eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 73/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2004
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Ein Studium mit Kopf, Herz und Hand -- Gedanken zur Ausbildung von Sonderpädagogen

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2004
Birgit Altenkirch
Ute Angerhoefer
Für diese Rubrik ist in jedem Heft ein Briefwechsel vorgesehen. In der Regel wird er zwischen einer Person aus der Wissenschaft und einer Person aus der Praxis geführt und bezieht sich auf Brennpunkte in Theorie, Praxis und Politik. Die Zusendung von kurzen Leserbriefen, die auf den Dialog Bezug nehmen, ist erwünscht.
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307 Liebe Frau Altenkirch, unser Gespräch während Ihres letzten Besuches geht mir nicht aus dem Kopf. Obwohl wir uns wieder einmal vorgenommen hatten, Dienstliches für ein paar Stunden „außen vor“ zu lassen, fanden wir uns schon nach kurzer Zeit in der anregendsten Fachdiskussion. Und wie immer ging es um die Sonderpädagogik, speziell um die Pädagogik bei relevanten Beeinträchtigungen im Lernen. Sie war und ist es, die uns beide - nun schon ein Vierteljahrhundert lang - verbündet, in fachlichen Projekten vereint, in Theorie und Praxis durch gegenseitige Anregung bereichert. Ausgangspunkt für unseren kleinen Erfahrungsaustausch, den ich - weil er mich nicht loslassen will - mit diesem Brief gern ein wenig fortsetzen würde (ich hoffe, Sie auch! ? ), war ein Zusammentreffen, das ich mit ein paar Jungen in der Straßenbahn hatte, alle etwa im Alter von 11 bis 12 Jahren. Sie kamen offensichtlich aus der Schule und - wie nicht zu überhören war - in ausgesprochener „Kriegs“stimmung. Im Schwall ihrer teilweise hasserfüllten verbalen Attacken schienen die Fahrgäste förmlich erstarrt, und auch ich habe hilflos geschwiegen. Diesem Erlebnis konnten Sie vielfältige Erfahrungen aus dem Leben Ihrer Schule hinzufügen, Erfahrungen, die Sie selbst, die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Schule, aber auch Studenten und Referendare in den letzten Jahren mit einer größer werdenden Gruppe von Kindern machen. Kinder, die ungebremst verbal und körperlich aggressiv reagieren, ja, auch agieren. Schon die „Kleinen“ , die „Neuen“ demonstrieren solche Neigung zum „Ausbruch“ - plötzlich und ohne Vorwarnung! Diese Beispiele für das spürbare Anwachsen von sozial-emotionalen Beeinträchtigungen konnten Sie durch weitere Akzente im Hilfe- und Förderbedarf Ihrer Schülerschaft ergänzen: Sie reichen von schlechter gesundheitlicher Verfassung, falscher bzw. mangelnder Ernährung, hochgradiger Nervosität, ausgeprägten Konzentrationsschwächen und übermäßigem Bewegungsdrang bis zu deviantem Verhalten, dauernder Schulunlust und Schulschwänzen. Pädagogen, insbesondere Sonderpädagogen in den Förderschulen, haben es zunehmend mit den Folgen zu tun, welche die Belastungen einer „zerrissenen Welt“ - wie Birgit Herz sie in einem Beitrag der Zeitschrift für Heilpädagogik (1/ 2004) schonungslos beschrieben hat - mit sich bringen. Im Schatten unserer Leis- VHN, 73. Jg., S. 307 - 312 (2004) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Ein Studium mit Kopf, Herz und Hand Gedanken zur Ausbildung von Sonderpädagogen Birgit Altenkirch, Ute Angerhoefer Rostock Dialog Für diese Rubrik ist in jedem Heft ein Briefwechsel vorgesehen. In der Regel wird er zwischen einer Person aus der Wissenschaft und einer Person aus der Praxis geführt und bezieht sich auf Brennpunkte in Theorie, Praxis und Politik. Die Zusendung von kurzen Leserbriefen, die auf den Dialog Bezug nehmen, ist erwünscht. tungsgesellschaft sind es „gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse, die immer mehr Heranwachsende in die Position von Modernisierungsverlierern drängen …“. (ebd.). Sie auszuhalten und emotional zu ertragen, wieder sicherer zu machen im Vertrauen zu anderen, sie solidarisch zu begleiten, ihnen mit (sonder)pädagogischer Sensibilität, ungebrochener Zuwendung, Geduld und Verständnis die jeweils individuell erforderliche Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, wächst sich zur ersten und zentralen Aufgabe allen (sonder-)pädagogischen Bemühens aus. Erst im Anschluss an diese die ganze Person stabilisierenden Aktivitäten wird es möglich, die Kinder mit didaktisch-methodischer Kreativität wieder oder überhaupt zum Lernen zu „verführen“, ihnen die für sie auch als sinnvoll zu erkennende, lebensertüchtigende Bildung zu vermitteln. Bei den meisten Kindern gelingt das denn auch mit Erfolg, wenn auch in einem jeweils individuellen zeitlichen Rahmen und auf sehr unterschiedlichem Niveau. Mit diesen Schlussfolgerungen in Bezug auf die dafür erforderlichen „Schlüsselqualifikationen“ von Pädagogen/ Sonderpädagogen schloss unser Gespräch. Natürlich war uns bewusst, dass sich diese Ansprüche an die Tätigkeit von Sonderpädagogen - ich denke von Pädagogen überhaupt - keinesfalls als neu vermitteln lassen. So bedurften die schulversagenden Kinder aus Armutsverhältnissen in Folge der Industrialisierung zunächst dringend der sozialen Fürsorge. Stötzner, Fuchs und andere unserer Altvorderen verankerten entsprechende Vorstellungen in ihren Programmen für die Hilfsschule - damals schon als Ganztagesschule und Förderung von der Vorschule bis zur Berufsausbildung konzipiert! Unter den oben geschilderten Bedingungen der heutigen Leistungsgesellschaft, ihrem Leistungsdruck und der damit immanent verbundenen Selektion in Leistungsstarke und Leistungsschwache (einheitliche Leistungsstandards für die Schulen wirken da nur noch verschärfend), erhält die vornehmlich soziale und solidarische Aufgabe von Förderschulen neue scharfe Konturen. Liebe Kollegin Altenkirch, wie kommt eigentlich Ihr Kollegium mit diesen veränderten Ansprüchen an die Tätigkeit des Sonderpädagogen zurecht, wie meistern das die Erfahrenen und wie die Jungen, die ihre Ausbildung gerade beendet haben oder die, die diesbezüglich noch auf dem Weg sind? Mit dieser Frage will ich schließen und verbleibe mit herzlichen Grüßen Ihre Ute Angerhoefer Für Ihren Brief herzlichen Dank, liebe Frau Angerhoefer. In den freien Tagen zum Jahreswechsel fand auch ich so manche Gelegenheit, unser Gespräch fortzuführen - wenn auch nur gedanklich und ganz unsystematisch. Ich kann die „Straßenbahn-Situation“ gut nachvollziehen. Weil ich Ähnliches in der Schule fast täglich erfahren kann, bringt mich das einerseits weniger aus dem Gleichgewicht. Andererseits bin ich in der glücklichen (privilegierten! ) Lage, auch die anderen Seiten dieser Kinder und Jugendlichen zu erleben: ihre Unverfälschtheit, Direktheit, auch Dankbarkeit, ihren Spaß am Lernen und ihr „kleines Glück“, wenn sie wieder etwas können, wenn sie die Aufmerksamkeit und Zuwendung finden, die jedes Kind für eine gesunde Entwicklung braucht. Manchmal können sie entsprechende Gedanken und Gefühle nur schwer oder ungeschickt ausdrücken, manchmal dauert es unendlich lange, bis sie sich überhaupt vertrauensvoll öffnen, und - ich will es nicht verhehlen - manchem der Kinder bleibt ein Vertrauensverhältnis zu Lehrern und Mitschülern für immer versperrt. Dennoch, ich wehre mich gegen das Bild des grundsätzlich schlechten, immer schmuddligen, sozial inkompetenten lernbeeinträchtigten Schülers. Wollen wir nicht vergessen, sie sind immer auch (nur) Spiegel ihrer Umwelt, zu der wir - ihre Lehrer, die Sonderpädagogen - Birgit Altenkirch, Ute Angerhoefer 308 VHN 3/ 2004 gehören. Und so bin ich bei Ihrer Frage, wie die Kollegen in meiner Schule damit umgehen, dass ihre Schüler - in der Regel durch die Veränderungen in ihrer Lebenssituation - anspruchsvoller, ja, auch der Förderung und Hilfe noch bedürftiger geworden sind. Zunächst: Lehrerkompetenz definiert sich nicht über das Alter oder die Anzahl der Dienstjahre. Leider erlebe ich einige erfahrene Kollegen, die den „Wertewandel“ beklagen und der festen (verfestigten? ) Überzeugung sind, darauf (in ihrer Not? ) nur mit Strenge und Schärfe, mit starren Regeln reagieren zu müssen. Möglicherweise vergessen sie, dass auch wir Lehrer uns täglich verändern, dem gleichen Wertewandel unterliegen. Andererseits sehe ich junge, umfassend fachwissenschaftlich gut ausgebildete Berufskollegen an die Schulen kommen. Glücklich, in Mecklenburg-Vorpommern überhaupt eine Stelle erhalten zu haben, voller Wissen, Enthusiasmus und Ideale, erfahren sie nicht selten im Schulalltag die Grenzen ihrer sonderpädagogischen Wirksamkeit - u. a. hervorgerufen durch die hoch komplizierte Schülerschaft, die nicht selten gleichgültigen Eltern, die immense Arbeitsbelastung, tradierte Strukturen und Organisationsformen. Helfen könnten diesen jungen Kollegen in solchen Situationen vor allem soziale und Selbstkompetenzen - wenigstens in Ansätzen entwickelt, in Lehrveranstaltungen theoretisch bewusst gemacht, im schulischen Kontext erprobt und auf einem gewissen Niveau entfaltet. Einige dieser jungen Kollegen würden sich weniger schnell aufgeben, unterordnen und anpassen. Dass das dennoch häufig genug geschieht, wirft u.a. die Frage nach der gegenwärtigen Lehrerausbildung auf. Ein kleines Leben liegt es wohl schon zurück, da ich als Studentin der (damaligen) Hilfsschulpädagogik an der Universität Rostock froh und dankbar war, an einer Sonderschule aufgeschlossen und freundlich aufgenommen zu werden. In mehreren studienbegleitenden schulpraktischen Übungen und einem Großen Schulpraktikum (über ein ganzes Semester! ) galt mein komplexer Anspruch: möglichst schnell „gleichberechtigt“ wie eine „richtige Lehrerin“ agieren zu können und zugleich um den sichernden Rückhalt des Mentors sowie der Praxisbegleitung durch die Mitarbeiter der Universität zu wissen. Meiner damals einphasigen Ausbildung folgte nach vier Jahren der sofortige Einsatz als Lehrerin in einer Sonderschule. Dieses Ziel war mir und meinen Kommilitonen ständig bewusst und hat uns für alle Studien - ob eher praktisch oder theoretisch - stabil motiviert. Heute stehe ich etwas ungläubig, ja, hin und wieder auch enttäuscht vor jungen Berufsnachfolgern, die als Motiv für die Durchführung ihres sonderpädagogischen Schulpraktikums an unserer Schule vorrangig den noch fehlenden „Schein“ angeben. Manchmal schwingt in den vorbereitenden Gesprächen bei den Studierenden Angst mit, Angst vor allem, was ihnen in der Schulwirklichkeit begegnen könnte. Den Wunsch der Studierenden: „Ich möchte endlich mit den Kindern/ Jugendlichen zusammen arbeiten, um sie besser kennen zu lernen und mich im Umgang mit ihnen ausprobieren zu können! “, höre ich immer seltener. Ich weiß, diese Einstellung kann ich meinen jungen künftigen Kollegen keinesfalls alleine anlasten, sondern zunehmend einer universitären Lehrerausbildung, die fast ausschließlich den „Kopf“ der zukünftigen Sonderpädagogen bedient. Wo bleibt das Herz, wo die Hand, die zugreift, tröstet, mahnt und streichelt, wenn es nötig ist? Soll das dann erst der Vorbereitungsdienst leisten? ! Sozusagen nach der Theorie die Praxis, den so genannten „Praxisschock“ einbegriffen? Ich wünschte mir, wir könnten die Ausbildung von Sonderpädagogen wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Es sind nicht nur die oben geschilderten Schwachstellen in der Einstellung der Studierenden, die die „Kopf“lastigkeit in der Ausbildung deutlich zu Tage treten lassen. Die Lehrerausbildung vom Kopf auf die Füße zu stellen hieße, dass beispielsweise die akzentuiert praktischen Studien (wieder) einen we- Ein Studium mit Kopf, Herz und Hand 309 VHN 3/ 2004 sentlich höheren Anteil einnehmen müssten. Das didaktisch-methodische Können und die Entwicklung entsprechender Kompetenzen gehören schließlich zum Kern der Ausbildung junger Lehrer, zu ihrem grundlegenden „Hand“werkszeug. Dagegen erlebe ich hautnah so genannte „schulpraktische Übungen“, die sich verlieren in einem mehr als ungünstigen Verhältnis zwischen theoretischen Anteilen und eigener unterrichtspraktischer Tätigkeit. Gilt nicht auch oder in besonderer Weise für den zukünftigen Lehrer, primär über das Selbst- Tun zu lernen? Diesbezüglich finde ich mich in den letzten Jahren immer häufiger verunsichert und unzufrieden. Selbst in meinen Veranstaltungen als Lehrbeauftragte bei den Studenten der Sonderpädagogik gelingt es mir nicht, mein Votum für früher einsetzende Einblicke und Erprobungen in der Schulpraxis wirksam zu vermitteln. „Theoretisch“ können sich die Studierenden für die (Vorzeige- ? )Praktikerin im Studium schon erwärmen, aber…zu schnell, zu leicht lassen sie sich auf das scheinbar unerschütterlich Gegebene ihres Studienprogramms ein und scheinen dabei nichts zu vermissen oder gar unzufrieden zu sein, selbst wenn ihnen Anderes geboten wird. Natürlich - und das darf hier nicht unerwähnt bleiben - erlebe ich auch die besonders engagierten, hingebungsvollen, im sozialen Umgang mit den Kindern und dem Kollegium „begabten“ Studenten. Es sind die (wenigen), denen bereits in ihrer ersten Unterrichtsstunde die Herzen der lernbeeinträchtigten Kinder zufliegen und denen Jugendliche mit ihrer unerklärlich sicheren Menschenkenntnis das nicht zu übertreffende Prädikat „cool“ verleihen. Ob da nicht auch der geringere Altersunterschied zwischen Lehrer und Schüler förderlich wirkt? Ein Gedanke, der auch dazu führt, den jetzt noch wirksamen zweijährigen Vorbereitungsdienst in Frage zu stellen, zeitlich und inhaltlich. Beraubt er unsere Schüler nicht auch der Chance, schon viel früher mit viel jüngeren Lehrern zusammen leben, lernen und handeln zu können. Geben wir den zukünftigen Sonderpädagogen schneller die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen zu machen, die eigenen Fehler schmerzlich zu erleben und eigene pädagogische Glücksmomente zu genießen; sich so auch früher in ihrer Berufsentscheidung bestätigen oder verändern zu können. Ich weiß, es wird Sie besonders freuen, wenn ich nun zum Abschluss auch noch Schüler, die „Endabnehmer“ unserer Förderschule, zu Wort kommen lasse. Die Äußerungen der Achtklässler sind gebündelt, und ich habe mir erlaubt, sie ein wenig zu interpretieren: „An der anderen Schule war alles zu schwer, alles ging so schnell, die Lehrer haben das gar nicht gemerkt und sich nur um die Besseren und sich selbst gekümmert.“ - Schüler brauchen Lehrer, die sich ihrer annehmen, auch wenn sie langsam und schwächer als andere sind. Sie wollen selbstlose Lehrer, die sich selbst nicht allzu wichtig nehmen. „Die (Lehrer) fanden mich nervig. Ich hab’ sie angestrengt, aber eigentlich war ich so, wie ich jetzt auch bin.“ - Schüler mit Lernbeeinträchtigungen wollen Lehrer, die sie in ihrem Anderssein, ohne Wenn und Aber, ohne Bedingungen und Voraussetzungen, mit dem Verständnis dafür, dass anders nicht immer schlechter sein muss, akzeptieren. „Hier halten mich die Lehrer aus und ich muss nicht immer besser werden. Die (Lehrer) finden mich sogar nett.“ - Schüler brauchen starke, geduldige, kompetente und fröhliche Lehrer, die ihr eigenes Selbstbewusstsein dazu nutzen, das der Schüler zu erhöhen, die mit ihrem Optimismus „anstecken“. Am Schluss bleiben Wünsche und Hoffnungen im Sinne des Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“: der Wunsch, dass sich in nicht allzu ferner Zukunft auch die Lehrerausbildung so flexibel und variabel zeigt, wie wir es von unseren Schulabgängern erwarten; die Hoffnung, dass wir unseren Schülern die Lehrer geben können, die sie brauchen, die wie sie etwas „Besonderes“ sind und dabei doch so grundlegend menschlich, dass ihnen Fehler, Fehlentscheidungen und Irrtümer von denen Birgit Altenkirch, Ute Angerhoefer 310 VHN 3/ 2004 verziehen werden, die der einzige Gradmesser unserer Arbeit sein können - unsere Schüler. Eine schöne Vision: Das Besondere ist immer nur das besonders Menschliche! Ich halte weiter an ihr fest und sende in diesem Sinne viele herzliche Grüße, Ihre Birgit Altenkirch Liebe Birgit Altenkirch, danke für Ihre ausführliche Antwort und vor allem für die engagierten Reflexionen über die Ausbildung von Sonderpädagogen. Interessant fand ich auch Ihre Vergleiche zur eigenen Studienzeit. Damals (1978) wurde an der Universität in Rostock das erste grundständige Studium der Sonderpädagogik in der DDR eingerichtet. Wir beide - Sie als Studentin (später als Aspirantin) und ich als Hochschullehrerin - waren in die „Test“phasen dieser Ausbildungsform einbezogen, konnten aber auch ihre gelungene Ausgestaltung miterleben. Wenn ich zum Abschluss unseres Briefwechsels einige Überlegungen im Hinblick auf die dringend zu reformierende Ausbildung von Sonderpädagogen anstelle, so tue ich das auch vor dem Hintergrund meiner langjährigen Tätigkeit auf diesem Gebiet (1968 - 2001) und mit der Möglichkeit, die entsprechenden Ausbildungsmodelle in der DDR und der neuen Bundesrepublik im Vergleich erfahren und mitgestaltet zu haben. Den zentralen Reformbedarf in der Ausbildung von Sonderpädagogen sehe ich in der praktischen Befähigung der Studenten - die Schilderungen in Ihrem Brief bestätigen ja nur exemplarisch, was in der Lehrerbildung allgemein und seit langem bekannt ist! Die Unzufriedenheiten mit der praktischen Ausbildung sind ein in vielen Evaluationen an den Universitäten, den Ausbildungsseminaren und Schulen mehrheitlich erhobener Kritikpunkt, bekannt in den verantwortlichen Ministerien der Bundesländer und in der Bildungspolitik. Die in Deutschland praktizierte zweigliedrige Ausbildung von Lehrern teilt horizontal - gewollt und systematisch in den Lehrprogrammen verankert - in eine akzentuiert theoretisch-wissenschaftliche Studienphase an der Universität (mindestens vier Jahre) und eine sich anschließende schulpraktische Befähigung am Ausbildungsseminar und an Schulen (zwei Jahre). Auf diese Weise wird eine gerade für die sonderbzw. heilpädagogische Profession so existenzielle ganzheitliche Ausbildung (Haeberlin in Zeitschrift für Heilpädagogik 10/ 2002), ein Studium eben mit Kopf, Herz und Hand, regel(ge)recht bebzw. verhindert. Mein Vorschlag war und ist - nach wie vor und entgegen allen Beschlüssen bezüglich Bachelor- und Masterstudiengängen für Lehrer im Rahmen der EU - eine einphasige Ausbildung! Sie sollte es ermöglichen, dass sich die Studierenden ihr Wissen und Können in engster, ja, integrativer Verbindung von Universität/ Hochschule und Förderschule/ Schule (in ihren vielfältigen Vernetzungen und aktuellen Bedürfnissen! ), von Theorie und Praxis, von eher wissenschaftlich-theoretischen und akzentuiert praktisch-handelnden Studien aneignen können. Theorie und Praxis - wenn ich diese beiden Seiten einmal so undifferenziert nebeneinander stellen darf - wären dann die beiden „Glieder“ des Studiums, die nicht nacheinander, in horizontaler Zweigliedrigkeit die Studienstruktur bestimmten, sondern es wären die parallel und immanent angelegten Seiten oder Aspekte eines ganzheitlich angelegten Studienvollzugs, das vielgestaltige Berufsfeld immer präsent. Diese Zweigliedrigkeit könnte als eine Art „duales Studium“ angelegt sein, Theorie und Praxis in den Studienjahren jeweils in einem dem Ausbildungsinhalt und -stand angemessenen Verhältnis (Das vierjährige grundständige Studium an der Universität in Rostock war bis 1990 so angelegt. Noch zwei Semester nach dem gesellschaftlichen Umbruch 1989 haben wir Kollegen des damaligen Instituts für Sonderpädagogik an der Fortentwicklung dieses grundsätzlich erfolgreichen Ausbildungsmodells gearbeitet! ! Können Sie sich noch erinnern, wie „reform“begeistert wir damals am Werk waren? ). Ein Studium mit Kopf, Herz und Hand 311 VHN 3/ 2004 Den Zweiflern möchte ich gleich entgegnen: Die praktischen Studien sollten natürlich schrittweise - sozusagen vom Zuschauen über das Mitmachen bis zum Selbsttun - angelegt sein, theoretisch fundiert, begleitet und reflektiert! So könnten die zukünftigen Sonderpädagogen in realistischen beruflichen Zusammenhängen die dringend erwünschten sozialen und emotionalen Schlüsselqualifikationen, die didaktisch-methodische Kreativität authentischer, anwendbarer, in theoriegeleitetem Handeln erproben und entfalten. Die theoretischen Grundlagen dagegen erführen immanent in und an der Praxis eine kritische Prüfung und weitere Ausgestaltung. Ökonomischer wäre eine so gestaltete einphasige Ausbildung von Sonderpädagogen allemal! Studienzeit würde straffer und intensiver genutzt, lange Wartezeiten zwischen den Ausbildungsphasen würden entfallen, die professionelle Entwicklung der Studierenden, ihre Förderung und Beurteilung unterlägen nicht geteilter Aufmerksamkeit, zeitlichen Unterbrechungen oder demotivierenden Praxisschocks (In der Gefahr stünde auch ein Studium in Modulen Bachelor und Master! ). Letztlich: Auch eine Universität (wenn es denn unbedingt eine Universität sein muss) wäre in der Lage, eine mit „Praxis“ so deutlich angereicherte Ausbildung zu gewährleisten - so jedenfalls meine Erfahrungen! Es bedarf nur der entsprechenden Einstellung, der Kooperation mit der Praxis, für die ausgebildet wird. Vielleicht bedarf es auch nur des „gesunden Menschenverstandes“! Ein letztes Wort in Bezug auf ein praxisbegründetes und -wirksameres Studium: Gegenwärtig erhalten die Universitäten in der Bundesrepublik im Rahmen ihrer verstärkten Autonomie die Möglichkeit, sich ihre Studenten selbst aussuchen zu können. In diesem Sinne könnten Aufnahmekriterien wieder wichtig werden - auch für das Studium der Sonderpädagogik. Diesbezüglich wäre doch ein Soziales Jahr - derzeit als Ersatz für den Zivildienst in der politischen Diskussion - einer Überlegung wert. Als „Vorpraktikum“ und Voraussetzung für das Studium der Sonderpädagogik könnte es in Förderschulen mit Ganztageserziehung, in Grundschulen mit verändertem Eingangsbereich, in allen anderen in die Förderung von Behinderten und Benachteiligten eingebundenen sonderpädagogischen und sozialen Einrichtungen absolviert werden. Weitere Vorteile einer einphasigen Ausbildung seien hier nur angedeutet: Die engere Zusammenarbeit von Hochschullehrern und Lehrern würde mit Sicherheit Forschung, Studium und Lehre an der Universität/ Hochschule, aber auch die Fort- und Weiterbildung an den Schulen spürbar intensivieren und qualifizieren. Ich muss hier schließen. Es bleibt leider kein Raum mehr für weitere Vorstellungen über eine Ausbildung, die mit Sicherheit mehr dazu beitragen könnte, förderbedürftigen Kindern und Jugendlichen „die Lehrer zu geben, die sie brauchen“ - an welchem Lernort auch immer: Junge Kolleginnen und Kollegen, die ihnen mit ihrer menschlichen und professionellen Reife zur Seite stehen und sie begleiten bei der Lösung ihrer Lebensaufgaben. In diesem Sinn und in alter Verbundenheit Ihre Ute Angerhoefer Dr. Birgit Altenkirch Schulleiterin Förderzentrum am Schwanenteich (Allgemeine Förderschule) Kuphalstraße 78 D-18069 Rostock Tel: ++49 (0) 381-8 23 70 Fax: ++49 (0) 381-8 08 73 37 E-Mail: F.u.B.Altenkirch@t-online.de Prof. Dr. Ute Angerhoefer Em. Universitätsprofessorin Fachgebiet Pädagogik bei Beeinträchtigungen im Lernen Arno-Holz-Straße 7 D-18057 Rostock Tel: ++49 (0) 381-2 00 68 59 E-Mail: angerhoefer.u@web.de Birgit Altenkirch, Ute Angerhoefer 312 VHN 3/ 2004