eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 73/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2004
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Unterrichtsabsentismus -- Ein pädagogisches Thema im Schnittfeld von Pädagogik, Sonderpädagogik und Sozialpädagogik

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2004
Gisela Schulze
Manfred Wittrock
Im Dezember 1998 wurde am Institut für Sonder- und Heilpädagogik der Universität Rostock ein Forschungsprojekt zum Thema , Schulaversive Verhaltensweisen“ bei Kindern und Jugendlichen (Formen, Häufigkeiten, mitbedingende Faktoren) mit Unterstützung des Landes Mecklenburg- Vorpommern eingerichtet. Die zentrale Zielstellung sollte dabei auf der (quantitativen) Erfassung und (qualitativen) Erklärung des Schulabsentismus bei Schülerinnen und Schülern liegen. Nach Abschluss der Hauptuntersuchungen im Sommer 2001 wurden noch weitere qualitative Studien und zahlreiche Expertengespräche durchgeführt. Parallel wurden bereits ab 2000 erste praktische Konsequenzen gezogen und in pädagogischen Projekten, z. B. kooperativen Projekten von Schule und Jugendhilfe, erprobt. Sowohl die zentralen Ergebnisse der Studie als auch die theoretischen Überlegungen zum Prozess der Herausbildung unterrichtsmeidender Verhaltensmuster und die praktischen Schlussfolgerungen für die pädagogische Arbeit, insbesondere im Bereich der frühen Intervention, werden in diesem Beitrag vorgestellt.
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Das Forschungsprojekt Im Rahmen des Forschungsprojektes wurde die erste empirisch repräsentative Studie zum Phänomen der Unterrichtsmeidung im Spektrum von Schulbzw. Unterrichtsabsentismus (physische Abwesenheit von Schülerinnen und Schülern aus dem Wirkungsraum der Schule bzw. des Unterrichts) und Unterrichtsverweigerung (psychische Abwesenheit des Schülers sowie bedingte/ keine Partizipation am Unterrichtsgeschehen) in einem deutschen Bundesland in Kooperation von administrativer Ebene (Ministerium) und Wissenschaft (Universität Rostock in Kooperation mit der Universität Oldenburg, ab 2001 auch mit der Universität Liverpool) durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Studie machten deutlich, dass die häufig in den Medien genannten Zahlen von bis zu 250.000 manifesten Schul- 282 VHN, 73. Jg., S. 282 - 290 (2004) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Unterrichtsabsentismus - Ein pädagogisches Thema im Schnittfeld von Pädagogik, Sonderpädagogik und Sozialpädagogik Gisela Schulze Manfred Wittrock Universität Bremen Universität Oldenburg Zusammenfassung: Im Dezember 1998 wurde am Institut für Sonder- und Heilpädagogik der Universität Rostock ein Forschungsprojekt zum Thema , „,Schulaversive Verhaltensweisen‘ bei Kindern und Jugendlichen“ (Formen, Häufigkeiten, mitbedingende Faktoren) mit Unterstützung des Landes Mecklenburg-Vorpommern eingerichtet. Die zentrale Zielstellung sollte dabei auf der (quantitativen) Erfassung und (qualitativen) Erklärung des „Schulabsentismus“ bei Schülerinnen und Schülern liegen. Nach Abschluss der Hauptuntersuchungen im Sommer 2001 wurden noch weitere qualitative Studien und zahlreiche Expertengespräche durchgeführt. Parallel wurden bereits ab 2000 erste praktische Konsequenzen gezogen und in pädagogischen Projekten, z. B. kooperativen Projekten von Schule und Jugendhilfe, erprobt. - Sowohl die zentralen Ergebnisse der Studie als auch die theoretischen Überlegungen zum Prozess der Herausbildung „unterrichtsmeidender Verhaltensmuster“ und die praktischen Schlussfolgerungen für die pädagogische Arbeit, insbesondere im Bereich der „frühen Intervention“, werden in diesem Beitrag vorgestellt. Schlüsselbegriffe: Schulaversives Verhalten, Schulabsentismus, unterrichtsmeidende Verhaltensmuster, frühe Intervention School Absenteeism - A Priority Topic in School Education, Special Education and Social Pedagogics Summary: In December 1998 a research project dealing with the topic of “truancy” and “school-aversive behaviour” patterns of children and juveniles was implemented at the Department of Special Education of the University of Rostock. This research project was funded by the province of Mecklenburg-Vorpommern. Its focus of attention is the empirical research of the extent and the quality of “school absenteeism”. From 1999 till 2002 several quantitative and qualitative explorations have been effected. The first results were tested by smaller quantitative studies and reviewed in group discussions with experts. Subsequently a number of “educational programs” have been implemented. This article starts with an overview of the most important results of the project and presents some consequences of these outcomes for the theoretical discussion and the educational practice. Keywords: Truancy, school-aversive behaviour, school absenteeism, early intervention programs Fachbeitrag schwänzern einer empirischen Überprüfung nicht standhalten, da sich in unserer für das Land Mecklenburg-Vorpommern repräsentativen Studie nur eine Gruppe von ca. 1 % manifest schulabsenter Schüler ausmachen ließ. Wobei es zu bedenken gilt, dass Mecklenburg- Vorpommern ein Bundesland mit großen sozioökonomischen und soziokulturellen Problemen ist. Andererseits wurde in der Studie aber auch erkennbar, dass in den bisherigen Veröffentlichungen (vgl. Thimm 2000) die Darstellung und die pädagogischen Implikationen des Phänomens des partiellen Unterrichtsabsentismus und des Prozesses der Herausbildung unterrichtsmeidender Verhaltensmuster zu wenig Berücksichtigung fanden. Aufgaben und Zielstellungen des Forschungsprojektes Beeinträchtigte Kommunikations- und Interaktionsprozesse zwischen Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern sind im heutigen Schulalltag hoch aktuell und stehen für eine Vielzahl von Verhaltensweisen und -mustern, die in allen Schulformen anzutreffen sind. In der sozialwissenschaftlich orientierten Fachliteratur (z. B. Thimm 2000; Nissen 1977) werden für Schüler, die sich von der Schule abwenden, gegenwärtig meist negativ konnotierte Termini, u.a. Schulschwänzer und Schulverweigerer, verwendet. Deskription sowie Präskription werden miteinander vermengt und führen zu Verwechslungen. Stigmatisierungsbzw. Etikettierungsprozesse, die zu einer Verstärkung des Problems und zum endgültigen Herausgleiten aus dem schulischen Bereich führen können, sind häufig die Folge. Aus Schulbzw. Unterrichtsablehnung entwickeln sich aversive Verhaltensmuster, die nicht selten zu partiellem Unterrichtsabsentismus führen. In einzelnen, seltenen Fällen entwickelt sich daraus ein Teufelskreis von Schulversagen, Unterrichtsmeidung und Verhaltensauffälligkeiten, der wiederum zu manifestem, oft über Jahre andauernden Schulabsentismus führen kann. In der pädagogischen Praxis hat sich in den letzten Jahren für diese verschiedenen Phänomene im Spektrum von partiellem Unterrichtsabsentismus bis hin zum dauerhaften Schulabsentismus zunehmend der Begriff der Unterrichtsmeidung durchgesetzt. Der Unterrichtsmeidung werden, ausgehend vom jeweiligen Betrachter, unterschiedliche Parameter zugeschrieben. Es ist kein konstantes Verhalten, sondern beinhaltet in seiner multifaktoriellen Struktur eine subjektiv geprägte Entwicklungstendenz, die bei entsprechend frühem Erkennen und nachfolgender pädagogischer Intervention durchaus durchbrochen, gemindert und abgebaut werden kann. Allerdings wird über hilfreiche pädagogische Maßnahmen meist erst nachgedacht, wenn der Schüler oder die Schülerin gar nicht mehr in der Schule und somit für Lehrer kaum noch erreichbar ist. Die häufig vorher erkennbaren Warnsignale werden als solche nicht wahrgenommen. Deutlich wird an diesen Beispielen die Gefahr, dass sich ohne entsprechend gewählte pädagogische Interventionen aus Auffälligkeiten im Verhalten manifeste Verhaltensstörungen entwickeln können. Es gibt eine Reihe von Kindern und Jugendlichen, deren beharrliche Abwesenheit bzw. deren langfristiger innerer Ausstieg in Bezug auf Schule gravierende Folgen nach sich zieht, u.a. kann eine dauerhafte soziale Ausgrenzung drohen. Das gezeigte Verhalten ist ein Signal, dass die soziale und emotionale Entwicklung des Kindes, seine Bildungsmöglichkeiten und die Chancen der gesellschaftlichen Partizipation gefährdet sind. Die Gruppe der Schüler, die physisch in der Schule anwesend sind, sich aber vom Unterrichtsgeschehen zurückziehen, immer weniger verbal kommunizieren und sich von Mitschülern sowie Erwachsenen isolieren bis hin zur inneren Emigration, scheint zuzunehmen, was es noch wissenschaftlich nachzuweisen gilt (vgl. Schulze/ Wittrock 2001, 41). Unterrichtsabsentismus 283 VHN 3/ 2004 Unterrichtsmeidende Verhaltensmuster bilden sich im Zusammenwirken von multifaktoriellen Bedingungsgeflechten in einem schrittweisen individuellen Entwicklungsprozess heraus. Bei der Auseinandersetzung mit der Unterrichtsmeidung wird deutlich, dass die Thematik einer differenzierten besonderen pädagogischen, sonderpädagogischen sowie sozialpädagogischen Auseinandersetzung auf der theoretischen Ebene sowie einer praxisorientierten, multiprofessionellen Interventionsentwicklung für pädagogische Einrichtungen bedarf. In einer zweijährigen Vorlaufphase zum Forschungsvorhaben wurde die Arbeitshypothese einer Mehrdimensionalität des komplexen Problemfeldes Schulaversives Verhalten entwickelt und in ersten kleineren Explorationsstudien geprüft. Es erfolgte eine Erörterung und Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Phänomenen und Aspekten des Forschungsgegenstandes der Schulaversion und der Unterrichtsmeidung auf differenzierten Ebenen. Die nachfolgend dargestellten Ebenen der fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung sind nicht hierarchisch zu verstehen, sondern ermöglichen eine strukturierte Darstellung der vielfältigen Teilaufgabenstellungen des Gesamtforschungsprojektes (Schulze/ Wittrock 2001). ■ Ebene der Bestandsaufnahme: Ausgangslage: Pädagogik bei Verhaltensstörungen und deren Relevanz hinsichtlich schulaversiver/ unterrichtsmeidender Verhaltensmuster; schulaversive/ unterrichtsmeidende Verhaltensmuster als Gegenstand der bisherigen Forschung (Literaturanalyse); Standortbestimmung unter Berücksichtigung von ausgewählten Bezugswissenschaften (vergleichende Betrachtung schulaversiver/ schulmeidender Verhaltensweisen aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven). ■ Deskriptive Ebene: Differentialdiagnostische Betrachtungsweise von unterrichtsmeidenden Verhaltensmustern; Kategorisierung. ■ Theoretisch-abstrakte Ebene: Die Feldtheorie - erste Ansätze zur Entwicklung eines Erklärungsansatzes für auffälliges Verhalten in Verbindung mit anderen theoretischen Ansätzen; Darstellung von Wirkfaktoren bei der Entwicklung von schulaversiven/ unterrichtsmeidenden Verhaltensmustern. ■ Empirische Ebene: Quantitative Erhebung der Problemlage an allgemeinbildenden Schulen in Mecklenburg-Vorpommern (2 % Stichprobe); qualitative Untersuchungen besonderer Problemfelder. ■ Handlungs- und institutionsbezogene Ebene: Präventive, interventive und rehabilitative Maßnahmen; Schülerinnen und Schüler mit schulaversiven/ unterrichtsmeidenden Verhaltensmustern im Spannungsfeld von am Bildungs- und Erziehungsprozess beteiligten Institutionen; Aufbau und Etablierung von Netzwerken. ■ Zielsetzungen: Praxis- und theoriegeleitete Begriffsklärung „Schulaversives Verhalten/ unterrichtsmeidende Verhaltensmuster“, theoretische Auseinandersetzung mit fundierten Erklärungsansätzen für die Herausbildung von schulaversiven/ unterrichtsmeidenden Verhaltensweisen; quantitative und qualitative Untersuchungen zur Erfassung schulaversiver/ unterrichtsmeidender Verhaltensweisen in Mecklenburg-Vorpommern; Entwicklung eines Erhebungsinstruments für die Schulen zur Erfassung von schulaversiven/ unterrichtsmeidenden Verhaltensweisen. Im Verlauf des Forschungsprojektes wurden folgende Methoden eingesetzt: Literaturanalysen, Expertengespräch (mit Schulleitern, Mitarbeitern in Projekten, Wissenschaftlern im Fach), Lehrerbefragungen (standardisiert), Befragung von Schulsozialarbeitern (halbstandardisiert), weitere Expertengespräche (z.B. mit Jugendamt). Gisela Schulze, Manfred Wittrock 284 VHN 3/ 2004 Die Datenerhebung (Studie I und Studie II) sowie zwei Stichtagsuntersuchungen zum unentschuldigten Fehlen und zum Ausmaß sowie zur Form des schulaversiven/ unterrichtsmeidenden Verhaltens der Schüler der Sekundarstufe I im Lande Mecklenburg-Vorpommern wurde in Kooperation mit dem Ministerium von der Forschungsgruppe in zwei festgelegten Wochen mittels einer Zufallsstichprobe durchgeführt. Der Abstand zwischen den beiden Erhebungen betrug sechs Wochen. Auf zwei anschließend durchgeführte Stichtagsuntersuchungen zum Vergleich von Schülern der Sekundarstufe I und Schülern an beruflichen Schulen wird in diesem Beitrag aus Platzgründen nicht weiter eingegangen. Zur Gewinnung eines repräsentativen Abbildes der Schülerschaft des Landes Mecklenburg-Vorpommern erfolgte eine Stichprobenziehung (von 2 %) unter Berücksichtigung der durch das Landesamt für Statistik erhobenen Verteilung der Schüler auf die Schulformen/ Klassenstufen und auf die Stadt-/ Landverteilung. Auf der Grundlage eines an der Universität Oldenburg eingesetzten Datenmaterials im Bereich der Schulabsentismusforschung entwickelte die Rostocker Forschungsgruppe einen Erhebungsbogen zur quantitativen Erfassung von schulaversiven/ unterrichtsmeidenden Verhaltensweisen. Die Angaben zu je einem Schüler ergaben einen Datensatz, welcher Informationen zu Geschlecht, Alter, Klassenstufe, Bildungsgang, Schulform, Deutsch-, Mathematik- und Sportnote und Angaben zu den fünf Kategorien (beobachtete Formen) des schulaversiven Verhaltens beinhaltete. Im Rahmen der Untersuchung wurden in der Studie I Individualdaten von N = 2169 Schülern und in der Studie II Daten von N = 2066 Schülern erfasst. Ausgewählte Ergebnisse der Untersuchung In aller Kürze möchten wir in der Folge einzelne exemplarisch ausgewählte Ergebnisse aus der Studie I vorstellen: ■ Fehlen insgesamt (mit und ohne Entschuldigung): Im Durchschnitt haben 16,7 % aller erfassten Schüler eine Stunde oder mehr gefehlt. ■ Geschlecht und Fehlen insgesamt: Von den als entschuldigt oder unentschuldigt fehlend erfassten Schülern waren 50,7 % Mädchen und 49,3 % Jungen. ■ Alter und Fehlen insgesamt: Es fehlten mit und ohne Entschuldigung 23,8 % der 17bis 18-jährigen und 22,2 % der 16-jährigen untersuchten Schüler. Ihnen folgten die 15-Jährigen mit 18,1 % und die 14-Jährigen mit 17,6 %. Die Quote der Gruppe der fehlenden jüngeren Schüler im Alter von 10 - 13 Jahren bewegt sich durchgängig um die 15 %-Marke. ■ Schulform und Fehlen insgesamt: 42,9 % der Hauptschüler haben gefehlt. Im Bereich zwischen 20 % und 25 % liegen mit 24,4 % sowohl die fehlenden Schüler der Allgemeinen Förderschule als auch mit 21,5 % die Schüler der verbundenen Haupt- und Realschule. Von den Schülern der Gesamtschule haben 18 %, von den Schülern der Realschule 14,9 % und von den Schülern des Gymnasiums 10,2 % gefehlt. ■ Unentschuldigtes Fehlen: 4 % der erfassten Schülerschaft haben eine Stunde oder mehr unentschuldigt gefehlt (bezogen auf eine Untersuchungswoche). ■ Geschlecht und unentschuldigtes Fehlen: Von den als unentschuldigt fehlend (eine Stunde oder mehr) erfassten Schülern waren 63,2 % Jungen und 38,8 % Mädchen. ■ Alter und unentschuldigtes Fehlen: 9,6 % der 16-jährigen sowie 9,5 % der 17bis 18-jährigen Schüler haben unentschuldigt gefehlt. Ihnen folgen die 15-jährigen Schüler mit 8,3 % und die 14-jährigen mit 5,4 %. Von den 12-jährigen Schülern sind Unterrichtsabsentismus 285 VHN 3/ 2004 2,6 % und von den 13-jährigen 2,4 % dem Unterricht ohne Entschuldigung fern geblieben. Die Fehlquote der 11-Jährigen ist mit 0,4 % sehr gering und wird nur noch von den 10-jährigen Schulkindern unterboten. Diese haben (im Erhebungszeitraum) nie ohne Erlaubnis gefehlt. ■ Schulform und unentschuldigtes Fehlen: 26,5 % der Hauptschüler haben mindestens eine Stunde unentschuldigt gefehlt. Mit deutlichem Abstand folgen mit 9,3 % die Schüler der Allgemeinen Förderschule. 7 % der Schüler der verbundenen Haupt- und Realschule sind dem Unterricht unentschuldigt fern geblieben. Von den Realschülern haben 2 %, von den Gesamtschülern 1,6 % und von den Schülern des Gymnasiums 0,4 % unentschuldigt gefehlt. ■ Klassenstufe und unentschuldigtes Fehlen: Bei der Auswertung des unentschuldigten Fehlens, bezogen auf die Klassenstufe, fällt auf, dass die Schüler der achten Klasse mit einem Anteil von 7,9 % am häufigsten unentschuldigt fehlten. Ihnen folgen mit 4,3 % die Schüler der siebten Klasse, mit 3,7 % die Schüler der neunten sowie mit 3,3 % die Schüler der sechsten Klasse. Am wenigsten fehlten mit einem Anteil von 1,8 % und 0,3 % die Zehnt- und Fünftklässler. ■ Ausgewählte Ergebnisse der Studien I und II im Vergleich: Die Ergebnisse der Studien I und II zeigen übereinstimmend, dass die Geschlechterverteilung in Verbindung mit den beobachtbaren Formen der schulaversiven/ unterrichtsmeidenden Verhaltensweisen durch einen höheren Jungenanteil gekennzeichnet ist. Schulaversives/ unterrichtsmeidendes Verhalten kann als Problem der höheren Klassenstufen (7. - 10. Klasse) angesehen werden. Anhand der Datenerhebung wurde ersichtlich, dass schulaversives/ unterrichtsmeidendes Verhalten am häufigsten in der Hauptschule festzustellen ist. Eindeutige Differenzen zwischen den Ergebnissen der Stichprobe I und II treten insbesondere in der Verbindung der einzelnen Kategorien des schulaversiven/ unterrichtsmeidenden Verhaltens mit der Schulform auf. Während in der Studie I die Schüler der Hauptschule für die Kategorie „Fehlen“ insgesamt die meisten Einträge erhielten und sich deutlich von den anderen Schulformen abhoben, liegen in Studie II die Schüler der Allgemeinen Förderschule auf dem höchsten Prozentrang. Obwohl die Schüler der Hauptschule sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten Stichprobe am häufigsten unentschuldigt gefehlt haben, ist in Studie II bei den Schülern der anderen Schulformen ein Prozentanstieg zu vermerken. Allein diese Verschiebungen sollten darauf hinweisen, wie sehr der Zeitpunkt der Untersuchung die Ergebnisse beeinflussen kann (Eine differenzierte Darstellung der Ergebnisse findet sich bei Schulze/ Wittrock 2001 und Schulze 2003) 1 . Auf ein Ergebnis soll an dieser Stelle aber noch im Speziellen hingewiesen werden: In allen qualitativen Teilstudien und allen Expertengesprächen wurde deutlich, dass die Herausbildung schulaversiver Verhaltensmuster einen längeren Prozess durchläuft, dass erste diskrete Formen unterrichtsmeidender Verhaltensweisen gut erkannt werden können, und dass man ihnen in der Schule durch frühe pädagogische Interventionen in der Mehrzahl erfolgreich begegnen kann. Formen von Unterrichtsabsentismus in Abgrenzung zum Schulabsentismus und angrenzenden Erscheinungsformen Das Meiden von Unterricht bzw. von Schule wird häufig mit dem Terminus der Schulaversion verbunden. Im Rahmen der begrifflichen Auseinandersetzung wurde deutlich, dass Schulaversion und Unterrichtsmeidung - ausgehend von der gestaltpsychologischen Ebene Gisela Schulze, Manfred Wittrock 286 VHN 3/ 2004 in Form von Sich-Abwenden und abneigenden Verhaltensweisen - als weitgehend synonym zu verwenden sind. Im Folgenden wird bei der Beschreibung der Formen der physischen und psychischen Abwesenheit von Schülern u.a. auf einen deskriptiv angelegten Überblick von unterrichtsmeidenden Verhaltensmustern aus dem oben kurz vorgestellten Forschungsprojekt zum schulaversiven Verhalten Bezug genommen, der auf der Basis der quantitativen und qualitativen Studien entwickelt wurde (Schulze/ Wittrock 2001). Ausgehend von den Ergebnissen der Bestandsaufnahme (sonderpädagogisches Fachwissen, Literaturanalyse zum Forschungsgegenstand) wurden Lehrerbefragungen und Befragungen von Schulsozialarbeitern durchgeführt und in zahlreichen Expertendiskussionen ausgewertet sowie überarbeitet. Die folgenden Aussagen und Beschreibungen von sich schrittweise verfestigenden unterrichtsmeidenden Verhaltensmustern stellen das Ergebnis dieses mehrjährigen intensiven Theorie- und Praxisaustausches dar. Es wird eine Kategorisierung der unterrichtsmeidenden Verhaltensmuster in zwei zentrale Teilbereiche vorgenommen, welche nach dem operationalisierbaren Kriterium des Aufenthaltsorts erfolgt: 1. Unterrichtsabsentismus (Der Schüler befindet sich in der Schule bzw. auf dem Schulgelände, ist jedoch [partiell] nicht im Unterricht anwesend) 2. Schulabsentismus (Der Schüler ist nicht [mehr] in der Schule anwesend). Unterrichtsmeidende Verhaltensmuster sollten zudem unter dem Blickwinkel der drei Spannungsfelder: aktiv - passiv, verdeckt - offen, lustbetont - Unlust betont betrachtet werden, da diese Aspekte für eine pädagogische Analyse zur Vorbereitung einer Intervention hilfreich sein können. Da das Thema des Schulabsentismus (speziell die Subkategorien „Schulschwänzen“ und „Schulphobie“) in den letzten Jahren wieder eine breitere Betrachtung in der Literatur gefunden hat (vgl. Ricking 2003), wird dieser Aspekt in unserem Beitrag nur kurz angeschnitten. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung des weniger beachteten Phänomens des Unterrichtsabsentismus, da dieser Aspekt nach den Ergebnissen unserer Untersuchungen in der schulischen Realität eine wesentliche Rolle spielt und bisher in der Fachliteratur eher vernachlässigt wurde. Erscheinungsform: Schulabsentismus In der englischsprachigen Literatur wird neben „truancy“ häufig auch der Begriff „school absenteeism“ verwendet, ein Begriff, der aufgrund seines rein beschreibenden Charakters zunehmend auch in der deutschen Erziehungswissenschaft Verwendung findet. Die Kategorie des Schulabsentismus umfasst Schüler, die sich während der Unterrichtszeit weder im Klassenraum noch in der Schule bzw. auf dem Schulgelände aufhalten und somit nicht am schulischen Leben partizipieren. Sie ist klar charakterisiert durch die physische Abwesenheit im Wirkungsbereich Schule, diese Schüler sind nicht, nicht mehr in diesem Lernort involviert. In der Forschung zum Schulabsentismus werden in Anlehnung an Preuss (1978), Mattejat (1981) und Bools et al. (1990) drei Subkategorien differenziert: das Schulschwänzen, das angstinduzierte Fernbleiben und das Zurückhalten (Neukäter/ Ricking 1997; Wittrock/ Schulze 2000; Ricking 2003). Immer deutlicher wird, dass eine vierte Subkategorie mit einer meist sehr hohen Druckkomponente durch die Eltern, z.B. zum Verschleiern bei Missbrauch und familialer Gewalt, festgestellt wird und in die Fachdiskussion gerückt werden sollte: das Fernhalten. Durch eine solche Subkategorie würde die Wahrnehmung der Pädagogen für solche Wirkungszusammenhänge geschärft. Unterrichtsabsentismus 287 VHN 3/ 2004 Das Phänomen Schulschwänzen kennzeichnet diejenigen Schulversäumnisse, die auf das Betreiben des Schülers zurückgehen und von denen die Erziehungsberechtigten häufig keine Kenntnisse haben. Schüler, die Schule schwänzen, gehen während der Unterrichtszeit häufig für sie attraktiveren Beschäftigungen nach, meist außerhalb der elterlichen Wohnung. Schulschwänzen steht dabei häufig in einem engen Zusammenhang mit schulischen Versagenserlebnissen, erlebten Misserfolgen und dem Nicht-versetzt-Werden. Eine der Hauptursachen für angstinduziertes Fernbleiben von der Schule ist in der Herausbildung von manifestierten Ängsten zu sehen. Dabei wird eine differentialdiagnostische Unterscheidung zwischen schulinduzierten Ängsten, z. B. Leistungsangst, und elterninduzierten Ängsten, z. B. Trennungsangst, vorgenommen (Nissen 1977; Ricking 2003). Die Absentismusform des systematischen und planvollen Zurückhaltens von Heranwachsenden, ausgehend von Eltern, aber auch zunehmend von Betrieben, ist im Ansteigen begriffen und wird immer häufiger von der Gesellschaft akzeptiert, so z. B. das von Eltern bewusst vorgenommene „Verlängern“ von Ferien (Schulze/ Wittrock 2001). Das Fernhalten als eine vierte Subkategorie des Schulabsentismus betrifft vorwiegend Schüler im Grundschulbereich. Um zu verhindern, dass sichtbare Folgen von meist familialer Gewalt in Form von Kindesmisshandlungen entdeckt werden, erfolgt nach dem tätlichen Übergriff, oft durch Erziehungsberechtigte bzw. familiennahe Personen, eine Schulbefreiung, wobei meist das ärztliche Attest fehlt (Schulze/ Wittrock 2001). Erscheinungsform: Unterrichtsabsentismus Bei der Kategorie des Unterrichtsabsentismus halten sich die Schüler während des Unterrichts zeitweise bzw. in einzelnen Stunden nicht im Klassenraum auf, befinden sich aber noch im schulischen Bereich („Schulgelände“) und partizipieren somit noch in begrenztem Umfang am Unterricht bzw. Schulleben. Dabei tritt einerseits die Form der schülerinduzierten partiellen Abwesenheit, z. B. das recht regelmäßige Zu-spät-Kommen (ohne organisatorische Gründe wie Busverspätungen) oder das Früheraus-dem-Unterricht-Gehen, z. B. zum Aufsuchen der Toiletten oder der inoffiziellen Raucherecke ohne Rückkehr in den Unterricht, auf. Andererseits gibt es die lehrerinduzierte partielle Abwesenheit, z. B. in Form der Kurzzeitsuspendierung aus einem Teil der Stunde („Hinauswurf“ aus der Klasse) bei laufendem Unterricht. Des Weiteren gibt es Schüler, die von vornherein während einzelner Stunden nicht im Unterricht, aber im schulischen Raum an einem anderen Ort, z. B. im Schülerclub, aufzufinden sind (Wittrock/ Schulze 2000). Sie zeigen Desinteresse an bestimmten Fächern bzw. werden aufgrund der mangelhaften didaktisch-methodischen Kompetenz der Lehrer sowie lebensweltfremder Bildungsinhalte nicht mehr erreicht. Für sie spielt aber Schule als sozialer Kontaktraum zur Kommunikation und Interaktion mit Gleichgesinnten noch eine Rolle, wobei sie als Bildungs- und Erziehungsinstitution anscheinend ihre Anziehungskraft verloren hat. Als eine weitere mögliche Form unterrichtsmeidender Verhaltensmuster sollte in Zukunft der Innere Rückzug diskutiert werden. Schrittweise können in einem Prozess aufgebaute Barrieren, z. B. Lernbarrieren und fehlende soziale Beziehungen, beim Zusammentreffen von ungünstigen Bedingungen von innerem Rückzug über Nichtbeteiligung, Ausbildung von schulaversiven Verhaltensweisen bis hin zur Isolation führen. Myschker definiert den Terminus Verhaltensstörung als ein „von den zeit- und kulturspezifischen Erwartungsnormen abweichendes maladaptives Verhalten, das organogen und/ oder milieureaktiv bedingt ist, wegen der Mehrdimensionalität, der Häufigkeit und des Schweregrades die Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie das Interaktionsgesche- Gisela Schulze, Manfred Wittrock 288 VHN 3/ 2004 hen in der Umwelt beeinträchtigt und ohne besondere pädagogisch-therapeutische Hilfe nicht oder nur unzureichend überwunden werden kann“ (Myschker 2002, 41). Ausgehend von dieser Definition kann im Rahmen einer Pädagogik bei Verhaltensstörungen das manifeste unterrichtsmeidende Verhalten als ein Symptom angesehen werden, welches möglicherweise auf die Herausbildung einer Verhaltensstörung hinweist. Die Herausbildung von unterrichtsmeidenden Verhaltensmustern ist ein Prozessgeschehen mit möglicher Aufrechterhaltung, Intensivierung, Generalisierung und Eskalation. Bei der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Facetten des Unterrichtsabsentismus wird deutlich, dass sie als erste Signale für einen drohenden Schulabsentismus zu sehen sind. Werden diese Zeichen nicht wahrgenommen und erkannt, wird ihnen keine Bedeutung beigemessen, so stehen die betroffenen Schülerinnen und Schüler in der Gefahr, sich über längere Zeiträume und über wachsende räumliche Distanzen schrittweise erst aus dem Unterricht(-sprozess) zu entfernen, bis sie physisch nicht mehr im Wirkungsraum Schule anwesend und involviert sind (vgl. Definition Schulabsentismus). Um Schulabsentismus wirksam vorbeugen zu können, müssen deshalb pädagogische Interventionen dann ansetzen, wenn sich die Schüler noch im schulischen Wirkungsraum aufhalten, wenn noch ein Interesse für den Ort Schule besteht und wenn dadurch die betroffenen Kinder und Jugendlichen für Lehrer im Feld der Schule noch erreichbar sind. In diesem Sinne kommt der Auseinandersetzung mit der Kategorie des Unterrichtsabsentismus bei der Entwicklung von Interventionsmaßnahmen bzw. der Prävention eine verstärkte Bedeutung zu. Anmerkung 1 Forschungsmethodische Details können auch eingeholt werden über manfred.wittrock@unioldenburg.de Literatur Bools, C.; Foster, J.; Brown, I.; Berg, I. (1990): The Identification of Psychiatric Disorders in Children who Fail to Attend School: a Cluster Analysis of a Non-clinical Population. In: Psychological Medicine 20, 171 - 181 Ehmann, C.; Rademacker, H. (2003): Schulversäumnisse und sozialer Ausschluss. Bielefeld Lück, H. (1996): Die Feldtheorie und Kurt Lewin. Weinheim Mattejat, F. (1981): Schulphobie. Klinik und Therapie. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 30, 293 - 298 Myschker, N. (2002): Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. 4. Aufl. Stuttgart Neukäter, H.; Ricking, H. (1997): Absentismus und Verhaltensstörungen. In: Goetze, H. (Hrsg.): Schulische Erziehungshilfe - grenzüberschreitend. Potsdam, 175 - 184 Neukäter, H.; Ricking, H. (2000): Schulabsentismus. In: Borchert, J. (Hrsg.): Handbuch der sonderpädagogischen Psychologie. Göttingen, 814 - 823 Nissen, G. (1977): Psychopathologie des Kindesalters. Darmstadt Preuss, E. (1978): Schulschwänzen und Schulverweigerung. In: Klauer, K.; Reinartz, A. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogik. Band 9: Sonderpädagogik in allgemeinen Schulen. Berlin, 164 - 172 Reid, K. (1985): Truancy and School Absenteeism. London Ricking, H. (2003): Schulabsentismus als Forschungsgegenstand. Oldenburg Ricking, H.; Schulze, G.; Wittrock, M. (2002): Die Gefährdung von Schülern mit Beeinträchtigungen im Lernen und Verhalten durch unterrichtsmeidende Verhaltensmuster. In: Schröder, U.; Wittrock, M. u. a. (Hrsg.): Lernbeeinträchtigung und Verhaltensstörung. Konvergenzen in Theorie und Praxis. Stuttgart, 172 - 189 Schulze, G. (2003): Unterrichtsmeidende Verhaltensmuster. Formen, Ursachen, Interventionen. Hamburg Schulze, G.; Wittrock, M. (2001): Schulaversives Verhalten - Multifaktorielle Ansätze zur Erfassung und Bearbeitung des Phänomens im Rahmen einer systemisch orientierten Sonderpädagogik. Abschlussbericht des Forschungsprojektes, Band I und II. Rostock Unterrichtsabsentismus 289 VHN 3/ 2004 Schulze, G.; Wittrock, M. (2003): Lebensproblemzentrierte Unterrichtsgestaltung - eine didaktische Chance zur Förderung der Partizipation von Jugendlichen mit Beeinträchtigungen im Lernen und Verhalten. In: vds (Hrsg.): Fit fürs Leben. Würzburg, 75 - 86 Thimm, K. (2000): Schulverdrossenheit und Schulverweigerung. 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