eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 73/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2004
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Geschlecht und Behinderung: Prozesse der Herstellung von Identität unter widersprüchlichen Lebensbedingungen -- Ergebnisse eines Forschungsprojektes

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2004
Bettina Bretländer
Ulrike Schildmann
Im Rahmen eines empirischen Forschungsprojektes (2001–2003) wurde untersucht, unter welchen Bedingungen körperbehinderte Mädchen und junge Frauen (15- bis 18-jährig) Identität entwickeln. Auf der Basis teilstandardisierter Fragebögen wurden über 100 körperbehinderte Schülerinnen und Auszubildende des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen schriftlich befragt und mit einer Kontrollgruppe nicht behinderter Mädchen verglichen. Die Fragen befassten sich mit folgenden identitätsbildenden Lebensbereichen: Leiblichkeit, Geschlechtsidentität, soziales Netzwerk, Familie, Schule/ Ausbildung, Wohnen/Finanzen, Freizeit, Gesellschafts-/Behindertenpolitik, Kohärenzgefühl. In dem vorliegenden Beitrag werden zentrale Ergebnisse der Untersuchung zu den Feldern Schule und Ausbildung, Familie und Freizeit sowie (Geschlechts-)Identität zur Diskussion gestellt. Die quantitative Untersuchung wurde durch eine qualitative empirische Studie ergänzt, deren Ergebnisse Bettina Bretländer im Rahmen einer Monographie darstellen wird.
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1 Problemstellung und theoretischer Ansatz „Geschlecht: behindert - besonderes Merkmal: Frau”, unter diesem Titel erschien vor nahezu 20 Jahren eine Aufsatzsammlung von behinderten Frauen (Ewinkel u. a. 1985), die provokativ auf den Zusammenhang von Behinderung und (weiblichem) Geschlecht und dabei insbesondere auf widersprüchliche Identitätserfahrungen aufmerksam machte. Auch in darauf folgenden Erfahrungsberichten und Befragungen (Barzen u. a. 1988; Arnade 1992; Barwig/ Busch 1993; Ehrig 1996) rückte der Zusammenhang von Geschlecht, Behinderung und Identität - und dabei vor allem die Erfahrung des Versteckens und Verleugnens sowie der Entwertung wesentlicher Identitätsaspekte - bei körperbe- 271 VHN, 73. Jg., S. 271 - 281 (2004) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Geschlecht und Behinderung: Prozesse der Herstellung von Identität unter widersprüchlichen Lebensbedingungen Bettina Bretländer, Ulrike Schildmann Universität Dortmund Zusammenfassung: Im Rahmen eines empirischen Forschungsprojektes (2001 - 2003) wurde untersucht, unter welchen Bedingungen körperbehinderte Mädchen und junge Frauen (15bis 18-jährig) Identität entwickeln. Auf der Basis teilstandardisierter Fragebögen wurden über 100 körperbehinderte Schülerinnen und Auszubildende des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen schriftlich befragt und mit einer Kontrollgruppe nicht behinderter Mädchen verglichen. Die Fragen befassten sich mit folgenden identitätsbildenden Lebensbereichen: Leiblichkeit, Geschlechtsidentität, soziales Netzwerk, Familie, Schule/ Ausbildung, Wohnen/ Finanzen, Freizeit, Gesellschafts-/ Behindertenpolitik, Kohärenzgefühl. In dem vorliegenden Beitrag werden zentrale Ergebnisse der Untersuchung zu den Feldern Schule und Ausbildung, Familie und Freizeit sowie (Geschlechts-)Identität zur Diskussion gestellt. Die quantitative Untersuchung wurde durch eine qualitative empirische Studie ergänzt, deren Ergebnisse Bettina Bretländer im Rahmen einer Monographie darstellen wird. Schlüsselbegriffe: (Weibliches) Geschlecht, (Körper-)Behinderung, Identität(-sentwicklung), Empirische Untersuchung Sex and Identity: The Process of Creating Identity under Inconsistent Living Conditions Summary: The present research project explores the conditions for the creation of identity of girls and young women (15 to 18 years) with a physical handicap. By means of partially standardised questionnaires, over 100 pupils and trainees of the German Bundesland Nordrhein-Westfalen have been interviewed in writing and their answers have been compared with the answers of a control group of non-handicapped girls. The questions were focused on the following identity relevant living domains: corporality, sex identity, social network, family, school/ training, housing conditions/ financial situation, leisure time, social/ disability politics, sense of coherence. The article discusses some essential outcomes concerning school and training, family and leisure time, (sex-)identity. The quantitative research has been completed with a qualitative study that will be presented in a separate monograph. Keywords: (Female) sex, (physical) handicap, (creation of) identity, empirical research Fachbeitrag hinderten Frauen in den Mittelpunkt des Interesses. Die in den 90er Jahren durchgeführten wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Themenkomplex (Dissertationen von Meier Rey 1994; Steengrafe 1995; Pohl 1999) erfassten die Identitätsentwicklung behinderter Frauen retrospektiv aus einer biographischen Sicht, wogegen der Prozess der Herstellung von Identität aus der Jugendlichen-Perspektive bis zum Ende der 90er Jahre unberücksichtigt blieb. An dieser Stelle setzte unsere wissenschaftliche Untersuchung 1 ein, die in den Jahren 2001 - 2003 durchgeführt wurde. Vor dem Hintergrund einer kritischen Literaturanalyse gingen wir von folgenden Annahmen aus: Behinderte Mädchen/ Frauen wachsen unter extrem widersprüchlichen Lebensbedingungen auf. Eugenik und Behindertenfeindlichkeit durchziehen ihren gesellschaftlichen Alltag ebenso wie positive Zuwendung und Akzeptanz. Unsere zentrale Forschungsfrage lautete: Wie entwickeln körperbehinderte Mädchen und junge Frauen unter widersprüchlichen Lebensbedingungen Identität? In der Identitätsforschung wird heute vielfach von einem Paradigmenwechsel der Identitätstheorien und Subjektvorstellungen gesprochen (z.B. Köpl 1995; Keupp u. a. 1999). Zentrierte Identitätsmodelle werden zugunsten dezentrierter Modelle mehr und mehr verabschiedet. Hintergrund dieser kritischen Neuorientierung ist die These, dass die traditionellen Identitätsmodelle den Anforderungen der Entwicklung von Identität unter den heutigen, spät-/ postmodernen Lebensbedingungen nicht mehr gerecht werden und keine hinreichenden Erklärungsinhalte bieten. Als identitätstheoretische Modelle wurden der vorliegenden Forschungsarbeit folgende neuere Theorieansätze zugrunde gelegt: • das Identitätsmodell von Heiner Keupp u. a., welches als Ergebnis eines langjährigen Forschungsprojektes die Konstruktion der Identität von Jugendlichen/ jungen Erwachsenen unter postmodernen Lebensbedingungen in den Mittelpunkt stellt und die Entwicklung von Identität als einen Herstellungsprozess versteht, als einen offenen und zugleich lebenslangen Prozess (Keupp u. a. 1999); • die postmodern-feministische Identitätsforschung, welche eine kritische Haltung gegenüber den traditionellen (männlich orientierten) Identitäts- und Subjektmodellen aufweist und in deren Diskurs in diesem Zusammenhang vielfach vom „Tod des Subjekts“ (Köpl 1995, 169) gesprochen wird. Der Abschied von der Vorstellung eines zentrierten und an männlichen Idealen orientierten Subjektes bedeute nicht nur den Abschied von Einheitlichkeit, Eindeutigkeit und Identitätszwang (Befreiung aus tradierten Rollen und gesellschaftlichen Festlegungen jeglicher Art), sondern insbesondere einen Gewinn an Freiheit, Pluralität und Wahlmöglichkeiten; er eröffnet damit einen unendlich vielfältigen Möglichkeitsraum - vor allem weiblicher - Identitätsentwicklung; vgl. dazu auch Helga Bilden, die von vielfältigen Teil-Selbsten und einem „dynamische(n) System vielfältiger Selbste als einem Spektrum möglicher Individualitätsformen” (Bilden 1998, 227) spricht; • der Theorieansatz zum Herstellungsprozess von Identität (insbesondere das Modell „Fünf Säulen der Identität“) von Hilarion Petzold (1992), der einen humanwissenschaftlichen, klinischpsychologischen und systemisch-sozialwissenschaftlichen Ansatz vertritt und seiner Theorie die anthropologische Annahme zugrunde legt, dass der Mensch ein „mit exzentrischem Bewusstsein und mit unbewussten Strebungen ausgestattetes Körper-Seele-Geist-Wesen [ist], verschränkt mit seinem sozialen und ökologischen Kontext und Kontinuum - und fähig, ein Selbst mit personaler Identität auszubilden“ (Petzold 1992, 495). Allen drei hier vorgestellten Theorieansätzen gemeinsam ist die Annahme eines lebenslangen und sich im ständigen Wandel befindlichen Prozesses der Herstellung von Identität - unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen sozio-kulturellen Lebensbedingungen. Die Identitätstheorie von Keupp u. a. lässt den Aspekt Behinderung (verstanden im umfassenden Sinne der Weltgesundheitsorganisation/ WHO 1980, 2001) unberücksichtigt. Auch die ge- Bettina Bretländer, Ulrike Schildmann 272 VHN 3/ 2004 schlechtsbewusste Identitätsentwicklung findet in dem Identitätsverständnis der Forschungsgruppe wenig Aufmerksamkeit. Helga Bilden dagegen versucht mit ihrem Subjekt-Modell insbesondere eine feministische Perspektive vorzustellen und betont mit dem Begriff der „Inneren Vielfalt“ vor allem die vielfältigen Optionsräume weiblicher Subjektentwicklung. Inwieweit „Behinderung“ (WHO 1980, 2001) als ein Teil dieser Vielfalt zu verstehen sein könnte, wird von ihr nicht explizit ausgeführt. Die Identitätstheorie von Petzold klammert weder den Aspekt Behinderung noch den der Geschlechtsidentität aus: In seinem Modell „Fünf Säulen der Identität“ wird sowohl die Möglichkeit einer körperlichen Schädigung als auch die Bedeutung des Geschlechts - leibbezogen und sozio-ökologisch - berücksichtigt. 2 Anlage der empirischen Untersuchung Zielgruppe des Forschungsvorhabens waren 15bis 18-jährige körperbehinderte, nicht lernbeeinträchtigte Mädchen und junge Frauen, also eine Personengruppe, die in den verschiedensten Lebensbereichen regelmäßig außergewöhnliche - auf die Identitätsbildung wirkende - Anforderungen bewältigen muss. Diese Zielgruppe wurde mit einer Kontrollgruppe nicht behinderter Mädchen und junger Frauen empirisch verglichen 2 . Alle Befragten besuchten Bildungseinrichtungen (allgemeine oder berufsbildende Schulen) des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen (NRW), über die sie rekrutiert wurden. Der Vergleichbarkeit wegen sollten die körperbehinderten Mädchen mindestens einen Hauptschulabschluss anstreben. Zur Rekrutierung der körperbehinderten Mädchen (mit offiziell festgestelltem „sonderpädagogischem Förderbedarf“) wurden 32 Schulen für Körperbehinderte, 232 integrativ arbeitende Regelschulen mit „Gemeinsamem Unterricht (GU)“, acht Ausbildungseinrichtungen für Behinderte (v.a. Berufsbildungswerke) und 26 integrativ arbeitende Berufskollegs kontaktiert; die schließlich ausgewerteten Fragebögen stammen von Schülerinnen aus 16 dieser Schulen für Körperbehinderte, neun dieser integrativen Regelschulen und vier dieser Ausbildungseinrichtungen für Behinderte. Zur Rekrutierung der nicht behinderten Kontrollgruppe dienten 33 Regelschulen (darunter 24 mit GU) sowie neun Berufskollegs (darunter sechs mit GU). Ausgehend von dem Besuch einer allgemeinen oder berufsbildenden Schule sollte 1. die Lebenssituation der Mädchen und jungen Frauen in Schule, Ausbildung, Familie und Freizeit auf einer möglichst breiten Basis explorativ erfasst werden; 2. detailliert und vertiefend die täglich zu vollbringende Identitätsarbeit dieser Personengruppe in Erfahrung gebracht werden. Die Daten wurden mit Hilfe eines teilstandardisierten schriftlichen Fragebogens erhoben. Die körperbehinderten Mädchen und jungen Frauen, die nicht in der Lage waren, die Fragebögen selbstständig auszufüllen, wurden von speziell geschulten Interview-Assistentinnen dabei unterstützt. Die Hilfe der Assistentinnen nahmen 13 % komplett und 4 % teilweise in Anspruch. In die „quantitative Befragung“ gingen insgesamt 167 Interviews mit körperbehinderten und 190 Interviews mit nicht behinderten (Vergleichs-)Probandinnen ein. Als auswertbar stellten sich auf Seiten der Körperbehinderten 106 Interviews, auf Seiten der nicht behinderten Probandinnen 160 Interviews heraus. Als nicht auswertbar wurden vor allem solche Fragebögen definiert, bei denen sich (häufig während des Bearbeitungsprozesses) herausstellte, dass die körperbehinderten Probandinnen z. T. erhebliche Lernbeeinträchtigungen zeigten und die nicht behinderten Vergleichspersonen z. T. chronische Krankheiten und/ oder leichtere Behinderungen aufwiesen. Die aussortierten Daten der lernbeeinträchtigten körperbehinderten Jugendlichen wurden einer gesonderten Auswertung zugeführt, deren Publikation in anderem Rahmen vorgesehen ist. Geschlecht und Behinderung 273 VHN 3/ 2004 Bei den Körperbehinderungen (Leyendecker/ Kallenbach 1989, 41ff) dominierten mit 70 % die „Schädigungen von Gehirn und Rückenmark“ wie spastische Bewegungsstörungen, Spina bifida, Ataxien u. a.; in 18 % der Fälle lag eine „Schädigung von Muskulatur und Knochengerüst“ wie das Fehlen von Gliedmaßen, Kleinwuchs, Hüftluxation u. a. vor; nur in 2 % der Fälle handelte es sich um eine „chronische Krankheit oder eine Fehlfunktion der inneren Organe“. Auffällig ist an dieser Stelle, dass 10 % der Befragten mit einer mehr oder weniger unklaren Diagnose leben, was sich gerade auf die Identitätsbildung erschwerend auswirken dürfte. Bei einem Großteil der befragten Mädchen und jungen Frauen (68 %) war die körperliche Schädigung innerhalb des ersten Lebensjahres diagnostiziert worden, bei 19 % in der Zeit zwischen dem zweiten und sechsten Lebensjahr und bei 13 % erst ab dem siebten Lebensjahr. Auf dieser Grundlage kann davon ausgegangen werden, dass bei dem überwiegenden Teil der Mädchen und jungen Frauen das Leben mit körperlichen Einschränkungen von frühester Kindheit an identitätsbildend gewesen sein dürfte. Daneben dürfte auch der Umgang des sozialen Nahumfeldes (Familie, Nachbarschaft, Kindergarten u. ä.) mit (Körper-)Behinderungen für die (leibliche) Identitätsbildung der Betroffenen bestimmend (gewesen) sein. Der „quantitativen Befragung“, auf die sich die folgende Darstellung der Ergebnisse konzentrieren wird, wurden „qualitative Interviews“ mit ca. 25 % der körperbehinderten Befragten angeschlossen. Diese Interviews eröffnen eine erweiterte - weniger quantifizierend zusammenfassende, als vielmehr qualifizierend detaillierende - Perspektive auf die Herstellung von Identität bei körperbehinderten Mädchen und jungen Frauen. Sie wurden bereits transkribiert und werden im Rahmen der Dissertation von Bettina Bretländer ausgewertet. Die Fragen zu dem Gesamtkomplex „Geschlecht, Behinderung, Identität“ der quantitativen Befragung, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll, befassten sich mit folgenden identitätsbildenden Lebensbereichen: Leiblichkeit, Geschlechtsidentität, soziales Netzwerk, Familie, Schule/ Ausbildung/ Beruf, Wohnen/ Finanzen, Freizeit, Gesellschafts-/ Behindertenpolitik, Kohärenzgefühl. Von wissenschaftlichem Interesse waren Fakten, persönliche Einschätzungen, Bewertungen und Gefühle sowie Ziele und Visionen der Befragten zu den jeweiligen Themenbereichen. Die im Folgenden dargestellte Untersuchungsauswertung, die sich aus Platzgründen auf die markantesten Ergebnisse zu konzentrieren hat 3 , wurde mittels des Statistik-Programmpakets „SPSS für Windows“ ausgewertet. Neben univariaten Analyseverfahren wurden die folgenden bivariaten Analyseverfahren durchgeführt: Korrelationen sowie Homogenitätsanalysen entsprechend dem Skalenniveau der Variablen. Die Antworten der offenen Fragen wurden weitestgehend auf der Basis des inhaltsanalytischen Verfahrens nach Früh (1991) kategorisiert und stehen nun in Form von Mehrfachnennungen für Häufigkeitsanalysen zur Verfügung. 3 Zentrale Ergebnisse der quantitativen Befragung Die Lebensbedingungen der befragten körperbehinderten 15bis 18-Jährigen unterscheiden sich von denen ihrer nicht behinderten Vergleichsgruppe grundsätzlich darin, dass ihr Alltag überwiegend - für 88 % trifft dies zu - vom Aufenthalt in Sonderschulen bzw. berufsbildenden Einrichtungen für Behinderte geprägt ist. Bei diesen handelt es sich überwiegend um Ganztagseinrichtungen, die entweder mit langen Anfahrtswegen oder sogar mit der Unterbringung im Internat/ Wohnheim der Sonderbildungseinrichtung verbunden sind. Ca. 20 % der von uns Befragten leben im Internat, d. h. sie bewegen sich in einer von ihren nicht behinderten Peers abgeschirmten Welt, in einem Betreuungssystem mit durchstrukturierten und fremdbestimmt geregelten Tagesabläufen, in Bettina Bretländer, Ulrike Schildmann 274 VHN 3/ 2004 deren Rahmen sie weitgehend auch ihre Freizeit gestalten. Aber auch für diejenigen, die in ihren Familien leben (knapp 80 %), fehlt für eine - mit nicht behinderten Mädchen/ jungen Frauen vergleichbare - Freizeitgestaltung oftmals nicht nur die Zeit; es mangelt vielmehr auch an barrierefreien Angeboten und mobilitätsunterstützender Assistenz. Auf die hier angeschnittenen Problemlagen soll im Folgenden detaillierter eingegangen werden. 3.1 Schule und Ausbildung Die von uns befragten körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen besuchen zu 85 % eine Schule, die restlichen 15 % befinden sich in einer Ausbildungseinrichtung (nicht behinderte Vergleichsgruppe: 87 % bzw. 13 %). Die Körperbehinderten besuchen überwiegend eine Schule für Körperbehinderte; nur jede 7. junge Frau hat einen Schulplatz im GU einer Regelschule (die nicht Behinderten wurden zu 30 % aus Klassen mit GU rekrutiert). Ähnlich wie die Schülerschaft des differenzierten Regelschulsystems bilden auch diejenigen, die eine Schule für Körperbehinderte besuchen, eine äußerst heterogene Gruppe. An den Schulen für Körperbehinderte des Bundeslandes NRW besteht die Schülerschaft nur zu 19 % aus durchschnittlich und überdurchschnittlich begabten (körperbehinderten) Schülern und Schülerinnen (zu 42 % aus lernbehinderten, zu 38 % aus schwerstmehrfachbehinderten; Wehr- Herbst 1997). Das bedeutet, dass die von uns untersuchte Personengruppe körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen nur ca. ein Fünftel der Schülerschaft der Körperbehindertenschulen ausmacht. Mit der marginalen Präsenz (z. T. einzelner) durchschnittlich bzw. überdurchschnittlich begabter körperbehinderter Schülerinnen 4 verbunden ist die Gefahr, im Klassenverband zu wenig Beachtung zu erhalten und nicht adäquat gefördert zu werden, zum Teil basierend auf Nichterkennung oder Fehldeutung vorhandener individueller Leistungspotenziale. Da die Schulen für Körperbehinderte im Land NRW im Allgemeinen als höchsten Schulabschluss auch nur den Hauptschulabschluss vorsehen (in Einzelfällen die Mittlere Reife) und nur eine einzige Schule (Sek. I + II/ Köln) den Erwerb der Hochschulreife ermöglicht, sind Schülerinnen der Körperbehindertenschulen vergleichbaren Schülerinnen im GU sowie ihrer nicht behinderten Vergleichsgruppe gegenüber deutlich benachteiligt. Diese strukturelle Problematik schlägt sich nieder in den angestrebten Schulabschlüssen unserer Befragungsgruppen, wie im Folgenden gezeigt wird: Besuchen die befragten Schülerinnen eine Schule für Körperbehinderte im Sek. I-Bereich, so wird von den allermeisten (83 %) ein Hauptschulabschluss und nur von 17 % die Mittlere Reife angestrebt. Dagegen zeigt sich bei den Schülerinnen der Kölner Schule (Sek. I + II) ein differenzierteres Bild: Nur 13 % streben einen Hauptschulabschluss an, dagegen 34 % die Mittlere Reife und sogar 53 % die Hochschulreife. Auch im GU ist eine heterogene Wahl der Schulabschlüsse körperbehinderter Schülerinnen zu verzeichnen (Hochschulreife 41 %). Die Vergleichszahlen zwischen körperbehinderten und nicht behinderten Mädchen insgesamt lauten: angestrebter Schulabschluss Hauptschule 47,5 % bzw. 33,3 %; Mittlere Reife 25,0 % bzw. 27,1 %, Hochschulreife 27,5 % bzw. 39,5 %. Vor dem genannten Hintergrund wird der Besuch des GU von den körperbehinderten Befragten mit 78 % als „ziemlich bis außerordentlich wichtig“ bewertet, obwohl sie dort oftmals als einzige Körperbehinderte in der Klasse (oder sogar Schule) nicht nur eine Sonderstellung einnehmen, sondern darüber hinaus auch von „negativen Erfahrungen mit Personen des Schulalltags“ (Mobbingerfahrungen) berichten, auf die unsererseits ausführlicher nach Auswertung der qualitativen Studie einzugehen sein wird. Für die Adoleszenz und das frühe Erwachsenenalter eine kennzeichnende Entwicklungsaufgabe ist der Übergang von der Schule in die Ausbildungsbzw. Berufswelt (Fend 2000). Unter den körperbehinderten Schülerinnen unse- Geschlecht und Behinderung 275 VHN 3/ 2004 rer Befragungsgruppe beabsichtigen 50 % (unter den nicht Behinderten 52 %), eine Ausbildung zu machen, 17 % (nicht Behinderte 21 %) streben ein Studium an; 24 % (nicht Behinderte 11 %) sind sich noch nicht im Klaren, und 11 % (nicht Behinderte 16 %) geben „Sonstiges“ an, worunter bei den Körperbehinderten auch die Werkstatt für Behinderte fällt. Die Ausbildungswünsche beider Vergleichsgruppen sind durch ein sehr enges und traditionell mädchentypisches Berufwahlspektrum gekennzeichnet. Während allerdings mit 30 % der größte Teil der nicht behinderten Schülerinnen Friseurin werden will, liegt der Schwerpunkt bei den körperbehinderten Schülerinnen auf einer Bürotätigkeit (57 %). Entsprechend können acht von 13 genannten Ausbildungsgängen der befragten Auszubildenden dem kaufmännischen Bereich zugeordnet werden. Diese Ergebnisse decken sich mit der Berufsberatungsstatistik und der kritischen Erörterung in der Fachliteratur (Schlüter 1999), wonach körperbehinderten Mädchen Bürotätigkeiten besonders empfohlen werden. Die körperbehinderten Schülerinnen sehen zu 64 % berufliche Schwierigkeiten auf sich zukommen, die gleichaltrigen nicht Behinderten (nur) zu 42 %. Die antizipierten Problemlagen sind jedoch strukturell unterschiedliche: Bei den körperbehinderten Jugendlichen überwiegen Aspekte sozialer Behinderung und Diskriminierung, z. B. (Mehrfachnennungen) überhaupt einen Ausbildungs-/ Arbeitsplatz (33,3 %) bzw. einen behindertengerechten Platz zu finden (26,7 %); sie antizipieren des Weiteren fehlende soziale Akzeptanz am Arbeitsplatz (26,7 %) oder haben die Sorge, den Arbeitsanforderungen nicht zu genügen (22,2 %). Während sich also die Körperbehinderten mit sozialen Zuschreibungen konfrontiert sehen, die ihr gesamtes So-Sein auf die körperliche Schädigung reduzieren, sorgt sich der Großteil der nicht behinderten Peers (59 % im Vergleich zu 33,3 %) darum, überhaupt einen Ausbildungs-/ Arbeitsplatz zu finden und antizipiert damit das arbeitsmarktpolitische Dilemma generell fehlender Arbeitsstellen. Der Übergang von der Schule in die Ausbildungsbzw. Berufsphase wird also von beiden Gruppen als schwierig betrachtet, wobei sich die körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen vor vergleichsweise zusätzliche und besondere Schwierigkeiten gestellt sehen. Hinzu kommt, dass sie aufgrund oben aufgezeigter Benachteiligungen wahrscheinlich mit schlechteren Schulabschlüssen als ihre nicht behinderte Vergleichsgruppe auf die Arbeitswelt zugehen. Das belegen die Daten unserer befragten Auszubildenden: Während unter den Körperbehinderten 73% über einen Hauptschulabschluss und 27 % über die Mittlere Reife verfügen, haben 86 % der Vergleichsgruppe einen Realschulabschluss und nur 14 % einen Hauptschulabschluss. 3.2 Familie und Freizeit Mit der Schul- und Berufsbildung ist für knapp 20 % der körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen eine Internats-/ Wohnheimunterbringung verbunden. Knapp zwei Drittel (63 %) der körperbehinderten Befragten (zum Vergleich: 84 % der nicht Behinderten) leben in der Familie mit beiden Elternteilen zusammen, 14 % mit einem Elternteil (zu 80 % mit der Mutter), der Rest mit einem Partner oder in einer Wohngemeinschaft. Die Ausgangssituation der familialen Verbindung bzw. Einbindung ist also für die Körperbehinderten und ihre nicht behinderte Vergleichsgruppe sehr unterschiedlich. Hinzu kommt, dass von den körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen - anders als von den nicht behinderten Peers - mindestens die Hälfte aller Befragten (52 %) schädigungsbedingt täglich personale Hilfe braucht, z. B. beim Verlassen des Bettes, beim Toilettengang oder zwecks außerhäuslicher Aktivitäten. Dem Großteil (83 %) der körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen mit Hilfebedarf steht die Mutter als täglich helfende Person zur Seite und nur seltener (38 %) der Vater (Mehrfachnennungen), worin sich die traditionelle reproduktionsbezogene Arbeitsteilung in der Familie wider- Bettina Bretländer, Ulrike Schildmann 276 VHN 3/ 2004 spiegelt: Die Väter gehen zu 75 % überwiegend einer Vollzeit-Berufstätigkeit nach, die Mütter zu 42 %. Die Mütter leisten nach Auskunft der Töchter in 47 % aller Fälle die gesamte Hausarbeit (Väter 6 %) und sind damit eindeutig für den alltäglichen Versorgungsbzw. Pflegeanteil zuständig. Im Vergleich zu 62 % der nicht behinderten Gleichaltrigen geben 73 % der körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen an, innerhalb der Familie überhaupt die meiste Zeit gemeinsam mit der Mutter zu verbringen; dies, obwohl mit 42 % ihre Mütter gegenüber den Müttern der nicht behinderten Peers (26 %) erheblich häufiger einer vollen Berufstätigkeit nachgehen. Damit deutet sich bei erstgenannten Müttern eine schwerwiegende Form von Mehrfach-Arbeitsbelastung an. Sind die Mütter (oder auch Väter) zudem alleinerziehend, sinkt auch die allgemeine Zufriedenheit der körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen mit der Familiensituation drastisch, was unsere Gruppenvergleichstests zeigen. Schulische und familiäre Lebensbedingungen wirken sich auch auf die Gestaltung der Freizeit aus: Ein signifikanter Unterschied zwischen unseren behinderten und nicht behinderten Befragten liegt auf der ökonomischen Ebene vor allem darin, dass die körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen im Durchschnitt über 58 Euro monatlich frei verfügen können, während ihren nicht behinderten Peers durchschnittlich über 109 Euro frei zur Verfügung stehen. Mindestens so wichtig aber wie die ökonomische Flexibilität ist ein barrierefreier Zugang zu den Angeboten und Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, welcher für körperbehinderte Mädchen/ junge Frauen vergleichsweise stark eingeschränkt ist: Zwar werden die allermeisten körperbehinderten Befragten (80%) nach eigener Einschätzung von ihren Eltern in ihrer Selbstständigkeit „ziemlich bis außerordentlich stark“ gefördert (die Vergleichsgruppe äußert sich hier mit 51% zurückhaltender), die Hälfte (50%) aller befragten körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen fühlt sich jedoch in der „Teilnahme an Freizeitaktivitäten eingeschränkt“ (nicht behinderte Vergleichsgruppe 22 %, v. a. aus Gründen geringer zeitlicher Kapazitäten). Das faktische Freizeitverhalten der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich daher gravierend: Während den nicht behinderten Gleichaltrigen mannigfaltige Aktivitätsräume zur Verfügung stehen, die von ihnen freiheitlich und eigenständig - d. h. auch ohne mütterliche Kontrolle - aufgesucht werden können, gestaltet sich die Freizeit körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen in einer stark durch strukturelle Barrieren eingeschränkten sowie durch mütterliche (bzw. institutionelle) Abhängigkeit gekennzeichneten Weise. Die für die Entwicklung einer eigenen Identität notwendigen Aktionsräume und Sozialkontakte bleiben weitgehend in einem engen, behinderungsbezogenen Rahmen und sind von daher nur eingeschränkt geeignet, wirklich selbstständigkeitsfördernd zu wirken. Eingeschränkte Wahl und Gestaltung von Freiräumen führen aber nicht nur zu einer Verengung von Entfaltungsspielräumen (Bilden 1998; Petzold 1992), sondern erschweren darüber hinaus die Ablösung vom Elternhaus. Der Besuch eines Berufsbildungswerkes, der für die Betroffenen nicht nur mit institutionell eng vorgegebenen Strukturen, sondern auch mit Gettoisierung und Exklusion verknüpft ist, stellt für viele die einzige Möglichkeit der familiären Ablösung dar und avanciert so zu einer scheinbar autonomiesichernden Alternative, wie unsere Ergebnisse deutlich machen. 3.3 (Geschlechts-)Identitätsarbeit „Geschlecht: behindert - besonderes Merkmal: Frau“? Unsere Untersuchungsergebnisse zeigen, dass sich die körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen nicht grundlegend von ihrer nicht behinderten Vergleichsgruppe unterscheiden: So haben beispielsweise 67 % der Körperbehinderten (zum Vergleich: 65 % der nicht Behinderten) das „ziemlich bis außerordentlich starke“ Gefühl, eine „junge Frau“ zu sein. Auch 65 % der Mütter geben ihren körperbehinder- Geschlecht und Behinderung 277 VHN 3/ 2004 ten Töchtern das Gefühl, eine „junge Frau“ zu sein, allerdings nur 41 % der Väter, womit die Tendenz einer geschlechtsneutralisierenden Erziehungshaltung auf männlicher Seite angedeutet sein könnte. 40 % der körperbehinderten Befragten äußern das subjektive Identitätsgefühl, „eine Körperbehinderte“ zu sein; von weiteren 34 % wiederum wird dieses Gefühl eher negiert. Die verbleibenden 26 % haben ein „mittelmäßig starkes Gefühl, eine Körperbehinderte zu sein“. Und immerhin 55 % bzw. 62 % werden nach ihrer eigenen Einschätzung von ihren Müttern bzw. ihren Vätern „kaum bis gar nicht“ als Körperbehinderte angesehen. Unsere Korrelationsanalysen zeigen, dass die jeweilige Stärke des Gefühls, „eine Körperbehinderte“ zu sein, keinen Einfluss hat auf das subjektive Gefühl, eine „junge Frau“ zu sein. Zwei Drittel (67 %) der körperbehinderten 15bis 18-Jährigen schätzen ihre körperliche Schädigung als „ziemlich bis außerordentlich sichtbar“ ein, fast ein Fünftel (18 %) als „mittelmäßig sichtbar“, 13 % als „kaum sichtbar“ und 2 % als „gar nicht sichtbar“. Demnach weist eine Großzahl der Befragten - nach eigener Einschätzung - eine mehr oder weniger sichtbare körperliche Schädigung auf und bewegt sich, so nehmen wir an, mit einem klaren Bewusstsein über die Sichtbarkeit ihrer Schädigung in der sozialen Welt. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass die Zufriedenheit mit dem eigenen Körper von gut einem Drittel (34 %) als positiv und von knapp der Hälfte (48 %) als mittelmäßig bewertet wird; der eigene Körper wird von zwei Dritteln (65 %) eindeutig nicht abgelehnt, und die bisherigen Körpererfahrungen können als vielfältig mit einer positiven Tendenz charakterisiert werden. Alle Bewertungen sind unabhängig davon, welcher der drei Schädigungskategorien die vorliegende Schädigung zuzuordnen ist und auch davon, als wie sichtbar die körperliche Schädigung subjektiv eingeschätzt wird. Die Vergleichsgruppe nicht behinderter Mädchen/ junger Frauen zeigt hinsichtlich des Körper-Erlebens kein signifikant unterschiedliches Antwortverhalten - mit Ausnahme der bislang erlebten Körpererfahrungen; diese werden von den nicht behinderten Mädchen/ jungen Frauen insgesamt positiver bewertet. Damit zeigt sich: Das Vorliegen einer körperlichen Schädigung und deren Sichtbarkeit führen nicht generell zu negativem Körper-Erleben. Unsere Untersuchungsergebnisse weisen vielmehr darauf hin, dass das subjektive Erleben des Körpers und der Schädigung durch komplexe (normorientierte) Identifikations- und Bewertungsprozesse beeinträchtigt wird, worauf nun vertiefend eingegangen werden soll. Durchweg negativer bewertet wird das Körper-Erleben - das zeigen unsere Gruppenvergleichstests und Korrelationsanalysen - von den körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen, die „oft bis immer“ (40 %) an ihre körperliche Schädigung denken (20 % denken „gelegentlich“ und weitere 40 % „selten bis nie“ an ihre Schädigung). Auch die gefühlsmäßige Bewertung der körperlichen Schädigung fällt bei denjenigen, die sich über ihre Schädigung Gedanken machen, auffällig negativ aus: Das am häufigsten genannte Gefühl ist Traurigkeit, danach folgen Gefühle der Wut sowie negative Selbstwertgefühle bzw. Selbstzweifel, z. B.: • „Ich möchte mich am liebsten verstecken“; • „Ich wünschte, ich wäre jemand anders“; • „Ich fühle mich oft wie niemand“. Darüber hinaus werden folgende negativen Affektlagen beschrieben: Verzweiflung, Frustration, Hilflosigkeit; Angst, Resignation. Wünsche und Phantasien, keine Schädigung zu haben, werden wie folgt zum Ausdruck gebracht: • „Ich will meine Behinderung einfach weghaben. Manchmal träume ich, dass ich beim Einschlafen noch zittere und wenn ich aufwache, ist alles weg“; oder: • „dass ich manchmal nur laufen will, auch wenn es nur für einen Tag ist“. Es wird deutlich, dass vor allem solche Mädchen/ jungen Frauen negative Gefühle und Selbstentwertungen entwickeln, die mehr oder Bettina Bretländer, Ulrike Schildmann 278 VHN 3/ 2004 weniger immer an ihre körperliche Schädigung - als eine wesentliche leibbezogene Realität - denken. Aber nicht der geschädigte Körper als solcher, also das leibliche So-Sein, löst die aufgezeigten Unzufriedenheiten mit der leiblichen Identität aus; Missgefühle verursachend sind vielmehr vermeintlich identitätssichernde Prozesse der Auseinandersetzung mit Normalität, Leistung, Schönheit, Perfektion. Gerade die Untersuchung von Idealbildentwürfen der Befragten untermauert diesen Eindruck. Die Vergleichsstudie zeigt, dass sich körperbehinderte Mädchen/ junge Frauen häufiger (66 %) darüber Gedanken machen, wie sie gerne sein möchten (Idealbilder), als ihre nicht behinderte Gleichaltrigengruppe (54 %). Ihre Idealbildwünsche lassen sich inhaltlich zwei Dimensionen zuordnen: a) einer körperlichen Dimension: Schädigung und Aussehen und b) einer Charakterdimension: Wesensmerkmale und personale Kompetenzen. Zu a): Die meisten körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen entwickeln die Idealbildvorstellung, körperlich unversehrt zu sein bzw. über bestimmte Körperfunktionen zu verfügen, z. B. „laufen können“, „gesund sein“ sowie im sozialen Sinne nicht behindert zu sein wie „nicht Behinderte sein“; „normal sein“. Damit zeigt sich eine starke Orientierung an typischen Normalitätsvorstellungen der Leistungsgesellschaft, nämlich gesund und körperlich funktionsfähig zu sein. Bezogen auf ihr Aussehen wünschen sich die körperbehinderten Befragten vor allem, „hübscher“ und „schlanker“ zu sein. In diesem Wunsch werden sie allerdings von ihrer nicht behinderten Vergleichsgruppe mit 57 % (gegenüber 31 %) noch übertroffen. Beide Gruppen sind also gekennzeichnet durch eine starke Orientierung an marktgängigen Schönheitsbildern. Von besonderer Aussagekraft sind die unterschiedlichen personalen Vorbilder, an denen sich nicht behinderte und körperbehinderte Mädchen/ junge Frauen orientieren: Während die meisten nicht behinderten Befragten am liebsten so wären wie ihre beste Freundin, dienen den körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen vor allem Pop- und Filmpersönlichkeiten als Modelle, also Personen, die medial vermittelte Schönheitsnormen verkörpern, denen die Bewunderinnen - unter Umständen schädigungsbedingt - nie gerecht werden können. Damit begeben sich letztere in eine möglicherweise fatale und sisyphusartige Situation; denn sie erleben einen (andauernden) Zustand unüberbrückbarer Diskrepanz zwischen Ideal- und Realbild, der unweigerlich mit Insuffizienzgefühlen einhergeht. Zu b): Die Idealbildentwürfe der körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen spiegeln eine traditionell weibliche, geschlechtsrollenstereotype Orientierung wider, nämlich „lieb“, „nett“ und „hilfsbereit“ zu sein. Eine Extremaussage lautet in diesem Kontext: „Ich möchte so sein, wie die Menschen mich gerne sehen möchten.“ Interessanterweise findet sich diese Haltung bei der nicht behinderten Vergleichsgruppe in noch größerem Umfang. Daneben aber entwickeln körperbehinderte Mädchen/ junge Frauen (und ebenso ihre Vergleichsgruppe) auch modernere, autonomieorientierte weibliche Selbstbilder, nämlich selbstständig sein, z. B. „auf eigenen Füßen zu stehen“ sowie „selbstbewusster und sicherer in meinem Auftreten sein“ und „sich nichts gefallen lassen und sich wehren können“. Eine Identitätsfalle besteht für alle Mädchen - und für körperbehinderte in verschärftem Maße - darin, den Verlockungen der Normalität durch entsprechende Anpassungsleistungen zu erliegen. Der Preis, den insbesondere die körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen für ihre Anstrengungen bezahlen, könnte hoch sein und in dem Gefühl des Scheiterns - gepaart mit chronischen Insuffizienzgefühlen und massiven Selbstentwertungen - gipfeln. „So normal wie möglich zu sein“ ist also keine geeignete Grundlage für eine sich an eigenen Potenzialen und Kompetenzen orientierende Identitätsentwicklung. Geschlecht und Behinderung 279 VHN 3/ 2004 4 Schluss Körperbehinderte Mädchen und junge Frauen sind mit widersprüchlichen Lebensbedingungen konfrontiert. Gemessen an den Lebensbedingungen ihrer nicht behinderten Vergleichsgruppe wird dies auf allen zentralen Gebieten ihrer Sozialisation deutlich: Schulbildung und Berufsausbildung der körperbehinderten 15bis 18-Jährigen sind im Land NRW weitgehend (noch) durch institutionelle Separation von nicht behinderten Peers gekennzeichnet. Damit geht eine strukturell bedingte Orientierung auf durchschnittlich niedrigere Schulabschlüsse und ein engeres Ausbildungsspektrum einher. In ihren Familien sind die körperbehinderten Jugendlichen enger an ihre Mütter gebunden als die nicht behinderte Vergleichsgruppe: • wegen ihres schädigungsbedingten Hilfebedarfs, • wegen der praktizierten Arbeitsteilung (Hausarbeit/ Versorgung) zwischen Müttern und Vätern trotz eines hohen Berufstätigenanteils der Mütter und schließlich • wegen einer Struktur der Freizeitgestaltung, die - im Zuge vergleichsweise häufiger indoor-Aktivitäten und eingeschränkter Gleichaltrigenkontakte - die Mütter zu sehr wichtigen Kommunikationspartnerinnen macht. Für die Herstellung von Identität - und in diesem Rahmen für die Ablösung von der Herkunftsfamilie im Jugendalter - sind die genannten Lebensbedingungen nicht ideal und im Vergleich zu den Lebensbedingungen der nicht behinderten Peers als erheblich ungünstiger zu bezeichnen. Dennoch ist festzustellen, dass sich beide Vergleichsgruppen mit einer typischen Entwicklungsaufgabe des Jugendalters auseinandersetzen müssen: mit der Herstellung einer Balance zwischen gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen und subjektiv stimmigen Lebensentwürfen. In diesem Prozess stehen die körperbehinderten Mädchen und jungen Frauen eindeutig vor größeren Hürden und Herausforderungen. Deshalb sollte gerade ihnen auf allen von uns untersuchten Ebenen mehr bildungs- und sozialpolitische Aufmerksamkeit zuteil werden. Anmerkungen 1 Titel: Geschlecht und Behinderung: Prozesse der Herstellung von Identität unter widersprüchlichen Lebensbedingungen. Leitung: Prof. Dr. Ulrike Schildmann; Wiss. Mitarbeiterinnen: Dipl.- Päd./ Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Bettina Bretländer, Dipl.-Soz.-Wiss. Ingrid Tüshaus; Förderung durch das Wissenschaftsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen von Mai 2001 bis April 2003, vgl. auch Literaturliste. 2 Die Kontrolluntersuchung fand außerhalb der Förderung durch das Land NRW statt, wurde aus internen Forschungsmitteln der Universität Dortmund finanziert und von Dipl.- Soz.-Wiss. Ingrid Tüshaus durchgeführt und ausgewertet. 3 Forschungsmethodische Details sowie weitere Ergebnisse können angefordert werden über ulrike.schildmann@uni-dortmund.de 4 Der Mädchenanteil in Schulen für Körperbehinderte wurde im Schuljahr 1996/ 97 bundesweit mit 39,7% erhoben (Deutscher Bundestag 1997, Quelle: Statistisches Bundesamt). Literatur Arnade, Sigrid (1992): Weder Küsse noch Karriere. Erfahrungen behinderter Frauen. Frankfurt/ Main Barwig, Gerlinde; Busch, Christiane (Hrsg.) (1993): „Unbeschreiblich weiblich! ? ” Frauen unterwegs zu einem selbstbewussten Leben mit Behinderung. 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Bettina Bretländer Prof. Dr. Ulrike Schildmann Universität Dortmund Frauenforschung in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung Fakultät Rehabilitationswissenschaften Emil-Figge-Straße 50 D-44221 Dortmund E-Mail: bettina.bretlaender@uni-dortmund.de E-Mail: ulrike.schildmann@uni-dortmund.de Geschlecht und Behinderung 281 VHN 3/ 2004