eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 74/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2005
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Ist Erziehung planbar?

41
2005
Urs Haeberlin
Ernst Suter
Lieber Urs, seit unserem letzten Briefwechsel bleibt mir die Frage offen: „Wie weit sind Schulung (pädagogische und heilpädagogische Förderung) und Erziehung planbar?“
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156 Lieber Urs Seit unserem letzten Briefwechsel bleibt mir die Frage offen: „Wie weit sind Schulung (pädagogische und heilpädagogische Förderung) und Erziehung planbar? “ Ich erwarte mir von der Erörterung dieser Frage eine Auseinandersetzung mit unserer Vorstellung der Machbarkeit im Unterrichts- und Erziehungsgeschehen. Es fällt mir auf, dass neuzeitliche Lehren sich vermehrt einer Terminologie bedienen, die, wenn nicht dem Wirtschaftsbereich, so doch technologischem Denken entsprungen sind. Wo Prozessorientiertheit verlangt und Qualitätsmanagement gefordert werden, rücken Schulung und Erziehung immer mehr ins Feld organisierbarer und garantierbarer Abläufe. Gilt es dann nicht einfach, die richtigen Maßnahmen zu treffen, entscheidende Impulse zu geben und der Sache ihren Lauf zu lassen, um postulierte Zielsetzungen unfehlbar zu erreichen? Hinter solchen Vorstellungen steht ein Glaube an die Machbarkeit, der blind macht für das Erkennen der Dynamik im zwischenmenschlichen Geschehen. Wenn ich es recht verstehe, hat z. B. Gordon es wahrscheinlich verstanden, das menschliche Zusammenleben mittels Gesprächstechnik so steuerbar erscheinen zu lassen, dass wir uns lediglich ein geeignetes Instrumentarium meinen beschaffen zu müssen, um das Zusammenleben in den Griff zu bekommen. Hier nun setzt mein Zweifel am richtigen Verständnis auch des Unterrichts- und Erziehungsgeschehens an. Die Formel „eine Sache in den Griff zu bekommen“ dürfte doch kaum zutreffen für das, was zwischen Lehrer und Schüler, zwischen dem Kind und dem Erwachsenen geschieht und geschehen soll. Planung kann darum kein zwingender Zugriff sein, der das Geschehen gleichsam organisierend vorwegzunehmen vermöchte. Das spricht allerdings nicht von vornherein gegen Planung überhaupt. Es zeigt aber Grenzen auf. Warum liegt mir daran, die eingangs gestellte Frage mit Dir zu erörtern? Du bist (auch) Wissenschaftler und verstehst es, mit Deinen Antworten auf Fragen zu neuen Fragestellungen hinzuführen. Als Praktiker bin ich es gewohnt, Ungewissheit auszuhalten, Fragen offen zu lassen und in der Erörterung hinzuhalten. Du lehrst richtiges Fragen, ich habe mich im vorläufigen Antworten geübt. Ist Erziehung planbar? Ein Briefwechsel über Widersprüche des Pädagogischen Urs Haeberlin, Freiburg Ernst Suter, Greifensee Dialog Für diese Rubrik ist in jedem Heft ein Briefwechsel vorgesehen. In der Regel wird er zwischen einer Person aus der Wissenschaft und einer Person aus der Praxis geführt und bezieht sich auf Brennpunkte in Theorie, Praxis und Politik. Die Zusendung von kurzen Leserbriefen, die auf den Dialog Bezug nehmen, ist erwünscht. VHN, 74. Jg., S. 156 - 162 (2005) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Wohin die Erörterung meiner Frage trägt, bleibt ungewiss. Ich strebe an, mir mit Grundsatzfragen darüber klar zu werden, wie weit auch zeitgemäße Lehren einseitigen Wirklichkeitsvorstellungen nachhängen und zu falschen Sicherheiten verleiten. Ein Briefwechsel-Thema? - Ich weiß es nicht, freue mich aber so oder so auf Deine Antwort. Herzliche Grüsse Dein Ernst Lieber Ernst Dein Brief ist lange unbeantwortet auf meinem Schreibtisch gelegen, obschon Du eine Grundfrage aufwirfst, deren Beantwortungsversuche immer wieder zu einem zentralen Dilemma der Pädagogik geführt haben und weiterhin führen werden. Dieses ist vielleicht am plakativsten im Titel einer Schrift von Theodor Litt auf den Punkt gebracht worden: Erziehen oder Wachsenlassen? Einerseits neige ich zu einer kurzen und einfachen Antwort auf Deine Eingangsfrage, ob Schulung, Förderung und Erziehung planbar seien. Wenn wir nicht davon ausgehen würden, dass diese Aktivitäten planbar sind, dann wäre es nicht sinnvoll, Kinder als Schüler in Schulen zu schicken sowie pädagogische Berufsleute auszubilden und als Lehrer und Lehrerinnen in Schulhäusern Kinder unterrichten zu lassen. Diese Berufsleute werden für ihre Arbeit bezahlt, weil erwartet wird, dass sie als Spezialisten Bescheid wissen, wie man effizientes Lernen und Lehren plant und gestaltet. Andererseits findet dann aber auch bald einmal Deine Befürchtung meine Zustimmung, dass mit dem Glauben an das Planen, Organisieren und Evaluieren von Lern- und Bildungsprozessen vielleicht Wesentlicheres vergessen und verloren geht: nämlich das, was sich erst in einer nicht organisierten Begegnung zwischen Menschen, auch zwischen Erziehern und Kindern, auf unplanbare Weise, nicht prognostizierbar, nicht diagnostizierbar und nicht evaluierbar aufschließt. Martin Buber hat von „Erschließung“ gesprochen, die immer wieder von der Pädagogentendenz zum „Auferlegen“, worin sich der Glaube an die Machbarkeit des Kindes manifestiert, durchkreuzt und verhindert wird. Und der weise Heilpädagoge Heinrich Hanselmann hat dem zurückhaltend erschließenden „erzieherischen Helfen“ den Begriff der „Vergewaltigung durch Erziehung“ entgegengestellt. Ich glaube, dass die Geschichte der Pädagogik in der Moderne als ein Hin und Her zwischen Hoffnung auf die Machbarkeit des „besseren“ Menschen durch Pädagogik einerseits und Vertrauen in die Entfaltung menschlicher Ganzheiten sowie Glaube an die Erschließungskräfte in der Begegnung andererseits beschrieben werden kann. Die Pädagogik der Moderne beginnt für mich dort, wo der Rationalismus im pädagogischen Denken deutlich sichtbar wurde. Dies trifft auf das Denken von Pädagogen im siebzehnten Jahrhundert zu. Beispielsweise findet man bei Comenius eine große Zuversicht, dass man mit konsequent rationaler Planung und Organisation von pädagogischen Vorkehrungen den Kindern fast alles leicht und erfolgreich beibringen kann. Allerdings war er im Unterschied zu den späteren Aufklärern noch im Theologischen verankert und versprach sich vom Pädagogischen eine Möglichkeit, die Menschheit wieder auf den richtigen Weg zum Christentum zu bringen, von welchem sie abgekommen war. Seitdem haben sich im Verlaufe der Jahrhunderte immer wieder hohe und höchste Erwartungen auf die geplante und organisierte Unterrichtung und pädagogische Einwirkung gerichtet. Unter dem Einfluss der Aufklärung hoffte man, dass Kinder mittels zweckmäßigen Einsatzes von pädagogischen Mitteln zu autonomen Menschen „gemacht“ werden können, welche allein der Richtschnur einer frei machenden Vernunft folgen. Menschen, welche diesen Hoffnungen im Wege standen - beispielsweise Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung oder mit unerklärbaren Widerständen gegen erfolgreiche Be- Ist Erziehung planbar? 157 VHN 2/ 2005 lehrung - waren für diese Hoffnungen ein störendes Hindernis. Dieses versuchte man später organisatorisch „in den Griff“ zu bekommen, nämlich durch Aussonderung in spezielle Schulklassen, die zunächst Hilfsschulen genannt wurden; damit erhoffte man sich eine effizientere Organisation des Unterrichts für die verbleibenden Schüler. Immer wieder sind auch in den von uns erlebten Jahrzehnten neue Wellen verstärkter und vielleicht übertriebener Hoffnungen auf den Segen von effizient geplantem und organisiertem Lehren und Lernen zu beobachten gewesen. So löste in der Zeit des technologischen Wettlaufs zwischen den marktwirtschaftlich funktionierenden und den kommunistischen Ländern der „Sputnik-Schock“ im Westen eine Lawine von bildungstechnologischen Reformen aus. Sie konzentrierten sich auf effizientere Organisationsformen und auf Leistung fördernde Lehr- und Lerntechnologien. Die Hoffnung auf die pädagogische Wirksamkeit von erneuerten Schulorganisationen zeigte sich auch in den organisatorischen Veränderungen der ursprünglichen Hilfsschule; es entstand ein ausgeklügeltes System von Sonderschultypen, das effizienteres Unterrichten von vergleichbar schwachen Kindern ermöglichen sollte. Eine neue Welle von Rufen nach wirksamerer Organisation und Planung der Unterrichtsbedingungen und -prozesse hat zur Zeit die PISA-Diskussion ausgelöst. In Abgrenzung zur bisherigen Organisation von Sonderklassentypen erhofft man sich in diesem Bereich jetzt mehr Lerneffizienz durch die Organisation von Förder- und Stützsystemen innerhalb der Regelklassen, was man dann fälschlicherweise als Maßnahmen für Integration deklariert. Den Wellen verstärkten Glaubens an die Organisierbarkeit und Machbarkeit sind in der Regel kritische Bewegungen gefolgt; ich denke beispielsweise an Tendenzen innerhalb der Romantik, an kulturkritische Strömungen gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, an reformpädagogisches Gedankengut zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts oder an die Antipädagogik in den siebziger Jahren. Ich bin mir sicher, dass auch auf die von Dir angesprochenen aktuellen technologie- und wirtschaftsorientierten Tendenzen zur Neuorganisation von Schule und Unterricht eine Gegenbewegung folgen wird, die man aber immer erst im Nachhinein genauer beschreiben kann. Mit diesen rückblickenden Ausführungen ist es mir nicht gelungen, die von Dir aufgeworfene Problematik einer Klärung zuzuführen. Müssen wir die Welle der Technologisierung des Pädagogischen einfach über uns ergehen lassen? Sollen wir dagegen protestieren? Oder sollen wir einfach zuwarten, bis die Gegenbewegung kommt? Natürlich sind diese Fragen zu vereinfachend. Denn eine Gegenbewegung, welche die Notwendigkeit der Planung, Organisation und Wirksamkeitsüberprüfung von pädagogischen Maßnahmen einfach negiert, halte ich für genauso gefährlich wie die von Dir problematisierte aktuelle Technologiewelle. So gebe ich denn die Frage für einmal wieder an Dich als Praktiker zurück: Wie bist denn Du als leidenschaftlicher Lehrer in Deiner Sonderschulpraxis mit dem Dilemma zwischen Planung des Lehrens und Lernens einerseits und Vertrauen in die nicht planbare pädagogische Beziehung und personale Erschließung jeden Tag im Schulzimmer umgegangen? Herzliche Grüsse Dein Urs Lieber Urs Du hast unser Thema in den kulturgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet und damit einen vorschnellen Stellungsbezug im Sinne einer einseitigen Sicht vereitelt. Damit lenkst Du meinen Blick auf ein Wesensmerkmal allen pädagogischen Wirkens. Es fehlt ihm nämlich stets die absolute Sicherheit darüber, ob es falsch oder richtig sei. Die Wirklichkeit sei immer komplexer als die auf sie gerichteten Untersuchungen, Erwartungen und Methoden der sie erforschenden Wissenschaften, vermerkt Konrad Schmid, Pro- Urs Haeberlin, Ernst Suter 158 VHN 2/ 2005 fessor für alttestamentliche Wissenschaft an der Universität Zürich in seinem Artikel „Wozu sind die Universitäten da? “ (NZZ vom 25. Oktober 2004). Wissen und Lehre bleiben demnach hinter der Realität zurück, sofern wir uns nicht dazu verleiten lassen, nur das als Realität zu bezeichnen, was die Forschung über sie postuliert. Was aber hat diese Einsicht mit der Frage zu tun: „Wie weit sind Schulung und Erziehung planbar? “ Planbarkeit setzt Gewissheit über einen Geschehensablauf voraus, orientiert sich an einer definierten Zielsetzung und sichert ein als solches verstandenes Gelingen. In der Pädagogik erscheint das alles in wesentlichem Maße umstritten zu sein. Das absichtsorientierte erzieherische Verhalten trifft zu oft auf unberechenbares Verhalten des „Adressaten“, die Zielsetzungen lassen sich in entscheidenden Anteilen nicht klar definieren, und wie weit Erfolge dem erzieherischen Wirken zu verdanken sind, ist kaum zweifelsfrei auszumachen. Allerdings: Was im Ganzen so nicht zutrifft, kann in Teilbereichen trotzdem seine Gültigkeit haben. Ich will jetzt aber Deiner Anregung folgen und mich als Praktiker auf meinen Umgang mit dem „Dilemma zwischen Planung des Lehrens und Lernens einerseits und dem Vertrauen in die nicht planbare Beziehung und persönliche Erschließung“ andererseits besinnen. Es war mir immer eine tägliche Erfahrung, dass meine Schülerinnen und Schüler Ansprüche stellten, mit deren Abweisung oder Erfüllung ich mich zu befassen hatte. Auch wenn der Versuch, diese Ansprüche einer übergreifenden Zielvorgabe zu unterstellen, mehr als gelegentlich scheitern sollte, blieb ich mir bewusst, meine Aufgabe in einem steuernden Eingreifen zu sehen, galt es doch meinerseits, außer Verständnis aufzubringen immer auch Anforderungen zu stellen. Ich hatte also nicht nur zu begegnen, ich musste und wollte auch fördern. Lebenstüchtigkeit, Selbstbewusstsein, Persönlichkeitsreife waren, so auch die Erwartungen der Eltern, anzustreben. Für die Umsetzung solcher Ziele gab es Rezepte in Form von Lehrzielkatalogen, Unterrichtsdidaktik und -methodik, Lehrmitteln usw. Als geschulter Lehrer verfügte ich über ein reiches Instrumentarium an absichtsorientierten Einsatzmitteln, die ich im Laufe der Zeit durchaus zu perfektionieren verstand. So gab es immer wieder Zeiten, in denen ich mich als Macher, Bewirker und planender Organisator von Bildung und Reife erlebte und den Stolz des Könnens genoss. Daneben aber entwickelte sich mir ein Sensorium für all das, was weder von mir noch von den Schülerinnen und Schülern zu wollen war, was durch Lehrziele, -methoden und -mittel nicht abgedeckt werden konnte, was außerhalb aller pädagogischen Lehren und Theorien lag. Es waren Einblicke in ein wunderliches Geschehen, dem ich als staunender Mensch mit unterworfen war, und das mich, wo nicht nur verunsichert, sogar hilflos erscheinen ließ. Auf solche Erlebnismomente war nur zu antworten mit eigenen Fragen an das Leben, die bekanntlich keiner Klärung zugänglich sind, wohl aber die Notwendigkeit eigener Entscheidungen, eigener Haltung und eigenen, selbst zu verantwortenden Verhaltens bewusst machen. Das alles auferlegte mir die Pflicht einer Art Trotzdem- Haltung. Gerade wo die Sicherheit fehlte und wo Zweifel ins Zuwarten oder gar Nichtstun verdrängten, erfuhr ich den eigentlichen Wert pädagogischen Wirkens am intensivsten. Schüler und Schülerinnen sind nicht so sehr dort auf Lehrer angewiesen, wo Wissenserwerb auch gemanagt werden kann, sondern vielmehr dort, wo der Umgang mit Ungewissheit lähmend zu wirken droht. Soweit meine Erfahrungen. Du wirst sie wiederum in größere Zusammenhänge zu stellen und einsichtiger zu klären verstehen. Auch ich will aber weiterfragen, was es denn sein könnte, das uns in der Pädagogik immer wieder an Grenzen des „Unserer-Sache-sicher- Seins“ stoßen und gerade dort unser Wirken als wichtig erfahren lässt. Ich danke Dir für Dein Hinhalten im Interesse. Mit herzlichen Grüssen Dein Ernst Ist Erziehung planbar? 159 VHN 2/ 2005 Lieber Ernst Vor etwa vierzig Jahren haben wir uns beide heilpädagogisches Denken in Vorlesungen von Paul Moor angeeignet. Vielleicht erinnerst Du Dich daran, dass er zwischen zwei gleichwertigen und notwendigen Seiten des Pädagogischen unterschieden hat: zwischen dem „pädagogischen Zugriff“ und der „pädagogischen Zurückhaltung“. Er meinte damit, dass die Erwachsenen dem Kinde einerseits Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und entlastende Lebensgewohnheiten beibringen müssen. Von uns professionellen Pädagogen wird natürlich erwartet, dass wir dies didaktisch wohl geplant, sorgfältig organisiert und im Hinblick auf den Erfolg kritisch überprüfend zu tun imstande sind. Als professionelle Heilpädagogen sind wir ganz besonders herausgefordert, dazu auch unter erschwerten Bedingungen die geeigneten Wege zu finden. Paul Moor hatte aber auch erkannt, dass die Erwachsenen dem Kinde andererseits als fühlendes und auf unerklärbare Art emotional angesprochenes Subjekt zurückhaltende Ehrfurcht schulden. Wir professionellen (Heil-)Pädagogen müssten wiederum besonders gründlich im Wissen darum ausgebildet sein, dass wir das Kind zerstören und „haltschwach“ werden lassen, wenn wir dieses geheimnisvolle „Angesprochensein“ und das, was sich daraus an „Gemütstiefe“ entwickeln kann, mit zielorientierter Planung und didaktischen Mitteln herzustellen versuchen. Wir konnten von Paul Moor lernen, dass die Kunst der Erziehung zum „Inneren Halt“ darin liegt, die für jedes einzelne Kind und für jede einzelne Situation angemessene Balance zwischen herstellendem Einwirken und staunendem Gewährenlassen zu finden. Dass sich diese Balance uns Pädagogen als zwar verwirrliches, aber als bereichernd erlebbares Aushalten eines Grundwiderspruchs zwischen absichtsvoll aktivem Einwirken und absichtslos begleitendem Mit-Sein darstellen kann, zeigst Du beim Beschreiben Deiner praktischen Erfahrung in der Sonderschulpraxis sehr eindrücklich. Wenn Du nämlich sagst, dass Du „gerade wo die Sicherheit fehlte und Zweifel ins Zuwarten oder gar Nichtstun verdrängten, den eigentlichen Wert pädagogischen Wirkens am intensivsten erfahren“ habest, dann offenbarst Du Dich einerseits als ganz ins pädagogische Denken von Paul Moor eingebettet und zeigst andererseits Deine und unserer aller Unfähigkeit, aus dem Befangensein im Machbarkeitsdenken ganz ausbrechen zu können: Du kannst nämlich gerade da nicht auf den Begriff „pädagogisches Wirken“ verzichten, wo es Dein Anliegen doch eigentlich zwingend erfordern würde. Du schreibst Dir mit diesem Wort nämlich schon wieder die Rolle eines Verursachers zu, der beim Kinde etwas bewirkt. Mit dem Befangensein in der kulturgeschichtlich verankerten Realitätskonstruktion des pädagogischen Verursachens lieferst Du Dich aber schon wieder den überall lauernden Wünschen nach Planbarkeit und didaktischer Organisierbarkeit von Wirkungen auf das Kind aus. Das ist keine Kritik an der Beschreibung Deiner Praxiserfahrung! Sondern ich finde darin für einmal mehr die Bestätigung, dass unsere kulturell und gesellschaftlich konstruierte Welt und damit auch das Pädagogische in nicht aufhebbaren Widersprüchen gedacht werden muss. Versuche zu deren Harmonisierung bergen immer große Gefahren, weil sie nicht zu einer Synthese im Sinne der idealistischen Dialektik, sondern zum Siegerwahn gesellschaftlicher Kräfte im Bereich eines der Pole dialektischer Spannungen führen. Nun frage ich mich, warum ich durch den Fortgang unseres Briefwechsels an die pädagogische Weisheit von Paul Moor erinnert worden bin? Wenn ich die Beschreibung Deiner Erfahrungen des pädagogisch kreativen Umgangs mit der Dialektik zwischen herstellendem Ausführen von Geplantem und gewährenlassendem Staunen über Unplanbares lese, dann erkenne ich eben darin gelebte pädagogische Weisheit im Moorschen Sinne. Und unvermittelt wird mir auch klar, wie Deine Ausgangs- Urs Haeberlin, Ernst Suter 160 VHN 2/ 2005 frage im ersten Brief, „wie weit Schulung (pädagogische und heilpädagogische Förderung) und Erziehung planbar“ sei, ausdifferenziert werden muss: Es gilt zu unterscheiden zwischen einerseits der pädagogischen Beziehung unmittelbarer Art zwischen Subjekten, beispielsweise Eltern und Kindern oder Lehrern und Schülern, und andererseits dem bildungspolitischen Zeitgeist. Dieser versucht in schwer kontrollierbar kollektiver Weise Wirkungen der pädagogischen Beziehung zwischen Subjekten auf bestimmte, vom allgemeinen Zeitgeist geprägte Ziele hinzulenken und die Subjekte zu organisierbaren Objekten, gleichsam zu Figuren eines logistischen Spiels zu machen. Wie sich aber schul- und bildungspolitisch motivierte Organisationsveränderungen auf das Empfinden der Subjekte und auf die Gestaltung der pädagogischen Beziehung zwischen den Subjekten innerhalb der Schulhäuser auswirken wird, bleibt auch im Zeitalter der Computersimulationen von Prozessen höchster Komplexität der Prognose entzogen. Es bleibt eigentlich nur eine Gewissheit, die leider von eifrigen Planern und Organisatoren seit Jahrhunderten immer wieder vergessen wird: Menschen - somit auch Kinder und Lehrer und natürlich auch Menschen mit Behinderungen - lassen sich nie zu kalkulierbaren Objekten machen; sie werden immer Wege suchen, sich als Subjekte zu behaupten. Viele dieser Wege führen zu „Störungen“ von Absichten eifriger schulpolitischer Planer, pädagogischer Manager und tatenfreudiger Schulleiter. Die „Störer“ werden natürlich nicht geschätzt. Aber sie bleiben die Hoffnungsträger, dass sich der Zeitgeist irgendeinmal wieder in größere Distanz zum Glauben an die pädagogische Herstellbarkeit mittels subjektferner Planspiele begibt! In gespannter Erwartung und großer Verunsicherung, wie Du meinen Versuch einer Deutung Deiner Praxisbeschreibung aufnehmen wirst, grüsse ich herzlich Dein Urs Lieber Urs Deine Deutung meiner Praxisbeschreibung erinnert mich an den Wurzelboden, auf dem mein Verständnis von Pädagogik gewachsen ist. Und ist es nicht ein brennender Wunsch, Lehre und Praxis so weit wie möglich in Einklang zu bringen? Dass dieses Verhältnis Störungen unterworfen bleibt, gelingt Dir in überzeugender Weise aufzuzeigen. Bewandert in der Terminologie der pädagogischen Wissenschaft aktualisierst Du das von Paul Moor entworfene Bild als einerseits „Zugriff“, anderseits „Zurückhaltung“, also als Einwirken und Geschehen-Lassen, mit dem klugen Hinweis auf den „bildungspolitischen Zeitgeist“, der Subjekte zu Objekten zu machen sucht und damit der ausschließlichen Vorstellung „pädagogischer Herstellbarkeit mittels subjektferner Planspiele“ huldigt. Auch ich setze auf die Hoffnung, wir möchten in der Pädagogik wieder mehr Distanz zum unkritischen Glauben an Organisier- und Planbarkeit gewinnen. Im Schulalltag wurde mir bewusst, dass der Erzieher vor allem bereit sein muss, das Wagnis der persönlichen Begegnung einzugehen. Diese kann, wie Du erinnerst, mit Martin Buber als „Erschließung“ verstanden werden, sie ist Hilfestellung im Sinne Heinrich Hanselmanns und mag sich heute schlichter als mitmenschliche Zuwendung erklärbar erweisen. Sie ist, so scheint es, eine Selbstverständlichkeit, in unseren Bildungsunternehmungen aber bedroht von einem betriebsamkeitskranken Aktionismus. Vor allem aber mangelt es der pädagogischen Begegnung heute an Verbindlichkeit des Vertrauens. Wo Subjektives zu Objektivem gemacht wird, gibt man der Qualitätssicherung den Vorzug gegenüber der risikohaften Akzeptanz einer Ernstnahme, die nicht messbar ist. Ich plädiere also für eine subjektive Annahme des Kindes als Voraussetzung aller Erziehung. Und damit ist nicht die Aufmerksamkeit für einen „Fall“ eines Individuums gemeint, sondern die Mitbetroffenheit durch seine Existenz. Ist Erziehung planbar? 161 VHN 2/ 2005 Urs Haeberlin, Ernst Suter 162 VHN 2/ 2005 Es mögen alle Fragen in unserem Briefwechsel offen bleiben. Wir haben uns immerhin gegenseitig in den Gewissheiten bestärkt, dass, wie Du es formulierst, „unsere … Welt in nicht aufhebbaren Widersprüchen gedacht werden muss“, und dass wir uns die Selbstverständlichkeit mitmenschlicher Zuwendung und Anteilnahme nicht verdrängen lassen dürfen. Ich danke Dir für Dein anregendes Mitdenken und Mitschreiben. Mit herzlichen Grüssen Dein Ernst Prof. Dr. Urs Haeberlin Ordinarius für Heilpädagogik und Direktor des Heilpädagogischen Instituts der Universität Freiburg (Schweiz) Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg E-Mail: urs.haeberlin@unifr.ch Ernst Suter Sonderschullehrer im Ruhestand Sandbüelstrasse 30 CH-8606 Greifensee