eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 73/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2004
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Werden Biotechniken Heilpädagogik ersetzen?

101
2004
Otto Speck
Die enormen Fortschritte der Molekularbiologie eröffnen völlig neue Möglichkeiten, Störungen und Krankheiten biotechnologisch zu beseitigen und die physische und psychische Ausstattung des Menschen zu optimieren, d.h. Behinderungen zu verhüten. Im Gegensatz zur Menschen verachtenden Eugenik von einst erscheint die neue Eugenik als segensreich. Sie verheißt therapeutische Hilfen ebenso wie Möglichkeiten der Kosten- und Leidreduzierung. Durch neuropharmakologische Einwirkungen auf den biochemischen Organismus könnten Erziehungsprobleme ausgeschaltet werden, so dass das relativ aufwendige heilpädagogische Analysieren und Agieren weithin überflüssig würde.
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398 Die enormen Fortschritte der Molekularbiologie eröffnen völlig neue Möglichkeiten, Störungen und Krankheiten biotechnologisch zu beseitigen und die physische und psychische Ausstattung des Menschen zu optimieren, d.h. Behinderungen zu verhüten. Im Gegensatz zur Menschen verachtenden Eugenik von einst erscheint die neue Eugenik als segensreich. Sie verheißt therapeutische Hilfen ebenso wie Möglichkeiten der Kosten- und Leidreduzierung. Durch neuropharmakologische Einwirkungen auf den biochemischen Organismus könnten Erziehungsprobleme ausgeschaltet werden, so dass das relativ aufwendige heilpädagogische Analysieren und Agieren weithin überflüssig würde. Mit diesen Perspektiven zeichnet sich eine paradigmatische Wende im Verständnis und im Bewerten imperfekten Lebens ab, von der die Heilpädagogik nicht unberührt bleiben dürfte: Ihr bisheriges Paradigma, wonach eine Behinderung als soziale Kategorie zu verstehen und über spezielle pädagogische Hilfen zur Selbsthilfe zu beantworten sei, dürfte von einem biotechnologischen Paradigma abgelöst werden, bei dem soziale Faktoren eine untergeordnete Rolle spielen. Dieser Trend wird verstärkt durch die enormen kommerziellen Interessen und Zwänge, die hinter dieser Entwicklung stehen. Was wären die pädagogischen Folgen? Behindertes Leben würde abgewertet, wenn es üblich würde, dieses von vornherein und systematisch über eine pränatale genetische Diagnostik auszuscheiden. Vereinseitigt würde das erzieherische Verhältnis, das wesentlich auf der naturgewachsenen Gleichheit der Genese beider Seiten beruht. Die grundsätzliche Offenheit und Reversibilität der Eltern-Kind-Beziehung würde aufgehoben, wenn die allein nach eigenen Präferenzen entscheidenden Eltern das Kind in einer unumkehrbaren Weise durch eine eugenische Programmierung festlegten. Erziehung müsste zur Züchtung degenerieren. Beunruhigende Nachrichten kommen aus den USA (Fukuyama 1 ). Hier sind neuropharmakologische Eingriffe bereits weit verbreitet. Sie sind bei Eltern und Lehrern willkommen, da sie eine effektivere Verhaltenskontrolle ermöglichen. Durch Pillen („Designermedikamente“), die in erheblichem Umfang auch schon im Kleinkindalter verabreicht werden, lassen sich die verschiedensten Persönlichkeitsveränderungen herbeiführen und Störungen ausschalten, und zwar wirksamer und schneller, also weniger zeitaufwendig als durch pädagogische Mittel, u. a. der Abbau von Ängsten, die Steigerung des Selbstwertgefühls, das eigene Wohlbefinden, das Herstellen einer ruhigen und aktiven Aufmerksamkeit, das Erlernen neuen Wissens, die Verbesserung des Erinnerungsvermögens, die Steigerung von Ausdauer und Motivation, die Manipulation von Schmerz- und Freude-Empfindungen, das Erzielen eines nicht störenden Verhaltens. Das Verabreichen der Psychopillen wird keine speziellen pädagogischen Qualifikationen voraussetzen. Für das Verschreiben bleiben die Ärzte zuständig. Ritalin ist vor allem unter dem Druck des pädagogisch strapaziösen Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätssyndroms (ADS oder ADHD) zu einem alltäglichen Instrument sozialer Kontrolle geworden. Eltern und Lehrer sind mehr an „pharmazeutischen Schnellverfahren“ interessiert als an langwierigen psychotherapeutischen und heilpädagogischen Maßnahmen. - In Deutschland ist zwar die Anwendung von Psychopillen noch nicht in dem Ausmaß zu beobachten wie in den USA; aber immerhin ist der Absatz von Ritalin seit 1995 hier um mehr als das Vierzigfache gestiegen. Mit dieser Entwicklung deuten sich eine Medizinierung sozialer Fragen und Probleme und ein genetischer Determinismus an: Lern- und 398 VHN, 73. Jg., S. 398 - 399 (2004) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Werden Biotechniken Heilpädagogik ersetzen? Otto Speck Trend Verhaltensprobleme werden als Folgen biotischer Unzulänglichkeiten angesehen. Die Probleme werden weniger in der Erziehung und in der Lebenswelt der Schüler gesucht als in der physischen Struktur des individuellen Gehirns (Rifkin 2 ). In dem Maße, in dem das Verhalten als neural und genisch verursacht gilt und medikamentös gesteuert werden kann, verringert sich die Bedeutung der persönlichen Verantwortlichkeit für das eigene Handeln. „It’s Nobody’s Fault“ („Keiner hat Schuld“) heißt ein vielgelesenes Buch in den USA, das Eltern schwieriger Kinder „neue Hoffnung und Hilfe“ bringen und sie von vielen Problemen der Erziehung und Selbsterziehung befreien soll. Im Bereich der Erziehung dürfte es zu einer Genotypisierung der Kinder kommen. Diese werden von Lehrern und Eltern verstärkt unter dem Aspekt ihrer genischen Ausstattung gesehen und bewertet werden mit der Folge, dass der Sinn erzieherischen Bemühens um ein Kind und seine Autonomiebildung nachlassen wird. In der Schule dürften Schüler mit weniger guten Leistungen als vornehmlich genisch imperfekt gelten und müssten dann einer verringerten pädagogischen Zuwendung ausgesetzt sein. Verstärken dürften sich damit neue Segregationstendenzen. Rifkin vermutet, dass es in Zukunft zwei biologisch getrennte Typen oder Klassen von Kindern und Erwachsenen geben wird: Gen-Reiche und Naturbelassene. Die gensynthetisch Optimierten könnten zur herrschenden Schicht aufsteigen, während dies den „Naturbelassenen“ verwehrt wäre. Beide Gruppen würden in voneinander getrennten sozialen Welten aufwachsen. Der neue Trend würde eine Mentalität hervorbringen, die wesentlich von ökonomisch-utilitaristischen und technologisch-praktischen Vorteilsinteressen bestimmt sein wird. Das Schicksal der Benachteiligten rückte damit aus dem allgemeinen Gesichtsfeld. Was wir heute als soziale Integration anstreben, dürfte sich bestenfalls auf diejenigen beschränken, die sich innerhalb ihrer begüterten Zirkel eine partielle Gemeinsamkeit Behinderter und Nichtbehinderter leisten können. Die Sozialpolitik wird an allgemeiner Bedeutung verlieren. Die wirtschaftlichen Zwänge werden den Staat nötigen, seine Investitionen im Rehabilitationsbereich zu reduzieren, da sie im Wesentlichen nur Kosten verursachen. Biotechnologische Verbesserungschancen dürften sich mehr auf die private Ebene verlagern. Wie Rifkin aus den USA berichtet, wurden hier die bisherigen „edelmütigen Wohlfahrtsprogramme“ bereits verdächtigt, „durch die unverhältnismäßige Fortpflanzung genetisch Benachteiligter“ eine „Dysgenetik“ und damit eine rücklaufende Evolution zu fördern. Was sich hier andeutet, läuft darauf hinaus, diejenigen, die als imperfekt gelten, die Kranken, Schwachen, Alten und Behinderten, sozialpolitisch abzuhängen. Schaden nehmen müsste die Kultur der Solidarität. Droht eine „posthumane Zukunft“ (Fukuyama)? Im Trend, die Menschenprobleme durch Techniken endgültig lösen zu wollen, lässt sich ein „gefährliches Phantasma“ sehen (Baudrillard 3 ). Der Versuch der Einzelnen, sich zum „perfekten Subjekt“, zum „Subjekt ohne den Anderen“ zu machen, müsste in Inhumanität enden. Das Gute lasse sich nicht befreien, ohne dass auch das Böse befreit werde. Ohne Freiheit und Transzendenz müsste das Eigentümliche des Menschen verloren gehen. Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Gene. Die Heilpädagogik steht erneut vor einer großen Herausforderung, überflüssig wird sie nicht. Die pädagogischen Probleme werden eher zunehmen. Anmerkungen 1 Fukuyama, Francis (2002): Das Ende der Menschheit. München: Deutsche Verlagsanstalt 2 Rifkin, Jeremy (1998): Das biotechnische Zeitalter. München: Bertelsmann 3 Baudrillard, Jean (2000): Der unmögliche Tausch. Berlin: MERVE Prof. Dr. Otto Speck Pfarrer-Grimm-Strasse 42 D-80999 München Werden Biotechniken Heilpädagogik ersetzen? 399 VHN 4/ 2004