und unveräußerliche Menschenrechte, etwa das Recht auf Bildung, das uneingeschränkt für alle Menschen gelten soll, rekurriert. Sie bildet beispielsweise in Specks Arbeit „Erziehung und Achtung vor dem Anderen“ (1996) eine wichtige argumentative und ethische Argumentations- und Begründungsfigur. Auch Antor (2003) hat die Menschenwürde aus dem Hintergrund in den Mittelpunkt seiner Betrachtung und Reflexionen gestellt. Im Zentrum der Idee der Menschenwürde artikuliert sich ein Anspruch auf Achtung bzw. Anerkennung, der keinem Menschen abgesprochen werden kann. Die Idee impliziert das Verbot einer diskriminierenden Unterscheidung von Menschen anhand empirischer Merkmale wie Behinderung, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Weltanschauung oder sozialem Status. Wie Antor schreibt, stellt die Menschenwürde „so etwas wie einen normativen Gegenentwurf dar zu den Menschheitserfahrungen von Demütigung und Entwürdigung der Geschichte der Moderne“ (Antor 2003, 49). Dieser Gegenentwurf hat Antor zufolge zwei Fundamente bzw. Ausgangspunkte, einen empirischen und einen ethisch-normativen. Der empirische Ausgangspunkt ist „eine extreme Verletzlichkeit des Menschen“ (ebd.), der ethisch-normative die grundlegende „Bestimmung zur Freiheit“ (ebd.). Überblickt man die gesamte Diskussion, so scheint es weitgehend außer Frage zu stehen, dass es einen Kernbereich gibt, auf den sich die Idee und damit die Schutzfunktion der Menschenwürde er- „Bioethik“, Menschenwürde und Behinderung 263 VHN 3/ 2004 strecken. Im Mittelpunkt stehen Eingriffe in die körperliche Integrität, der Schutz vor Diskriminierung und ungerechtfertigter Benachteiligung, vor Willkür, politischer Entrechtung und Tötung. 3 Menschenwürde von Anfang an? Während prinzipiell über den Kernbereich der Menschenwürde kaum Meinungsverschiedenheiten herrschen dürften, sind ihr Umfang und ihre Reichweite durchaus umstritten. Dieser Streit entzündet sich gegenwärtig vor allem in Bezug auf den Anfang des menschlichen Lebens immer wieder aufs Neue. Tatsächlich herrscht diesbezüglich ein fundamentaler Dissens, der sich mit Blick auf die deutschsprachige Diskussion etwa an den Positionen von Robert Spaemann (1996) einerseits und Reinhard Merkel (2002) andererseits festmachen lässt. In der jüngeren Vergangenheit wurde mit Blick auf die Präimplantationsdiagnostik (PID) und die Stammzellforschung kontrovers diskutiert, ob der in vitro befruchteten Eizelle Menschenwürde zukomme. Beide Technologien implizieren den so genannten Verbrauch menschlicher Embryonen. Während die PID die Verwerfung geschädigter Embryonen impliziert, greift die Forschung an embryonalen Stammzellen auf totipotente Zellen zurück, die im Reagenzglas vervielfältigt, aber im Dienste der Forschung an ihrer menschlich-biologischen Entwicklung gehindert werden. Geht man davon aus, dass dem frühen Embryo eine uneingeschränkte Würde zukommt, dann liegt hier eindeutig eine unzulässige Instrumentalisierung für fremde Zwecke vor. Durch diese Techniken, so sagen die Kritiker, werden der moralische Status des vorgeburtlichen Lebens und seine Schutzwürdigkeit massiv in Frage gestellt (vgl. hierzu die verschiedenen Beiträge in Geyer 2001). Wie gesagt: Der Kernbereich der Idee der Menschenwürde ist weitgehend unbestritten. In Bezug auf den Embryo ist aber durchaus strittig, ob er auch verfassungsrechtlich „in den Schutzbereich der absoluten, jeder Güterabwägung entzogenen Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) gehört oder lediglich in den eines einfachen Lebensschutzes (Art. 2 Abs. 2 GG)“ (Antor 2003, 52). Antor weist auf die beträchtlichen Folgen hin, die diese Unterscheidung nach sich zieht: „Ein einfacher Lebensschutz würde eine Abwägung mit anderen Zielen wie etwa Heilung erlauben und der ließe sich im Sinne eines abgestuften Lebensschutzes vor der Geburt auslegen“ (ebd.). Aus der Sicht einer wertgeleiteten Behindertenpädagogik jedoch steht außer Frage, dass die Idee der Menschenwürde mit einem ethischen Lebensschutz - man könnte auch sagen: mit einer nicht-ausschließenden Ethik als Schutzbereich - gekoppelt werden muss. 4 Zur Begründung der Menschenrechte und Menschenwürde Der klassischen, im 18. Jahrhundert entstandenen Idee der Menschenrechte liegt die Vorstellung zu Grunde, alle Menschen seien frei und gleich geboren. Hierdurch wird die Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung mit einer politischen, rechtlichen und moralischen Bedeutung aufgeladen. Subjekte der Menschenrechte sind alle als Menschen geborene. Diese Vorstellung spiegelt sich auch wider in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948. Dieser Erklärung gemäß hat jeder Mensch mit seiner Geburt ein Recht auf Leben. Durch die Geburt werden die individuellen Menschenrechte in Kraft gesetzt, und sie gelten uneingeschränkt, werden also weder an ein empirisch nachweisbares Vernunftvermögen gekoppelt noch an das Vorhandensein einer bestimmten körperlichen Gestalt. Wie Braun (1999) hervorhebt, impliziert die dem modernen Naturrecht entstammende Menschenrechtsidee, „dass alle Angehörigen der menschlichen Gattung eine moralische Gemeinschaft bilden, die nun zugleich eine Rechtsgemeinschaft ist. Alle, die der mensch- Markus Dederich 264 VHN 3/ 2004 lichen Gattung angehören, sind auch Angehörige der moralischen Gemeinschaft und haben als solche denselben moralischen Status“ (Braun 1999, 62). Historisch hat die Idee der Würde ihren Ursprung im Christentum, wo sie mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen begründet wird. Seit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und der Emanzipation der Philosophie von der Theologie ist die Würde zu einem Kernmotiv des abendländischen Humanismus geworden. Es scheint konsequent zu sein, dass mit dem Ende des Humanismus, das seit Nietzsche durch eine ganze Reihe von Philosophen und Theoretikern verkündet wurde, auch die Idee der Menschenwürde obsolet geworden ist. Philosophiegeschichtlich geht die einflussreichste Begründung der Menschenwürde auf Kant zurück. Dabei ist die Kategorie der Menschheit für die Begründung der Menschenwürde von zentraler Bedeutung. Im Gegensatz zur empiristischen Fassung des Personbegriffs von Locke, der in die Konstruktionen von Peter Singer (1994) eingegangen ist, sind empirisch feststellbare Eigenschaften oder Fähigkeiten des Individuums - Vernünftigkeit, Autonomie, Zeitbewusstsein usw. - nicht maßgeblich, sondern die Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung. Menschheit heißt bei Kant zweierlei. Sie korrespondiert einerseits mit dem biologischen Gattungsbegriff; andererseits ist sie eine regulative Idee. Die Menschheit wird gekennzeichnet durch Vernunft, Willensfreiheit, Autonomie, Selbstgesetzgebung und Sittlichkeit. Diese Vermögen laufen in der Freiheit bzw. Autonomie zusammen. Anders gesagt: Die Menschheit ist mit einem Vernunft-, Moral- und Freiheitsvermögen begabt, und dieses ist das Fundament der Würde - der Würde der menschlichen Gattung und, darin impliziert, der Würde der einzelnen Menschen. Allerdings muss man auch sehen, dass Kant seiner Zeit durchaus verhaftet war und die Universalität seines Freiheitsbegriffs gravierende Einschränkungen aufweist, die letztlich auf empirische Merkmale konkreter Individuen zurückgeführt werden. Diese Einschränkungen stehen jedoch im Widerspruch zu der von Kant selbst postulierten und begründeten Universalität. Zieht man die Einschränkungen in Betracht, handelt es sich nach Ansicht von Kritikern daher keineswegs um ein universales, sondern ein partikulares Konzept von Würde. Wetz (1998) zufolge anerkannte Kant nicht jeden Menschen in einem politischen Sinn als frei, „sondern, den Vorstellungen seiner Zeit gemäß, nur die selbständigen Staatsbürger männlichen Geschlechts, was man kurz so ausdrücken kann: Für Kant sind alle Menschen frei - ausgenommen Kinder, Frauen, Bedienstete und Tagelöhner“ (46). Diese kleine Nebenbemerkung verweist exemplarisch auf den Sachverhalt, dass die Menschenwürde historisch de facto immer wieder eingeschränkt worden ist. Daher ist der Diskurs um eine vom Umfang her uneingeschränkte Menschenwürde immer auch ein Versuch, diese mit Kant gegen Kant zu verteidigen. Die Kantische Konzeption des Begriffs der Menschheit ist am deutlichsten in die zweite Fassung des Kategorischen Imperativs eingegangen, wie sie Kant in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ formuliert hat: „Handele so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden Anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Kant 1965, 52). Würde ist also durch die Selbstzweckhaftigkeit bestimmt. Kant schreibt: „Im Bereich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“ (58). In dieser Formulierung sind zwei Aspekte zentral: die Annahme von der Unersetzbarkeit jedes Menschen und das Instrumentalisierungsverbot. Diese Grundlegung der Würde ist auch für die Grundrechte, insbesondere für das Lebensgrundrecht zentral: Das Instrumentalisierungsverbot betrifft alle Menschen. Entsprechend „Bioethik“, Menschenwürde und Behinderung 265 VHN 3/ 2004 gibt es in Deutschland einen verfassungsrechtlich verankerten „Schutz- und Achtungsanspruch“ (Höfling 2001, 243). Dabei galt bisher ein Maßstabsvorrang des Lebensgrundrechtes gegenüber anderen Rechtsgütern, der dann greift, wenn die Würde des Menschen angetastet wird. Und dies ist gegeben, wenn der andere Mensch verdinglicht wird, indem er zu außerhalb seiner selbst liegenden Zwecksetzungen instrumentalisiert wird. Die skizzierten Grundlinien der Begründung der Menschenwürde bei Kant implizieren eine ganze Reihe von Problemen, von denen hier nur einige genannt werden sollen. Das Erste betrifft die Selbstzweckhaftigkeit des Sittengesetzes. Wenn das Sittengesetz um seiner selbst willen verfolgt werden muss, so sagen Kritiker, droht das konkrete Wohl der Individuen und der Gattung aus dem Blick zu geraten. Das zweite Problem betrifft die Gefahr der Inflationierung und Verwässerung der Idee der Menschenwürde durch unpräzisen und übermäßigen Gebrauch. Ein Beispiel: Je mehr partikulare Interessen von Personen oder Gruppen als Menschenrechte eingefordert oder eingeklagt werden, umso mehr kommt es nicht nur zu einer bloßen Ausweitung ihres Umfanges, sondern auch zu einer Verwässerung ihrer Kernideen und wichtigsten Funktionen. Das dritte Problem ist wesentlich komplexer. Es bezieht sich auf die Geburt als Grenzziehung, die dem Prinzip der Menschenrechte eingeschrieben ist. U. a. von dieser Problematik ausgehend, entzündet sich die Frage nach einem gestuften oder einheitlichen Lebensschutz. Viertens ist das Verhältnis von Einzelmenschen und menschlicher Gattung zu nennen. Dieses Problem betrifft vor allem die Begründungsebene, hat aber auch Auswirkungen auf den Bereich der Geltung der Menschenwürde. Fünftens schließlich stellt sich die Frage, ob und wie die Idee der Menschheit mit Andersheit oder Differenz zusammen zu denken ist. Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen zu den drei letztgenannten Problemen anfügen. 4.1 Menschenleben undMenschenwürde Wie bereits erwähnt, hat sich die Frage nach dem moralischen Status des Embryos in jüngerer Zeit vor allem in Bezug auf die Präimplantationsdiagnostik und die Stammzellforschung gestellt. Ist der frühe Embryo ein „Zellhaufen“ oder besitzt er Würde? Beginnt die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens, die sowohl das Prinzip der Menschenwürde als auch das Grundgesetz der BRD gebieten, mit der Befruchtung der menschlichen Eizelle oder zu einem späteren Zeitpunkt? Einige der Vorschläge zur Bestimmung des Zeitpunktes sind die folgenden: die Ausbildung von Selbstbewusstsein, Selbstbestimmungsfähigkeit und das Vorhandensein von Präferenzen, die erst lange nach der Geburt nachzuweisen sind; die Geburt; Schmerz- und Empfindungsfähigkeit eines Menschen, die an ein zumindest minimal funktionierendes Nervensystem gebunden sind; die Hirnentwicklung; die Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter; die Verschmelzung von Eizelle und Samen, unabhängig davon, ob dies im oder außerhalb des Körpers geschieht. Alle diese Vorschläge können eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen, ziehen aber auch teilweise schwerwiegende ethische Probleme und Widersprüche nach sich. Trotz vieler Bedenken läuft die Entwicklung in Deutschland de facto auf einen gradualistischen Begriff der Unantastbarkeit der Würde hinaus. Gegenüber der allseits betonten und hochgehaltenen Menschenwürde wird, wie Picker (2002) festhält, gegenwärtig die fundamentalrechtliche Absicherung des konkreten Menschenlebens mehr und mehr ausgehöhlt. Die Idee der Würde basiert auf der Überzeugung, „dass sie, wie immer auch konkretisiert, gegenüber allen Gegeninteressen Vorrang besitzt, dass sie deshalb keine Beschränkung erlaubt und namentlich keine Abwägung mit anderen Rechtsgütern zulässt“ (6). Demgegenüber unterliegt das menschliche Leben gegenwärtig einem Vorgang „permissiver Relati- Markus Dederich 266 VHN 3/ 2004 vierung“ (25). Es wird gegen andere, nichtvitale Interessen, etwa diejenigen von Eltern eines möglicherweise behinderten zukünftigen Kindes, gegen das Postulat ihrer Autonomie und „reproduktiven Freiheit“, gegen die „Forschungsfreiheit“, gegen den humanitär begründeten, für die Zukunft in Aussicht gestellten Fortschritt in der Medizin oder gegen Kosten im Gesundheits- und Sozialsystem der Gesellschaft aufrechenbar. Einer der wesentlichen Gründe für den Prozess der permissiven Relativierung erblickt Picker in einer spezifischen Entwicklungsdynamik der modernen Gesellschaft. Die Zunahme steuernden oder kontrollierenden Könnens erzeugt neue Handlungsoptionen und mit ihnen eine expansive Veränderung von Wünschen. „Was an Natur und Schöpfung korrigiert oder perfektioniert werden kann, wird reklamiert als Standard der Daseinsvorsorge, den die Gemeinschaft ihren Mitgliedern schuldet“ (28f). Mit jedem neuen Erfolg bei der Kontrolle oder Steuerung elementarer Lebensprozesse steigt gemäß dieser Logik auch die Verfügbarkeit des Lebens. So zeigt sich, „dass die ungehemmte medizinisch-technische Determinierung des Lebens, die Steuerung seiner Entstehung, die Lenkung seines Verlaufs und die Entscheidung über sein Ende, eben dieses Leben als Höchstwert relativieren“ (30). Die mit verschiedenen biomedizinischen Techniken und Praktiken verbundene Gefahr besteht demnach darin, dass sie die Menschenwürde aufweichen und relativieren, und zwar dann, wenn sie als Instrumente der Qualitätsprüfung eingesetzt werden, die darüber entscheiden, ob ein Mensch ins Leben treten darf oder nicht. Die „Absolutheit und Sakrosanktheit“ (140) des Menschen wird damit aber bestritten. Maßgeblich werden die heteronomen Belange externer Dritter, ihre Wünsche, Wertvorstellungen und Gestaltungsoptionen. Der Mensch verliert sein angeborenes Recht ins Leben zu treten und muss fortan erst eine Lizenz erwerben, indem er nachzuweisen hat, dass er extern gesetzte Kriterien erfüllt. 4.2 Zum Begriff der Menschheit In Kants Ethikbegründung ist der Begriff der „Menschheit“ von zentraler Bedeutung. Dabei scheint der allgemein und abstrakt gefassten Menschheit ein gewisser Vorrang gegenüber dem einzelnen Individuum zuzukommen. Durch den Rekurs auf die menschliche Gattung gelingt Kant einerseits eine Begründung, die nicht an empirisch feststellbare Merkmale konkreter Einzelexistenzen gebunden ist. Zugleich aber zieht der normative Vorrang der Gattung eine Reihe von Problemen nach sich, von denen ich nachfolgend in aller Kürze zwei skizzieren möchte. Kant hat in seiner Ethikbegründung zweierlei im Blick: die zur Gattung „Mensch“ gehörenden empirischen Naturwesen und die Wesen, deren „Menschheit“ zu achten ist. Dabei ist aber nicht eindeutig, ob beide Begriffe in vollem Umfang deckungsgleich sind, ob also alle zur Gattung gehörenden empirischen Menschen auch zur Achtung gebietenden „Menschheit“ gehören. So fragt Wolfgang Jantzen: „Was aber ist diese Würde, die es unmöglich macht, den Menschen auf einen bloßen Preis zu reduzieren? Dies bleibt inhaltlich ungeklärt. Sie kommt bei Kant selber all jenen zu, die im geistigen Sinne Mensch sind, die also als Träger eines freien Willens zugleich Träger der Vernunft sind. Aber dies sind nicht alle Menschen! Das Reich der Freiheit baut auf dem Reich der Natur auf und dieses wird - vermittelt über die Erziehung - erst von erwachsenen und mündigen Menschen erreicht, psychisch kranken und behinderten Menschen ist es, so Kant, nicht zugänglich“ (Jantzen 1998, 182). Deshalb, so Jantzen, bezieht sich der Kategorische Imperativ nicht auf alle Lebewesen, die biologisch zur Gattung Mensch gehören. Menschen, die dem Reich der Natur angehören, nicht aber dem der Freiheit, sind im Kantischen Sinne „nicht Träger von Würde“ (ebd.). Das zentrale Problem der Menschenwürde bei Kant ist Jantzen zufolge seine Unterbestimmtheit. Daher ist „eine radikale Ausweitung des Personbegriffs“ (183) er- „Bioethik“, Menschenwürde und Behinderung 267 VHN 3/ 2004 forderlich, und zwar dahin gehend, „dass jeder Angehörige der biologischen Gattung Mensch auch im rechtlichen, sozialen und psychischen Sinne Mensch ist“ (ebd.). 4.3 Menschenwürde, Universalität und Andersheit Es kommt eine weitere Problematik hinzu: Der Ausgang vom „Menschen überhaupt“ bei Kant, also einem kosmopolitischen Gattungsbegriff, droht die Unterschiede zwischen den Menschen zu überspringen. Hierzu notiert Liebsch: Vor dem Sittengesetz im Kantschen Sinne „sind alle gleich. Maximen praktischen Tuns, die ihm zu entsprechen haben, orientieren sich an einer unpersönlichen Norm, die weder hinsichtlich ihrer Begründung noch hinsichtlich ihrer Anwendung Rücksicht nimmt auf mich oder den Anderen oder auf andere Andere. Was uns unterscheidet, macht für die Moralität keinen Unterschied“ (Liebsch 1999, 39). Gegenüber dieser Engführung ist es jedoch von Bedeutung, zumindest für geborene Menschen, die Idee der Menschenwürde vor dem Horizont der Vielfalt, Pluralität und Differenz aller Menschen zu reflektieren. Hiermit ist, ausgehend von Emmanuel Levinas, nicht nur eine bloß empirische Differenz gemeint, sondern eine radikale Andersheit, eine Singularität, die alle Gemeinsamkeiten der Gattung und alle Universalismen unterläuft. Zwar impliziert die Idee der Menschheit Pluralität. Aber sie droht, die Andersheit zu eliminieren, „in der gerade die Wurzel einer wirklichen, nicht aufhebbaren und nicht bloß numerischen Pluralität liegt“ (Liebsch 1999, 41). Insofern also gilt es, Andersheit gegenüber nivellierender Pluralität zu verteidigen. Folgt man dem Begriff der Andersheit, wie Levinas ihn entwickelt hat, so impliziert er im Kern zweierlei: die Idee der Nicht-Indifferenz und damit verbunden eine unhintergehbare Verantwortung für den anderen Menschen. In Anschluss an Levinas hat die Idee der Menschheit ihren Ursprung im konkreten Anderen. Dieser Andere zeichnet sich durch eine radikale „Exterritorialität“ aus, also eine nicht einholbare „Außer-Ordentlichkeit“. Zugleich hat die „Menschheit“ des Anderen eine ethische Bedeutung. Sie zeigt sich in seinem Antlitz und ruft mich durch den Anspruch, der ihm eingeschrieben ist, in die Verantwortung. Dieser Anspruch des Anderen geht jeder Unterscheidung von „gleich“ und „anders“, von „vertraut“ und „fremd“, von „zugehörig“ und „unzugehörig“ voraus. In diesem Sinn gibt es keinen Anderen, der jenseits der Verantwortung wäre. In der hier vorgeschlagenen Perspektive wird Verantwortung so verstanden, dass sie allen begrifflichen Rasterungen und Kategorisierungen vorgängig ist. Aufgrund dieser Vorgängigkeit wird dem anderen Menschen in seiner Singularität ethisch ein Vorrang eingeräumt. Wenn aber der andere Mensch in ethischer Hinsicht der erste Mensch ist, können wir nicht mehr selbstherrlich bestimmen, „ob er ‚drinnen‘, an unserem Ort und nach unseren Regeln, oder ‚draußen‘, womöglich gar jenseits der Verantwortung in einem ethischen Niemandsland sich aufzuhalten habe“ (Liebsch 1999, 66). Für den Ethikdiskurs wäre dieser Zugang von großer Bedeutung, wenn es gelingen würde zu zeigen, dass der Andere, der einen ethischen Anspruch an mich stellt, kein geborener Mensch sein muss, sondern auch ein Fetus und Embryo sein kann - ein junges Leben in seiner äußersten Verletzbarkeit, das den Anspruch erhebt: Du sollst mich nicht töten. Allerdings, so zeigt Liebsch, zieht auch dieser Zugang zur Ethik ein Problem nach sich. Durch die starke Betonung der Andersheit und Singularität des anderen Menschen gerät seine Zugehörigkeit zu spezifischen Lebenskontexten aus dem Blick, in denen Menschen Wertschätzung erfahren und anerkannt werden. Einerseits folgt aus der moralischen „Nicht-Indifferenz (wie Levinas sagen würde) angesichts des Anderen“ (87) nicht zwangsläufig, ob dieser Andere auch als Zugehöriger „Aufnahme findet oder ob ihm die Zugehörigkeit verweigert wird“ (ebd.). Andererseits aber ist es auch ethisch von Belang, dass Markus Dederich 268 VHN 3/ 2004 Menschen nicht „nur als schlechterdings ‚singuläre‘ Existenzen, die als solche paradoxerweise ebenso einmalig und einzigartig sind wie alle anderen“ (68), anerkannt werden wollen, sondern auch als konkret verschiedene Menschen. Wenn also die Ethik den anderen Menschen zu sehr im Sinne seiner Einzigkeit (so bei Levinas) oder im Sinne seines allgemeinen Menschseins (so bei Kant) betont, gerät die mittlere Ebene des Zusammenspiels von Identität und Differenz aus dem Blick. Aus diesen Überlegungen ist die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Ethik weder bei einer als primär gedachten Verantwortung noch bei einem auf die Menschenwürde rekurrierenden Schutz „geschädigten Lebens“ vor den Auswüchsen einer entfesselten Medizin, dem Normalisierungsdiskurs von „Bioethikern“, Lebenswissenschaftlern und der Gesellschaft insgesamt stehen bleiben darf. Vielmehr geht es auch um eine Ethik und Politik der Anerkennung des Differenten, welche die politische Behindertenbewegung und die Disability Studies bis in die Gegenwart hinein explizit verfolgen. Anders gesagt: Es geht um mehr als den Schutz am Anfang und Ende des Lebens. Vielmehr kommt die Problematik der Zugehörigkeit und mit ihr die Frage nach den ethischen und politischen Voraussetzungen für die Ausbildung individueller, gruppenspezifischer und kultureller Identitäten in den Blick. Diese ist, von der Sache her, nicht ein der Menschenwürde nachgeordnetes Problem, sondern es ist mit der Idee der Menschenwürde, versteht man sie auch als Gestaltungsauftrag, selbst gegeben. 5 Ausblick Mit Blick auf gesellschaftliche Prozesse und Dynamiken, die dem Bioethikdiskurs zu Grunde liegen, gibt es durchaus Anlässe zu Skepsis. Alle Erfahrung spricht für eine Ausweitung der Anwendungsgebiete biomedizinischer Technologien. Mit Hinweis auf einschlägige Arbeiten von Elisabeth Beck-Gernsheim verweist Antor (2003) darauf, dass Technologien im sozialen Raum keineswegs neutral sind, sondern eine auch normative Wirkung entfalten, und zwar indem sie Erwartungen, individuelle Verhaltensweisen, soziale Werthaltungen usw. in einem schleichenden Prozess verändern. Sie verändern menschliche Bedürfnisse und setzen die vorab skizzierte Wunschdynamik in Gang. Auch wissenschaftliche und ökonomische Entwicklungen und Realitäten entfalten diese normative Wirksamkeit. In der Folge wird immer wieder gefordert, die Ethik habe sich den veränderten Gegebenheiten anzupassen. In dieses Bild passen die regelmäßig vorgetragenen Forderungen wissenschaftlicher Standesorganisationen, den wissenschaftlichen und therapeutischen Fortschritt nicht durch eine zu prinzipienorientiert angelegte Ethik zu knebeln. Auch die jüngsten Verlautbarungen der Justizministerin Zypries, den Kompromiss zur Stammzellforschung neu zu überdenken (vgl. z.B. Spaemann 2003), oder der neue Kommentar zum Artikel 1 des Grundgesetzes von Matthias Herdegen weisen in diese Richtung. Ein persönliches Wort zum Schluss: Oft kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass Thesen und Positionen, wie ich sie vorab angedeutet habe, in einem teils offenen, teils schleichenden gesellschaftlichen Prozess überrollt werden, indem gegenläufige Realitäten geschaffen werden. Um so wichtiger scheint es mir, dass immer wieder und mit großem Nachdruck Positionen vertreten werden, die sich gegen den biopolitischen Strom stellen und sich der Tendenz verweigern, dass sich die Ethik vor den Verhältnissen zu rechtfertigen hat und nicht umgekehrt. Literatur Antor, G.; Bleidick, U. (2000): Behindertenpädagogik als angewandte Ethik. Stuttgart/ Berlin/ Köln Antor, G. (2003): Behinderung und Menschenwürde. In: Dederich, M. (Hrsg.): Bioethik und Behinderung. Bad Heilbrunn „Bioethik“, Menschenwürde und Behinderung 269 VHN 3/ 2004 Markus Dederich 270 VHN 3/ 2004 Bleidick, U. (2003): Der Personbegriff in der Behindertenpädagogik. In: Dederich, M. (Hrsg.): Bioethik und Behinderung. Bad Heilbrunn Bockenförde, E.-W. (2003): Die Würde des Menschen war unantastbar. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 204 vom 3. September Geyer, Chr. (2001): Biopolitik. Die Positionen. Frankfurt Haeberlin, U. (1996): Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft. Bern/ Stuttgart/ Wien Höfling, W. (2001): Wider die Verdinglichung. In: Geyer, Chr. (Hrsg.): Biopolitik. Die Positionen. Frankfurt Jantzen, W. (1998): „Weiß ich, was ein Mensch ist …? “. Bemerkungen zu Wert und Würde menschlichen Lebens. In: Jantzen, W.: Die Zeit ist aus den Fugen. Marburg Kant, I. (1965): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg Levinas, E. (1995): Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. München/ Wien Levinas, E. (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg/ München Liebsch, B. (1999): Moralische Spielräume. Menschheit und Andersheit, Zugehörigkeit und Identität. Göttingen Merkel, R. (2002): Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. München Nationaler Ethikrat (2003): Stellungnahme: Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft Januar. ULR: http: / www.ethikrat.org/ Stellungsnahmen/ pdf/ Stellungnahme_Genetische_Diagnostik.pdf Picker, E. (2002): Menschenwürde und Menschenleben. Das Auseinanderdriften zweier fundamentaler Werte als Ausdruck der wachsenden Relativierung des Menschen. Stuttgart Singer, P. (1994): Praktische Ethik. Stuttgart Spaemann, R. (1996): Personen. Versuche über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“. Stuttgart Spaemann, R. (2003): Freiheit der Forschung oder Schutz des Embryos? In: Die Zeit Nr. 48 vom 20. November Speck, O. (1996): Erziehung und Achtung vor dem Anderen. Zur moralischen Dimension der Erziehung. München/ Basel Wetz, F. J. (1998): Die Würde des Menschen ist antastbar. Stuttgart 1998 Prof. Dr. Markus Dederich Universität Dortmund Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung Emil-Figge-Strasse 50 D-44221 Dortmund E-Mail: markus.dederich@uni-dortmund.de